Anouilh: Einladung ins Schloss
Es plätschert vor sich hin. Dramatisches Bizet, so der Eindruck nach zwei der vier Bilder. Dann im dritten Bild wird das Geheimnis enthüllt, das noch gar nicht zur beabsichtigten Wirkung gelangt ist. Um schließlich, Bild vier, in ein Finale zu münden, das rasant Substanz gewinnt. Das bewegt und in einem Happy End ausschwingt wie ein Märchen aus der Märchen-Mustergalerie. Dieser Jean Anouilh war einmal der Liebling aller Bühnen, er war der Liebling aller Kritiker. Selbst die mauligsten unter ihnen schwelgten über schwebende Leichtigkeit, über Theatereffekte, Bühnensicherheit, Traumrollen für Darsteller und Darstellerinnen. Immerhin, es war die Zeit, da noch Bühnenbilder gebaut wurden. Die Zeit, da 32 Darsteller zum Einsatz kamen und keiner musste eine Doppelrolle spielen. Es waren die 40er, die 50er und die 60er Jahre.
Die späteste (mir bekannte) Anouilh-Besprechung von Friedrich Luft, Anfang 1970 erschienen, am Ende einer langen Reihe immer neuer und immer neu begeisterter Auslassungen, gibt als Vermutung an, was es war, das den 1910 in Bordeaux geborenen Franzosen da wie ein Schicksal ereilte. Luft beobachtete, anlässlich der Premiere von „Cher Antoine oder Die verfehlte Liebe“ im Theater am Kurfürstendamm, dass im Publikum Unzufriedenheit unübersehbar war, wenngleich noch nicht massiv artikuliert. Den Unzufriedenen fehlte am Stück die „Relevanz“. Man darf aus dem Abstand der Jahre das feine Gespür Lufts wieder einmal loben, der die ganz sicher aus „68“ sprossende Neuorientierung sofort bemerkte. Und der jetzt selbst, es sei auf alle Fälle erwähnt, in ganz anderem Ton über „seinen“ Anouilh schrieb, als er das in all den Jahren davor getan hatte, begonnen mit seiner feinfühligen Besprechung der „Antigone“ anno 1946.
„Einladung ins Schloss“ erzählt eine Geschichte, die keine Erwartung von Klassenkampf auf der Bühne bedient. Die Bauchschmerzen der Reichen, die immer reicher werden, klingt das nicht überraschend aktuell und unaktuell zugleich, dürfen die tatsächlich ernstlich jemanden interessieren? Brüder, die Zwillinge sind, von einem Darsteller zu spielen, von einem Double zu vertreten, wenn sich die sichtbare Anwesenheit auf der Bühne denn gar nicht vermeiden lässt, stehen im Mittelpunkt des Geschehens. Der eine will dem anderen die Frau abspenstig machen, lädt deshalb eine Tänzerin Isabelle aufs Schloss, die bei dem einen für den anderen eine Rolle spielen soll. Die Tänzerin hat eine Mutter, die Zwillinge haben eine Tante, die Tante hat eine Haushälterin. Außerdem gibt es einen Privatgelehrten, einen Privatsekretär und einen sehr, sehr reichen Mann mit dem ziemlich komischen Namen Maurice Messerschmann. Der wiederum eine Tochter hat und eine Vergangenheit in Krakau. Als er sich zugrunde richten will, führt das an den Börsen, weil die seine Manöver missverstehen, dazu, dass er doppelt so reich wird wie vorher.
