Katharina Mommsen: Kein Rettungsmittel als die Liebe
Das muss legitim sein: Katharina Mommsens Verfahren, nach versteckten oder geheimen Signalen und Hinweisen zu suchen, aus denen sich Deutungen herleiten lassen, denen im günstigen Falle Plausibilität oder Evidenz nachgesagt werden kann, stringente Beweiskraft aber abgeht, auf sie selbst und ihr neues Buch anzuwenden. Für mich erschließt sich das Ganze des Sammelbandes „Kein Rettungsmittel als die Liebe“ (Wallstein-Verlag) schlagartig auf der Seite 211. Dort sehe ich auf einem Amateurfoto von mäßiger Schärfe die Autorin in Schlaghosen mit Angela-Davis-Frisur vor einer Kopie des Weimarer Goethe-Schiller-Denkmales in San Francisco. Ihr Kopf verdeckt den Namen Schiller weitgehend, gibt den Goethes aber für jedermanns Blick frei. Das ist der Kern des Buches, meine ich, Goethe in Relation zu Schiller sichtbarer zu machen. Es erhebt Goethe, indem es Schiller dem Blick entzieht. Es ist, das lese ich freilich dann aus dem gesamten Text, ein Goethe-Verklärungsbuch, wie es wohl seit langem keines mehr gegeben hat. Wie man es, das sei ergänzt, in solcher Vehemenz auch kaum noch erwartet hätte.
Ein Problem des Buches ist seine Struktur. Die versammelten Texte sind zu einem sehr großen Teil bereits fast dreißig Jahre alt, selbst der jüngste hat schon das Entstehungsjahr 2005. Das war, vielleicht nicht zufällig, das Schiller-Jahr mit seinem dennoch heute schon wieder fast vergessenen unfassbaren Hype. Das Jahr, in dem ein Medienchor Rüdiger Safranskis „Schiller oder Die Erfindung des Deutschen Idealismus“ hochjubelte, dass man meinen konnte, vor dem in Biografien machenden Fernseh-Philosophen hätte sich noch niemand je mit Schiller befasst. Just dieser Safranski hat dann aus Überhängen dieses Projektes und neu hinzu Gesammeltem „Goethe & Schiller. Geschichte einer Freundschaft“ gezaubert, der Medienchor lieferte fast eine Reprise seiner Erstbegeisterung, obwohl man dem Buch sehr stark anmerkte, dass sein Autor viel mit Schiller, entschieden weniger vorher aber mit Goethe zu tun hatte. Katharina Mommsen erwähnt Safranski spitzlippig nur in ihrer seltsamen Einleitung.*
Safranskis Buch erzählt von der im Untertitel angekündigten Freundschaft viel weniger als er in seinen zahlreichen Trailer-Interviews an Erwartungen weckte. Stattdessen bringt er letztlich, was andere auch schon brachten und das immer mit der lesbar deutlichsten Freude, wenn er das engere Feld der Literatur in Richtung Philosophie verlassen kann. Aus der Beziehungsgeschichte von Goethe und Schiller lässt sich vielleicht alles Mögliche, auf keinen Fall aber eine Philosophie der Freundschaft destillieren, das wusste man freilich vorher schon ziemlich genau und gründlich. In Summa ist nach zwei überdrehten Schiller-Jahren möglicherweise für die unterschwellig beleidigte Goethe-Hagiographie ein Gegenschlag-Bedarf entstanden. Dem vielleicht Katharina Mommsen eine substanzhaltige Zulieferung machen wollte.
Während ihr Buch jedoch den gewissermaßen abgerüsteten Untertitel „Schillers und Goethes Bündnis im Spiegel ihrer Dichtungen“ führt, spekuliert sein durch die Einleitung freilich eher halbherzig suggerierter Inhalt auf eine Sensation. Die einfache nämlich, dass die Beziehung der beiden „Klassiker“ eine Liebesbeziehung gewesen sei, die mit allem Raffinement von beiden aus vermeintlich nahe liegenden Gründen verborgen und getarnt wurde. Der Bezug zu Safranski, der auffallen sollend verborgene (??), ist mit ihrem lapidaren Hinweis gegeben, der habe sich nur mit den Briefen befasst. Was erstens nicht stimmt und zweitens immer noch nichts bedeuten würde, was ihm vorzuwerfen wäre. Der Ansatz „Dichtungen als Spiegel“ dagegen ist über die Maßen problematisch, so weit das gespiegelte Biographie, gar die geheime Biographie sein soll.
