Annette Leo: Erwin Strittmatter. Die Biographie

Ich will nicht sagen, dass das Buch eine Katastrophe ist. Obwohl sich die These stützen ließe. Die Historikerin Annette Leo (Jahrgang 1948) ist sich selbst auf den Leim gegangen. Dem Historiker ist alles Dokument und was nicht Dokument ist, ist dem Historiker nichts. Womit bei einem Objekt Schriftsteller fast alles unter den Tisch fällt, was einen Schriftsteller kennzeichnet. Sein Werk vor allem, diese seltsame Größe im Lebensvollzug nach dem Zähneputzen und vor dem Lesen der Partei- oder sonstigen Presse. Eine Biographie, deren letztes Kapitel darin besteht, im Schnelldurchlauf zu verkünden, was eigentlich alles auch in der Biographie hätte stehen müssen, aber nicht darinnen landete, DIE Biographie zu nennen, ist mutig, wenn nicht dreist. Nach dieser Biographie, die manche schon ein Standardwerk zu titulieren bereit sind, wird es eine Biographie geben müssen, die wirklich eine ist, freilich wird sich vorläufig dafür kaum ein Verlag finden. Der Hype ist abgegessen, wie man beim Häppchenschmaus am Rande von Buchmessen zu sagen pflegt, soweit ein Echo von dort sich verbreitet.

Das Schlimme am Buch aus dem Aufbau-Verlag, den ein Dresdner Autor Karikatur eines Verlages zu nennen beliebte, als er mich wegen meiner Besprechung der Drommer-Unsäglichkeit aus dem Verlag Das Neue Berlin mit einem Leserbrief beglückte, liegt darin begründet, dass es eigentlich ein seriöses Buch ist. Die Historikerin hat Quellen benutzt, die vor ihr noch niemand verwenden durfte. Nächst der Mondlandung des ersten Historikers ist das das höchste, was einem in der Branche passieren kann. Diese Sachen sind vor allem Briefe, unveröffentlichte Manuskripte, Tagebucheintragungen. Man muss das nicht auf ihre Verdienstseite rechnen, allenfalls auf die derer, die die Einsicht erlaubten. Joachim Jahns beispielsweise, den Annette Leo stiefmütterlich behandeln muss, weil sein Buch eher als ihres, aber nicht früh genug, um noch von ihr wahrgenommen zu werden, erschien, hat ohne den privilegierten Zugang zu den Quellen fast alle wichtigen Dinge der frühen Strittmatter-Lebenszeit auch herausgefunden. Das ehrt ihn, spricht immerhin nicht gleich stark gegen sie.

Wie es überhaupt keine Frage des Wettlaufs ist, die hier zu erörtern wäre. Wirklich dumm steht nur Günther Drommer da, aber das war schon anlässlich seines Buches festzustellen, ohne jede Kenntnis der Arbeit von Annette Leo. Die hat, der Eindruck drängt sich mit großer Wucht auf, vorn zu lange geschnüffelt, um hinten noch halbwegs sauber aus der Arbeit zu kommen, als der Endtermin für die Manuskriptabgabe heranrückte. Fast dreißig Jahre Strittmatter drängt sie hinten auf wenig mehr als dreißig Seiten zusammen, raubt sich selbst davon noch mehr als zehn Seiten für eine, Verzeihung, überwiegend fruchtlose Explikation der nun wirklich maßlos uninteressanten Geschichte Strittmatter und Grass beim Austauschen offener Briefe. Bleibt für den Rest, immer noch knapp dreißig Jahre, fast nichts mehr übrig. Und genau so liest sich das Kapitel. Nirgends vorher im Buch steht der kleine Lapsus so dicht neben der einfachen Ahnungslosigkeit wie in dieser Behandlung der Jahre von Mauerbau bis Mauerfall.

