Erwin Strittmatter: Pony Pedro
Als das Buch bereits in mehrere Sprachen übersetzt war, notierte Strittmatter im erst jetzt veröffentlichten Tagebuch „Nachrichten aus meinem Leben“ unter dem Datum des elften Januar 1962: „Christa ist tot, die über die Seiten der Pony Bücher hüpfte, die mir den literarischen Namen des Ponys PEDRO finden half.“ Gemeint ist Christa Grytsch (1935 bis 1962), die von 1953 bis 1961 als Kindermädchen im Haushalt der Strittmatters lebte, die tatsächlich im Buch auch als Christa erscheint. Im Tagebuch wird der wirkliche Name des Pony-Hengstes im Buch-Zusammenhang nicht erwähnt, er war Brandy und klang in einer Zeit, in der Strittmatter selbst einen heimlich umgehenden Amerikanismus in der DDR witterte, gleichfalls im Tagebuch nachlesbar, vielleicht einfach zu amerikanisch oder zu alkoholisch oder beides.
Das Buch „Pony Pedro“ ist im Tagebuch kaum präsent, was daran liegen mag, dass es in seiner Substanz weitgehend Tagebuchaufzeichnungen entnommen ist. Wenn es so ist, könnte ein Vergleich der urprünglichen Notizen mit der schließlich gefundenen Form reizvoll sein, zur Formfindung immerhin sind einige Sätze gedruckt, in denen Evchen eine Rolle spielt, die dritte und letzte Gattin. Angemerkt sei, weil es den Befund untermauert, den ich zu Annette Leos Biografie hier veröffentlichte, dass die Biografin Christa Grytsch nur ganze zweimal nennt, von ihrer Existenz im Kinderbuch aber offenbar nichts weiß, es jedenfalls nicht der Erwähnung für wert befindet. Aber sie erwähnt auch den Plan eines Dramas zum „Kirchenkampf“ in der DDR nicht, der in unmittelbarer Nachbarschaft der PEDRO-Notizen im Tagebuch zu finden ist. Dabei wäre für eine Biografin die Frage höchst interessant gewesen, ob Erwin Strittmatter nach und neben dem „Katzgraben“ und der „Holländerbraut“ je weitere dramatische Absichten hegte und vielleicht sogar teilweise realisierte. Fehlanzeige, wie viel zu oft in dieser Biografie.
Am 4. August 1958, es ist ein Montag, schreibt Strittmatter in sein Tagebuch: „Es kommt der Grafiker Hans Baltzer. Ich hole ihn mit dem Ponygespann vom Bahnhof ab. Er soll die Zeichnungen für das Pony-Buch anfertigen. Am Nachmittag führe ich ihn herum und zeige ihm die nähere Umgebung. Das ist eine meiner Rekonvaleszenz angemessene Beschäftigung.“ Schwer zu sagen, warum Strittmatter den Anschein erweckt, Baltzer erst jetzt kennenzulernen. Der hat immerhin schon „Paul und die Dame Daniel“ illustriert, die freilich im Tagebuch extrem stiefmütterlich wegkommt. Für Annette Leo wäre Baltzer ein Gegenstand gewesen, wenn sie denn Zeit gehabt oder sich genommen hätte, das auch noch niederzuschreiben, was sie als Desiderata ihrer Strittmatter-Biografie am Ende leicht kokett immerhin knapp dokumentierte.