Das Buch ist, auch dies vorab, ein seltsam gebautes Buch. Vorn ist eine Einleitung, die eben nicht zusammenfasst oder vorstellt, was der Rest des Sammelbandes bietet. Hinten steht ein Nachwort (von Ute Maack), das ganz offenbar so rasch als möglich zum eigenen Forschungsbericht übergehen möchte (und es auch tut) und Aussagen zum Vorstehenden (wohl aus Respekt) vermeidet. Warum, um alles in der Welt, hat sich der Wallstein Verlag darauf eingelassen, hinten einen gigantischen Anmerkungsteil abzudrucken, auf den vorn niemals verwiesen wird? Wer brav und ohne vorher zu blättern vorn beginnt, ist permanent verärgert, dass es noch für die problematischste Stelle keinen Beleg, keinen Hinweis gibt. Hinten aber wird auf den Text vorn dadurch verwiesen, dass die vorderen Textstellen noch einmal zitatweise angedeutet werden, was Platz raubend ist und, Verzeihung, extrem nervt. So macht man ein Buch zusätzlich ungenießbar.
Auf die Probe wird der Leser auch durch die Redundanzen der Sammlung gestellt. Wenn die Eingriffe in die Urtexte, wie die Nachwortautorin wenigstens kurz andeutet, auf die Vermeidung solcher Dopplungen gerichtet waren, dann waren sie alles andere als konsequent. Allein der umfangreiche erste Beitrag reicht normalerweise wegen der permanenten Wiederholungen hin, um das Buch beiseite zu legen und nie wieder anzufassen. Wie oft sagt mir dieser Band, was in „Alexis und Dora“ steht, wie oft, was in „Amyntas“, obwohl ich die Texte gar hinten alle nachlesen kann. Wer das, probehalber, vorher tun würde, hätte vermutlich immerhin das tiefe Erstaunen für sich, dass er selbst nie auch nur im Ansatz auf die Idee gekommen wäre, in diesen Dichtungen das zu vermuten, was Katharina Mommsen heraus gelesen oder hinein gedeutet hat.
Wenn die Autorin sich wenigstens festgelegt hätte (was freilich angesichts der belegbaren Sachlage eine Dreistigkeit bedeutet hätte), denn hätte man die Texte aus dreißig Jahren als einer Grundaussage zuarbeitend lesen können. Was aber sollen Texte, die mal von Liebe, mal von Freundschaft, mal von Bündnis, mal von griechischer, mal von platonischer Liebe reden, als flösse das alles nicht nur begrifflich ineinander über? Man kann das beinahe exzessive Hantieren mit dem Wort Liebe bei Goethe natürlich vollkommen zwanglos und einfach aus dem Gebrauch der Zeit heraus, es war fundierend die Zeit der Empfindsamkeit und keineswegs primär des Sturm und Drang, erklären, was keineswegs restlos aufgehen muss. Nur unbeachtet lassen kann man diese Üblichkeiten des Wortgebrauchs nicht. Man muss nur einmal eine einzige Sekunde darüber nachdenken, ob der Satz „Ich liebe Goethe“ auch nur den Hauch von Erotik, gar Sexualität enthalten muss seitens dessen, der ihn spricht, und schon fällt die Konstruktion des Bandes in wichtigen Teilen in sich zusammen.
Der biographistische Ansatz von Katharina Mommsen, den sie in fast erschütternder Reinheit verfolgt, hat eine fatale Nebenwirkung. Sie muss jedes Originalzeugnis distanzfrei als wahr und unbezweifelbar annehmen, weil sich sonst aus ihm ja nichts folgern ließe. Wenn ich jedoch von vornherein mit diesen Aussagen eine bestimmte vorgefasste These belegen will, dann darf ich auf keinen Fall am Wahrheitsgehalt der Sätze zweifeln. Kann aber ein auch nur irgend ernst zu nehmender Goethe-Forscher davon absehen, dass der Vernichtungswüterich, der bis in seine eigene Familie hinein aussagekräftiges Dokumentarmaterial einer Nachwelt per Feuer entzog, nicht gerade mit dem, was er bestehen ließ, eine höchst genau fixierte und beschreibbare Absicht verfolgte? Kann die der Forschung schon lange vertraute und selbstverständliche Wandlung des Schillerbildes bei Goethe, das in eine beinahe religiöse Verehrung mündete beim Greis in Weimar, einfach ausgeklammert werden? Kann aus dem Umstand, dass Goethe Zeit seines Lebens Personen, die er auch einmal „liebte“, achtlos hinter sich ließ, ausnutzte und dann vergaß, naht- und bruchlos eine vollkommen andere, eine vollkommen selbstlose, ja das eigene Ich komplett aufopfernde Liebe ausgerechnet zu Schiller konstruiert werden, den er nach seiner Rückkehr aus Italien ja fast als Inbegriff der feindlich-nördlichen Welt sah? Und das ausschließlich aus Dichtungen, mit denen sich alles und nichts beweisen lässt? Katharina Mommsens Ansatz ist extrem fragwürdig. Ihre Belege tragen selten bis kaum, so interessant sie bei dem einen oder anderen Gedicht interpretierend auch sein mögen.