In meiner schmalen Buchausgabe findet sich der deutsche Text von Helmut Käutner, nicht der von Franz Geiger, der sonst die meisten Sachen von Anouilh übersetzte. Käutner hat auch selbst Anouilh inszeniert. Da sagt dann die Tochter der Finanzmoguls: „Reich sein ist wirklich nur schön, wenn man arm ist.“ Und die Tänzerin Isabelle antwortet: „Und arm sein gefällt wohl nur den Reichen.“ Für die eine, Diana, ist eine Einladung in ein Schloss nichts, denn sie wohnt selbst in einem Schloss, für die andere, Isabelle, ist es ebenfalls nichts, jedoch aus ganz anderen Gründen und Motiven. Sie sagt: „Arme Leute haben die schlechte Angewohnheit, sich überall zu Hause zu fühlen, da sie nirgendwo zu Hause sind.“ Mit unendlicher Wonne zerreißen im vierten Bild der reiche Messerschmann und die arme Isabelle Stück für Stück eine ganzes Bündel von Geldscheinen. Der reiche Messerschmann gesteht, dass er nur einmal im Leben glücklich war, damals in Krakau. Dort lobte ihn sein Schneidermeister für seine erste allein gefertigte und passende Weste.
Genau hier nun setzt die Willensentscheidung des Lesers oder Theaterbesuchers ein. Nimmt er an, was Anouilh erzählt und wie er es erzählt oder misst er das Stück an einer Elle (im Schneider-Bild zu bleiben) eigener Wunschvorstellungen. Anouilh hat alles vorausgesehen. Madame Desmermortes spricht es aus: „... man liebt doch immer nur seine eigene Liebe, und man läuft sein ganzes Leben lang diesem trügerischen Spiegelbild nach. Wir sind schlechte Schneider, wir schneiden einen Anzug zu, ohne Maß zu nehmen. Wenn er dann nicht paßt, versuchen wir den Kunden zu ändern und nicht den Anzug.“ Dies wäre für Theater ein trefflicher Streitpunkt. Zumal in Zeiten, da das Verheben an schwersten Brocken leicht genommen wird von Jungregisseuren und Jungregisseurinnen, denen nicht einmal das warnende Beispiel eines Kleist hilft, dem der Versuch „Robert Guiskard“ lebensbedrohlich missriet.
Das Schöne an Anouilh ist, dass er jeden, der nun meinen könnte, mit diesen zitierten Stellen wäre dies eine und vielleicht sogar noch andere Stück aus seiner Feder charakterisiert, schon gefoppt hat. Die Kritiken zu seinen Werken, die er selbst zunächst in rosa Stücke und schwarze Stücke einteilte, später fand er weitere Rubriken, betonen immer wieder gerade dies: er liefert Spiel im Spiel. Er stellt in Frage, was er eben behauptet, er verteilt auf mehrere Figuren, was anderswo als Seelenvielfalt in einer Brust haust. Und er ist so unverschämt bühnensicher, wie Goethe es, um auf Kleist erneut zu kommen, sich selbst zuschrieb, als er dem Märker eine Lehre erteilen wollte. Goethe hatte da eben Calderon studiert und es war dreist, an Kleist zu vermissen, was Goethe selbst eben längst vermissen ließ. Obwohl er es natürlich „konnte“.
Überschaut man heute die zahlreichen Etikettierungen, mit denen das Theater-Phänomen Jean Anouilh seinerzeit versehen wurde, dann fällt auf, dass sehr viel des Lobes von deutscher Zunge und Feder wie vergiftetes Lob klingt und gar nicht so selten wohl auch so gemeint war. Dennoch hier eine kleine Blütenlese: „Jean Anouilh wird wohl als Meister solcher schwebender Distanzierung in die Theatergeschichte unseres Jahrhunderts eingehen.“ „...ein Bestandteil seiner Klugheit ist es, daß sie niemals zu klug wird...“ (Hans Weigel 1959). Dieser Österreicher war es übrigens auch, der am „Ball der Diebe“ anmerkte, wie schwer es deutschsprachigen Darstellern fällt, französisch leicht zu agieren. „Wie immer bekommt man von Anouilh Wahrheiten aller Grade zu hören; es macht ihm viel Vergnügen, seine Akteure zu entlarven, doch er klagt sie beileibe nicht an. Er hält sich wie stets daran, sie bei ihren großen und kleinen Schwächen zu ertappen.“ (Walther Karsch 1960). Karsch sah 1956 die „Einladung“ im Berliner Renaissance-Theater, lobte Harry Meyen in der Doppelrolle und Blandine Ebinger fand er schlicht „umwerfend“. Als Gesellschafterin.