Von Hans Baltzer, dem Enkel Hans Baltzers, weiß ich, dass gerade die Liebe zu Pferden, die bei Baltzer darüber hinaus eine generelle Tierliebe war, ihn mit Strittmatter tiefer verband. Der hielt am 13. August 1958 für sich fest: „Ein interessantes Buch, von Baltzer geliehen, ist seit Tagen meine Bettlektüre, „Der Araber und sein Pferd“. Das vom 1972 geborenen Baltzer dem Großvater, der am 17. Juni 1972 im Alter von 72 Jahren in Berlin starb, gewidmete und gestaltete Katalog-Heft zum hundertsten Geburtstag am 29. März 2000 vermittelt ein schönes, wenn auch nach mehr Umfang rufendes Bild des Mannes, der schon drei Jahre vor Strittmatter 1950 einen Nationalpreis bekam. Im Tagebuch taucht der Name Baltzer noch einmal auf im Zusammenhang mit „3/4 hundert Kleingeschichten“: „In der Ausgabe des Kinderbuch-Verlages soll es von Hans Baltzer mit Zeichnungen versehen werden.“ In der im Rahmen der Reihe „Edition Neue Texte“ des Aufbau-verlages erschienenen Ausgabe sind auf alle Fälle keine Illustrationen enthalten. Die Kinderbuch-Ausgabe mit den Baltzer-Illustrationen erlebte, so weit ich sehe, mindestens vier Auflagen.
In meiner Ausgabe von „Pony Pedro“, es handelt sich um die bereits achte Auflage im Rahmen der Kinderbuch-Reihe „Robinsons Billige Bücher“, die zwei Mark der DDR kostete und 1965 zu meinem zwölften Geburtstag auf meinem Gabentisch lag, sind allein sechzehnmal Pferde zu sehen, andere Tiere deutlich seltener. Das belegt mir heute die Aussage des Enkels Baltzer über die Vorlieben seines Opas zusätzlich. Im Katalog sind einige der Zeichnungen großformatig zu sehen. Und andere, die mich an Kinderbücher erinnerten, die ich einst mit großer Begeisterung las: „Der Schwarze Wolf“ und „Tenggeri, Sohn des Schwarzen Wolfs“ von Kurt David. Da hat Hans Baltzer, was ich erst jetzt weiß, sein Mongolei-Erlebnis zu Bildern gemacht, Pferde sind da noch mehr Inventar als auf Strittmatters Pony-Hof. Vom Lese-Erlebnis im März 1965 ist mir heute nur gegenwärtig, dass es mein allererster Strittmatter war, dem etliche folgten, ohne dass ich je etwas wurde, was man als Strittmatter-Fan hätte bezeichnen können.
Heute ist auffallend, dass Strittmatter im Tagebuch den „Pedro“ zwischen den Sorgen um den ersten Band des „Wuntertäter“ und der begeisterten Notiz zur Geburt des neuen Roman-Planes „Bienkopp“ (noch ohne den Titel freilich) nur beiläufig erwähnt. Und alles, was er dazu notiert, klingt nicht, als ob ihm bewusst wäre, ein Kinderbuch zu schreiben. Die wenigen benannten Absichten und Wirkungwünsche richten sich eher nicht an Kinder, sondern an eine Kritiker-Welt. Auch die Skrupel, die er anspricht, betreffen die Privatheit seiner Pferde-Züchterei und er nimmt es noch tröstend, wenn ihn Boris Djacenko in dieser Sache aufmuntert. Nicht viel später ist Strittmatters Stab über den einstigen Freund und Verbündeten gebrochen. Für diese Geschichte sei übrigens Annette Leo gedankt, die dafür etliche andere Freundschaften, die nicht zerbrachen, beiseite ließ, was keineswegs absichtslos erscheint (und meinen Dank sofort relativiert).