Warum, eine der möglichen Grundfragen, sollte der innerhalb einer vorübergehend und probehalber einmal angenommenen homosexuellen Beziehung sicher den weiblichen Teil haltende Goethe den männlichen Schiller permanent in Frauenrolle verkörpert haben? Warum sollte niemand jemals auch nur eine Nanospur davon bemerkt haben, wo doch andererseits Goethe selbst angeblich in seiner Angst vor dem Verbot der Winckelmann-Schrift eine hohe Sensibilität dem gegenüber nicht nur bei der Zensur, sondern auch beim normalen Publikum voraussetzte? Dass Goethe, der viele Jahre regelmäßig die Flucht ergriff, sobald es mit einer tatsächlichen Frau ernst zu werden drohte, ausgerechnet eine fiktive Frau Schiller mit dem Vornamen Friedrich so sehr lieben sollte, dass er alles zu opfern bereit war? Sollte man solche Gefühlslagen nicht wenigstens psychologisch ein wenig wahrscheinlich machen? Meine Bleistift-Anmerkungen im Buch reichen für eine ganze Broschüre.
Immer wieder wirft Katharina Mommsen der Forschung, sie meint stets: den anderen Deutern, vor, diese hätten einfache Dinge nicht gesehen. Immer wieder behauptet sie aber auch, dass bestimmte Signale und Zeichen nur von Goethe und Schiller selbst hätten verstanden werden können. Woher weiß ausgerechnet sie davon? Ist sie die Dritte im Bunde? Warum behandelt sie beispielsweise Christiane Vulpius so unendlich verächtlich und reproduziert auf solche Weise wohl absichtlich die uralten Vorurteile der Weimarschen Hofdamenschaft, die für sich einfach annehmen wollte, Goethe hätte mindestens eine von ihnen, eine wie sie selbst verdient? Und nicht diese dralle Kunstblumenbinderin, die wohl genau wusste, wohin sie greifen musste, um den Geheimrat zum Quietschen zu bringen. Sie sagte, wenn ihr danach war und nannte es „schlampampsen“. Exakt das war es, was Goethe brauchte und nicht ewig die brieflichen Kunstblumen seiner sonstigen Beziehungen. Und da sollte der hustende und schwäbelnde, nach Tabak riechende und verheiratete Friedrich Schiller das eigentliche, das verborgene Sehnsuchtsziel gewesen sein für eine, ja was denn nun, platonische Liebe über den Tod hinaus bis in die volle Ewigkeit?
Wenn aber, und das meint wohl die Seite 211 im Tiefsten, Schiller letztlich psychisch, physisch und selbst in seinem Werk der letzten zehn Jahre genau besehen ohne Goethe kaum etwas gewesen und geworden wäre - Goethe verteilte laut Mommsen großzügig seine Themen, als hätte es damals ein Themen-Urheberrecht gegeben, wo doch sogar Theater alles spielen konnten, was einmal gedruckt vorlag, ohne den Autor zu fragen oder ihm gar Tantiemen zahlen zu müssen - dann wäre das eine völlig andere Aussage. Katharina Mommsens Vorabannahme, je geheimnisvoller die Stelle bei Goethe und Schiller, um so sicherer enthalte sie eine geheime Liebesbotschaft der beiden aneinander, ist, nüchtern betrachtet, lächerlich und keiner wirklichen Debatte wert.
Was bleibt, sind viele Details zu Goethe- und Schiller-Texten, die ihre enormen Kenntnisse und bisweilen überraschende Hellsichtigkeit vollkommen unabhängig von der vagen Hauptthese belegen. Das hatte sie freilich nicht mehr nötig. Manchmal hat sie auch pro domo gesprochen, so zu Schillers „Ästhetischen Briefen“, wo „mit ermüdend komplizierter Darstellung hingewiesen wird auf allergrößte Schwierigkeiten, die der endgültigen Erreichung des Ziels entgegenstehen.“ In der Tat. Das prägnante Argumentieren auf einen Punkt hin ist nicht ihre Hauptfähigkeit, sie scheint sich selbst permanent, vor allem aber ihren Lesern, denen noch mehr, zu misstrauen. Haben die nicht vielleicht doch schon vergessen, was auf der Vorseite stand? Ich schreibe es sicherheitshalber noch einmal hin. Und bisweilen liegt sie einfach aus offenbar mangelnder Fachkenntnis daneben. Denn Kometen, als Beispiel, sind eben keine Sonnenkörper, und ein Vergleich mit ihnen, selbst wenn sie es wären, wäre aus Goethes Mund ein vergiftetes Lob. Das aber passte zu keinerlei Liebe, schon gar nicht zu der angeblichen Goethes zu Schiller.
* siehe auch: Katharina Mommens Einleitung, hier unter: Mein Goethe