„Ich bin so ausführlich geworden, weil es sich um eine der trefflichsten und rundesten Komödien unseres Jahrhunderts handelt.“ (Albert Schulze Vellinghausen 1953 über „Leocadia“). Schulze Vellinghausen sah die „Einladung“ 1954 in Bochum und hielt fest: „Schön, daß es so etwas gibt. Denn es ist nicht nur Unterhaltung. In den Durchblicken der Tiefsinn.“ Und über die „Majestäten“ schrieb er 1960: „Ein Quantum Beunruhigung verwandelt, was soeben nur Unterhaltung schien, in ein offenes Feld der Nachdenklichkeit.“ „Anouilhs Theaterpranke fesselt auf jeden Fall, sie bedarf gar nicht des Moments der Verblüffung.“ (Manfred Vogel 1960). Und über die Gesamtheit der vielen Stücke Anouilhs weiß Vogel 1962: „Die besseren zählen wir zu den großen Kostbarkeiten des Gegenwartstheaters, während die weniger guten vielfach immer noch besser sind als die besseren anderer Autoren.“ Wir können zu Friedrich Luft zurückkehren, der nur wenig jünger war als Anouilh. Auch der sah natürlich die „Einladung ins Schloss“.
„Es war ein bezaubernder Abend. Denn daß ein weiser Autor mit Eleganz und sozusagen aus Daffke einmal herzhaft und nahrhaft albern ist, das ist so selten.“ Von „Schaumspeise“ schrieb Luft und von „reinem, feinem Firlefanz“. Dialoge in „Ornifle“ nannte er „Festessen“, seinen Autor: „Er ist Pessimist. Deshalb ist er so ein superber Ironiker.“ „Anouilhs Stücke, auch wo sie schwarz sind, sind noch von einem Silberstaub zärtlicher Poesie überschüttet.“ „Anouilh ist ein Mann der Literatur, des Geschmacks, des Gedankens. Aber der Glücksfall bei ihm: er ist vor allem ein Mann des Theaters. Er hat die Szene im Griff.“ Nach Friedrich Lufts Überzeugung „gefallen seine Komödien dem unverbildeten Theatergänger wie dem Feinschmecker und Snob. Der Mann ist eine Wohltat für die lebendige Szene.“ Vom „Walzer der Toreros“ behauptete er 1957, und damit soll es dann genug sein an und mit Luft: „Denn hier wurde endlich wieder dem Theater gegeben, was des Theaters immer ist: Spiellust, direkter Spaß, Vergnügen am Urelement der Schadenfreude und auch am Klamauk. Aber eben besänftigt durch Grazie, gehoben durch Geist, gesegnet vom Geschmack.“
Die DDR rang mit Anouilh, ohne zu einem Ende mit ihm zu kommen. Etliche Stücke von ihm erschienen gedruckt, auf den Bühnen wohl sehr deutlich weniger. Es ist fast ein Spaß zu beobachten, wie damals Gerhard Schewe als Nachwortautor im Henschelverlag und auch für Volk & Welt versuchte, den archimedischen Punkt zu finden, von dem aus sich das der herkömmlichen marxistisch-leninistischen Analyse so offensichtlich entziehende Werk fassen ließ. Der Franzose lieferte kein biografisches Material, er schrieb Werke, die sich mit größer Mühe nicht unter ein wie immer geartetes Entwicklungsschema ordnen ließen. Politisch war er kaum festzulegen, den Schulen des französischen Theaters des 20. Jahrhunderts nicht zuzuordnen und seine Gesellschaftskritik zeigte den faulenden und sterbenden Kapitalismus zwar ohne Schminke, falls man sie so sehen mochte, sehnlich erwartete lehrhafte Folgerungen zog Anouilh daraus aber nicht.