„Pony Pedro“ umfasst, wenn ich mich nicht verzählt habe, 48 kleine Kapitel mit je eigener Überschrift und alle sind kaum verhüllt autobiographisch. Kleine Verwandlungen der Realität seien registriert, im wirklichen Leben waren nicht die Honorare so üppig, das Strittmatter sich seine Kate leisten konnte als Grundstock seines späteren Schulzenhof-Anwesens, es war der erste Nationalpreis dritter Klasse, der „überschüssiges“ Geld in die Kassen spülte. Auch war das Lähmende, das er im „Pedro“ der Großstadt Berlin mit ihrer Stalinalleee zuschrieb, nicht ganz so lähmend, wie es hier erscheinen könnte. Im Kern aber ist es die Geschichte des Pferdchens vom Kauf über den Transport bis zur schrittweisen Eingewöhnung ins Schulzenhof-Leben. Strittmatter führt sich als Pferdekenner vor, was weniger eitel ist, als mancher glauben möchte. Und er führt sich als sehr genauen Beobachter kleinster Kleinigkeiten vor, die ihn zu formulierten Weisheiten leiten, wie er glauben macht. Später offenbart er, im „Schulzenhofer Kramkalender“ besonders ausdrücklich, dass er fast ständig auf Beobachtungspirsch war und das Notizbuch stets bereit hielt. Ob er sich je Gedanken darüber machte, dass einem weniger berühmten Autor seine bisweilen auch arg winzigen Erkenntnisse und Sichtweisen nie für ein Buch abgenommen worden wären, sei hier nur erfragt.
Ob ich „Pony Pedro“ einst als Kinderbuch wahrnahm, weiß ich nicht mehr, heute neige ich dazu, es in einer Übergangszone anzusiedeln. Denn weder gibt es einen kindlichen Helden oder eine kindliche Heldin, noch steht das Pony im herkömmlichen Sinne im Mittelpunkt. Den behält sich der Erzähler vor, der sich vorführt und dabei auch kleinere Niederlagen nicht ausspart. Manche Details müssten heute mittels eines DDR-Glossars erläutert werden, denn die schrägen Konsequenzen eines Systems Planwirtschaft, in dem es Futter aus einer Rubrik Zirkus gibt, das sonst nicht da wäre, irritieren heute eher als dass sie, wie wohl um 1960 herum, belustigt als kleine Kritik wahrgenommen wurden. Die rituellen Abläufe in der Zucht, die dörflichen Gewohn- und Gegebenheiten sind dem vertraut, der in ähnlichen Umständen aufwuchs. Und gewinnen damit heute schon wieder fast volkskundliche Dimension.
„Die Form scheint da zu sein. Ich schreibe von mir, von uns, von allen Anfeindungen, Bedenken etc., die mir aus der Haltung von Ponys erwuchsen. Das wird am ehrlichsten, am poetischsten, am humorvollsten und ergibt Möglichkeiten, mit leiser Ironie Anfeindungen zu parieren.“ Heißt es am 24. August 1957 im Tagebuch. Nach Kinderbuch klingt das definitiv nicht. Schon am 19. September bekam er kalte Füße ob seines Eifers: „Die Seitenhiebe auf ganz bestimmte dumme Menschen gemünzt, wenden sich letzten Endes gegen unsere Sache im ganzen.“ Die Selbstzensur funktionierte quasi auf Abruf, es bedurfte nur des äußeren Anstoßes, den hier (noch) Boris Djacenko lieferte. Weitere vier Wochen später bezichtigt sich Strittmatter schon des zwischenzeitlichen Liberalismus und das lag deutlich vor der Endredaktion des Büchleins um ein kleines Pferd.
Am 13. Februar 1958 hält Strittmatter fest, dass Evchen einigermaßen zufrieden war mit dem „Pedro“ und er lässt eine überaus bezeichnende Aussage folgen: „Evchen ist mein zweites literarisches Gewissen. Es tritt sofort in Tätigkeit. Das eigene braucht viel Zeit und Abstand...“ Mich würde es brennend interessieren, was das tatsächlich am konkreten Buch bedeutete. Stattdessen erfährt der Leser des veröffentlichten Tagebuches nur, dass ihn die Söhne störten bei den Korrekturarbeiten und er deshalb ins Dachstübchen umzog. Wohl dem, der zeitig ein Dachstübchen hat zum Umziehen. Als mein Sohn im Kinderbett quer vor meinem Schreibtisch stand, auf dem noch ein letztes Drittel Dissertation zu vollenden gewesen wäre, hieß es nur: Pech. Zum Doktor habe ich es dennoch gebracht, dafür werden zu meinem hundertsten Geburtstag todsicher keine schnellschüssigen Biografien veröffentlicht. Zurück zur Sache.