Kann es sein, dass die Verfasserin eines Buches mit dem Untertitel „DIE Biographie“ noch nicht einmal alle zu Lebzeiten erschienenen Bücher ihres Gegenstandes wenigstens dem Titel nach kennt? Was ist mit „Paul und die Dame Daniel“, ich habe in meiner Äußerung zu dem wahrlich wenig rühmlichen Werk danach schon gefragt? Was wäre es für eine Aufgabe gewesen, dem Verlagswechsel nachzuspüren. Aber die Historikerin schreibt auffallend oft das Wort „vermutlich“ in ihren Text, wenn sie keine Lust zur Recherche hat. Nehmen wir Martin Walser, der noch lebt. War er nun oder war er nicht Gast des Schriftstellerkongresses 1961? Nicht ein einziges Protokoll all der Schriftstellerkongresse hat offenbar für die Autorin eine Rolle gespielt, keine Dokumentation einer Theoretischen Konferenz, die immer wieder von ihr herangezogen wird, erscheint im Literaturverzeichnis. Was ist das, um es gleich abzuhandeln, für ein unfassbar armseliges Literaturverzeichnis bei einem Buche dieses Anspruchs auf Schutzumschlag, Titelblatt und in der Verlagsreklame? Hunderte Seiten über Strittmatter, auch biographische Seiten, nicht einmal genannt, geschweige ausgewertet und in ihrer Bedeutung gewichtet. Beginnen heutige Historiker nicht mit einer Bestandsaufnahme, ehe sie ihr eigenes Pferd besteigen?

Selbst wenn es denn legitim sein sollte, das Werk eines Schriftstellers beim Schreiben über ihn wie nicht vorhanden zu nehmen, darauf läuft letztlich alles hinaus auf diesen knapp 450 Seiten, dann bleiben immer noch Fragen über Fragen offen. Phasenweise mutet der Textverlauf an, als würde eine Checkliste für Moralaposteleleven im ersten Lehrjahr abgearbeitet. Judenfrage? Keine Antwort. Selbstbezichtigung der Mittäterschaft? Nicht erfolgt. Zwangsvereinigung von KPD und SPD? Nicht reflektiert. 17. Juni 1953? Schlappe Variante. Einmarsch in Ungarn? Übles Schweigen. Mauerbau? Beinahe Grass angezeigt. 11. Plenum 1965? Christa Wolf abblitzen lassen. Einmarsch in die Tschechei 1968? Faust in der Tasche leicht geballt. Und so weiter und so fort. In welchem Zirkus finden eigentlich solche Autorenübungen statt?? Hat dieser Strittmatter denn nicht auch noch was geschrieben? Romane, Stücke, Gedichte, Aphorismen, Kinderbücher, Kleingeschichten, Tagebücher? Wehe, wenn Annette Leo auf sie zu sprechen kommt. Sie weiß nicht einmal, dass „Sulamith Mingedö“ auch in „Tina Babe“ enthalten ist, anders ist nicht zu erklären, dass sie beide Bändchen wie vollkommen getrennten Sachen aufzählt.

Immerhin erfuhr sie, dass aus dem Bestand von „Ein Dienstag im September“ 1969 die Geschichte „Die Cholera“ unter wahrhaft DDR-üblichen Exerzitien ausgeschieden werden musste, obwohl sie schon in der NDL 1967 veröffentlicht war. Sie offeriert den Namen des vermutlichen Stofflieferanten, der selbst disziplinarische Probleme bekam. Die Fußnote am Ende des Abschnitts aber nennt nicht etwa Quellen für ihre Behauptungen, sondern lediglich die Druckdaten für „Die Cholera“. Hat aber selbst keine Bedenken, Drommer wegen nicht genannter Quellen zu kritisieren (Seite 75). Sie entlarvt, um ein anderes Namensbeispiel zu nehmen, wer IM „Wolfgang Köhler“ war und sie zerrt vollkommen zu Recht Frau Professor Messerlein an den Pranger, Anneliese Löffler wurde von Volker Braun so genannt. Warum aber verschweigt sie, wer sich hinter „Villon“ und „Martin“ verbarg (Seite 390)? Ein kurzes Blättern bei Joachim Walther gibt umgehend Auskunft. Ist das Historiker-Arbeit??