Kurt Schnelle resümierte für Reclam Leipzig: „Anouilh ist eines der redenden schlechten Gewissen dieser Gesellschaft. Das lässt ihn in unser Blickfeld treten.“ Und Gerhard Schewe blickte 1969 nach der Fixierung des Umstandes, dass Anouilh zu jenen gehöre, die Entfremdung vom Standpunkt des selbst entfremdeten Individuums kritisierten, in eine mögliche Zukunft für den Franzosen in der DDR: „Wo solchen Auffassungen real und ideologisch der Boden entzogen ist, wird das Publikum ein ganz anderes Verhältnis zu den Stücken gewinnen: Es wird in ihnen keine eigenen Probleme mehr entdecken, sondern sie – aus dem Abstand einer historischen Epoche – als die zwar verzerrte, aber doch nachempfindbare Widerspiegelung veränderlicher gesellschaftlich-sozialer Verhältnisse in einem bürgerlichen Land begreifen.“
Was für ein absurder Irrtum, die Annahme, DDR-Theatergänger würden sich je für andere als die eigenen Probleme interessieren. Das Gegenteil war der Fall. Die gesamte Entfremdungsdebatte und alles, was unter anderen Segeln noch folgte, solange das kleine Land seine krampfige Selbständigkeit bewahrte, lief immer wieder und immer deutlicher auf die eine einzige Erkenntnis hinaus, dass die vermeintliche Lösung der Widersprüche und Probleme in den Farben des Sozialismus vor allem Illusion war. Als die härteren Marxisten unmittelbar nach dem Krieg zum Theatergucken noch in den Westen Berlins fuhren, fanden sie durchaus beinahe lobende Worte für Jean Anouilh: „Reizendes Theater. Theater an und für sich. Für den Kurfürstendamm geradezu ein Idealfall.“ (Paul Rilla 1948) Was natürlich vor allem hieß: Für die Stalin-Allee nicht. „Anouilhs Theaterbegabung wird erst dann wieder etwas bedeuten, wenn sie aus diesem koketten Irrgarten herausfindet.“ (Paul Rilla 1947) Und Fritz Erpenbeck, der, man erinnert sich, selbst mit Brecht seine Probleme hatte, meuchelte „Eurydike“ 1947: „In ihm wird uns mit viel banalem Geschwätz zugemutet zu glauben, es gebe nichts Schöneres als den Tod...“
In meiner „Einladung ins Schloss“ steht vor dem Stücktext noch der Brief „An ein junges Mädchen, das zum Theater möchte“. Dort schreibt Anouilh: „Ich verrate Ihnen ein Theatergeheimnis: Ab einem gewissen Grad der Pathetik wird alles leicht. Nur das Sinnvoll-Alltägliche ist schwer.“ Ich vermute sehr stark, dass es dem am 3. Oktober 1987, also heute vor 25 Jahren in Lausanne verstorbenen Stückeschreiber um eben dieses „Sinnvoll-Alltägliche“ ging, in welchem Kostüm auch immer, ob rosa, ob schwarz oder sonstwie. Ich vermute weiterhin, dass Anouilh Theatern jetzt wieder interessant sein könnte, die vielen, nur scheinbar angestaubten Zitate, die ich stellvertretend für weitere hier sammelte, lassen ahnen, was möglich wäre. Der vergessene Jean Anouilh wartet auf Spielplanbastler, denen Aktualität nicht Vordergründigkeit bedeutet, die sich nicht schämen, ihrem Publikum wenigstens portionsweise und dosiert reines Vergnügen zu machen, weil den Horror ja ohnehin die Abendnachrichten enthalten und die Debatten über den Horror auf das Medium Bühne nun wirklich nicht angewiesen sind.