„Ich war wieder der Junge, der dem Großvater auf dem Pferdemarkt ein billiges Arbeitspferd kaufen hilft.“ Erzählt ist das ausführlich und viel später in der ersten NACHTIGALL-GESCHICHTE. Wie später immer wieder ist schon „Pony Pedro“ erfüllt von Poesie und auch von aufgesetzter Poesie. Strittmatter ist, will mir scheinen, nie bis zu einem Punkt gelangt, wo ihm ein ganz sicheres Gefühl für Maß eignete. Man kann Zigaretten nicht „Tabaknudeln“ nennen. Man kann nicht Kraniche „trompeten“ lassen und das im unmittelbar folgenden Satz „Posaunentöne“ nennen. Man kann nicht schreiben: „In der Stadt ist sie aus Porzellan. Keramik sagt man auch dazu.“ Nach diesem Satz würde man in jeder Porzellanfabrik der Welt mit brüllendem Gelächter verabschiedet. Sehr schön dagegen: „Meine Frau ist klug. Sie behandelt mich wie einen großen Jungen.“ Diese kluge Frau reicht auch nicht einfach ein Handtuch, sondern, wenn es nötig ist, ein frisches, sauberes. Solche Feinheiten bemerkt wohl kaum ein Kind mit 13 Jahren, für das das Buch empohlen wurde.
Kleine Seitenhiebe auf Post-Bürokratismus, auf Zeitungsleute, die die falschen Fragen stellen, auf verwöhnte Kollegen aus der Stadt würzen das Buch, Strittmatter gibt sich als auffallend abhängig vom Urteil der Nachbarn zu erkennen und will nie und vor niemandem als Spießer erscheinen, was sich nicht immer zur Deckungsgleichheit bringen lässt. Viel zu oft schreibt Strittmatter, für meinen Geschmack, Sätze, die „der Mensch“ sagen und doch nur küchenanthropologisch klingen oder stammtischweise. Schön dann wieder: „Ich liebe Menschen, die ein Unglück nicht aus der Bahn wirft.“ Noch schöner: „Sein Schwanz war durchnäßt und dünn wie der Schnurrbart des Postboten, wenn es regnet.“ Ziemlich weit hinten steht: „Zusammen waren wir ein Zentaur, eines jener Fabelwesen, von denen alte Sagen berichten. Seit ich auf Pedros Rücken durch die Wälder wandere, reite ich ursprünglich wie in der Kinderzeit.“ Und das mag genau die Stelle innerhalb des Kapitelchens „Ein Zentaur geht durch den Wald“ sein, auf der die Grafik fußt, die Joachim Jahns seiner Sonderausgabe beigelegt hat. (siehe mein darauf bezogener Text).
Schräg wirkt heute, wenn Strittmatter ein sowjetisches Reitlehrbuch gegen die aus der DDR stellt, weil jene auf preußischen Urtexten fußen. Wie eine Ankündigung des „Schulzenhofer Kramkalenders dagegen: „Mit Pedros Hilfe halten mich die Tiere des Waldes für ihresgleichen. Ich komme ihnen näher. Mit neuen Erfahrungen und Freuden kehre ich heim.“ Pedro war der Anfang. Abgründe deutet an: „Was heute eine Schwäche ist, kann morgen unter veränderten Verhältnissen eine Stärke sein.“ Und umgekehrt, möchte man ausrufen, und umgekehrt. Bei allem gilt dennoch weiter: Strittmatter war ein Dichter. Wenngleich nicht durchgehend von gleicher Größe. Sein Fazit aus dem „Pony Pedro“ soll deshalb auch hier Fazit sein: „Nur wer auch im Winter die Lebenslust des Frühlings und die Reife des Sommers aufs Papier bannen kann, wer aus windstarren Ästen duftende Blüten zu schlagen vermag, der wird ein Dichter.“