Zu den enttäuschten alten Strittmatters-Fans muss Annette Leo nicht gezählt werden, sie hat gelesen, was sie ganz früher musste, oder was die IN-Liste des DDR-intellektuellen Wissenmüssens ihr abforderte. In ihren persönlichen Eingangsbekenntnissen wird unangenehm deutlich, wie fern sie ihrem Gegenstand letztlich wirklich steht. Da geht man eben direkt zum dritten Band des „Wundertäter“ über. Wozu die Bände davor überhaupt geschrieben wurden, mag die Verwandten ersten und zweiten Grades interessieren. Sie macht sich nicht einmal die Mühe, die korrekten Erstausgabe-Daten festzuhalten im Apparat. Was aber ist mit dem MANN Strittmatter? Mich beispielsweise hat ins Mark erschüttert, wie er mit seinen Frauen, seinen Söhnen umging. Dagegen war mir die Frage, ob er als Schütze 2 am leichten Maschinengewehr die Patronengurte nur einschob oder bisweilen, wenn der Mörder am Abzug eventuell einmal pinkeln musste, auch selbst zielte, fast sekundär. Alle in jenem Kriege haben hinterher gesagt, sie hätten keinen Schuss abgegeben. Irgendwie müssen die 55 Millionen Opfer von selbst umgefallen sein. Das aber berechtigt uns Friedenskinder nicht, als Klugscheißer über die Friedhöfe zu stolzieren. In einem Land, in dem uns die großen Zeitungen synchron und sinngleich belehren, wie wir lügen müssen, um unseren künftigen Personalchef davon zu überzeugen, dass er uns und nicht die anderen einstellt, wollen wir über Verheimlicher und Lügner den Stab brechen? Pfui Teufel!

Es könnte mit dem Wissen um alles, was wir nun wissen, obwohl wir es nicht wissen wollten, eine neue Auseinandersetzung mit dem Werk Strittmatters beginnen. Die Frage dabei ist nicht, ob seine Romane wegen seines Frauenbildes Kitsch sind. Das schreibt sich hin und ist schon während der Drucklegung vergessen. Die spannende Frage, lieber Gott, ich wollte nie dieses abgelatschte Wort benutzen und nun rutscht es mir durch, die spannende Frage, die nicht witzig ist, um auch das zweite Wort des aktuellen Yuppie-Koordinatensystems zur Weltbegutachtung zu benutzen, könnte ja lauten: Wie lügt einer auf mehr oder minder hohem literarischen Niveau sich selbst und allen anderen in die Taschen, um nicht aus dem Fenster springen zu müssen angesichts eigener Schuld. Das sind Fragen von Schwere und Bedeutung. Daneben nehmen sich Reihenfolgen in der Freiwilligmeldung, auch wenn nicht einmal die bei Annette Leo schlüssig vorgetragen sind, doch eher bedeutungsarm aus. Joachim Jahns ist da weiter gewesen.

Gehen wir noch ein wenig in die Einzelheiten, um Absichtsunterstellungen vorzubeugen. Mehrfach im Buch nutzt die Autorin die Chance, eine einfache von ihr selbst aufgeworfene Frage zu beantworten, nicht. Von Martin Walser war schon die Rede. Nicht vom Ort Strittmatter im Schwarzwald. Kann man das nicht sekundenschnell recherchieren? Ja, es gibt ihn, nein, es gibt ihn nicht? Wenn es stimmt, dass Strittmatter am Bienkopp geändert hat, dann ist doch die Frage nahe liegend, ob die verschiedenen Fassungen noch existieren. Leo fragt nicht. Ob die LPG ein Projekt verwirklicht hat (Seite 350), kann sie nicht beantworten, weil im Tagebuch Strittmatters nichts dazu steht. Hätte man nicht in der LPG fragen können, dafür das Interview mit einer 98-jährigen streichen, das keinerlei Informationswert besitzt? Kann man wirklich den SPIEGEL zu einem DDR-Schriftstellerkongress als einzige Quelle heranziehen, obwohl das Protokoll ja gedruckt wurde? Wieso ist es „natürlich“, dass Otto Köhler schreibt, wie er schreibt? Im Jahr 2012 das Kürzel IM mit „informeller Mitarbeiter“ zu erklären (S. 409), ist kaum unterbietbar. Warum eine so BILD-artige Auslassung über Ruth G. Mossner (Seite 392)?

Annette Leo klebt an Tagebuch und Briefen so dicht, dass sie ihre Augen kaum zu anderen Belegen heben kann. Sie verschenkt Möglichkeiten zu Assoziationen und Erklärungen gleich reihenweise, weil sie die anderen Texte offenbar schlicht und ergreifend nicht kennt. Wer etwa die kurze Geschichte „Nebel“ aus „Ein Dienstag im September“ nimmt, steht nicht annähernd so ratlos vor Strittmatters Grabinschrift wie die Autorin. Wer „Schulzenhofer Kramkalender“ nicht nur überblättert hat, um ungefähr zu erfahren, was darin steht, der muss nicht auf das Tagebuch zurückgreifen, um Strittmatters Bemühen, ein besserer Vater zu werden, in vielen kleinen Erwähnungen von Matthes zu finden, andere Söhnen werden selten oder nie gezeigt. Neben der immer wieder durchbrechenden Inkonsequenz in der Sprachebene (Strittmatters erste Frau „agiert aus“ neben der schülerinnenhaften Nennung der Lehrerin „Frau Rothe“) fallen auch allgemeine Defizite auf. „Kunst ist Waffe“ von Friedrich Wolf war ein Aufsatz und kein Ausspruch, Goethes „Dichtung und Wahrheit“ lebt vor allem aus der Überzeugung des Autors, Repräsentant und exemplarisch gewesen zu sein. Wer das nicht einrechnet, greift auch beim Bezug zu Strittmatter, genauer, dem Nicht-Bezug, zu kurz.

Zu weit geht die Autorin und das keineswegs ausgleichend, wenn sie Bedeutung in alten Schwarzweiß-Fotos erkennt (Seiten 76 und 119). Was soll die nicht einmal komische Apostrophierung des Namens Schieber (Seite 83). Auf Seite 201 erwähnt Annette Leo einen Romanversuch aus Strittmatters Zeit in der Schwarzaer Zellwolle. Als sie diese Zeit beschrieb weiter vorn, verschwieg sie das Projekt. Auf Seite 211 stößt sie auf ein Zitat, mit dem man wunderbar das Grundanliegen der Nachtigall-Geschichten zusammenfassen könnte, wie es im Nachsatz der ersten Sammlung ausgeführt wurde. Man müsste die allerdings kennen. Seite 244 erscheint Strittmatter schon als Nationalpreisträger, wo er es noch gar nicht ist. Seite 278 ist der Schriftstellerkongress um ein Jahr vorverlegt. Seite 350 nennt sie 1955 und 1957 „gleichzeitig“. Dass alles, was ich hier treibe und schreibe, für Annette Leo sicher „rüde Terminologie“ darstellt, entnehme ich der Seite 290, dort charakterisiert sie höchst normale Aussagen des Strittmatter-Intim-Feindes und Ex-Freundes Jokostra so.

Nach dieser langen Tirade soll keineswegs verschwiegen werden, dass DIE Biographie auch etliche Stellen hat, die mindestens anregend waren für mich, für andere Leser kann ich leider nicht sprechen. Auf die Idee, Hanna Tainz und Frieda Simson als eine Person zu sehen, wäre ich so schnell nicht gekommen, wenn überhaupt je. Wobei ich gestehe, dass mich die realen Vorbilder literarischer Figuren normalerweise eher weniger interessieren. Das Zitat auf Seite 168 „Mein Trieb: Ohne Rücksicht auf meine Umgebung in der Zukunft zu gelten und eine Leuchte zu sein.“, das notiere ich mit Andacht. Ganz vorn schrieb Annette Leo: „Man würde Erwin Strittmatter und seinen langjährigen Leserinnen und Lesern Unrecht tun, wollte man ihre liebevolle Anhänglichkeit auf das mit ein wenig Nostalgie vermischte Nachwende-Bewusstsein verkürzen.“ Man würde den Freunden Annette Leos Unrecht tun, wollte man ihre Strittmatter-Biographie auf das Schielen nach dem Buchmarkt des Jahres 2012 verkürzen. Etliche Arbeiten müssen für eine wirkliche Biographie nun in der Tat nicht noch einmal geleistet werden. Sie liefert Pionierarbeit ohne Halstuch. Und vielleicht lernt sie ja bei einer Lesung auch mal einen alten Militärknochen kennen, der ihr erklärt, dass das Bilden eines Regimentes aus Bataillonen etwas anderes ist als das Unterstellen eines Bataillons unter ein Regiment, falls es letzteres je gegeben haben sollte außer nach extremen Verlusten.


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