Wolf Biermann: Alle Lieder

Der Kerl wird in diesem Jahr 75. Schwer vorstellbar? Man muss sich nur mal Keith Richards angucken oder Mick, den Jagger, wenn Martin Scorsese die Kamera auf sie richten lässt. Die haben noch ein Stück bis 75. Also, gebont. „Alle Lieder“ ist ein Buch, das ich nicht lese, eines der ganz wenigen Bücher, die ich sehr mag und nicht lese. Es ist ein Blätterbuch. Es ist eines von den Blätterbüchern, in denen man ganz schnell dorthin kommt, wohin man will: den Kopf in den Nacken, die Erinnerungen frei. Notfalls lässt sich, unterstützend, eine CD einlegen, die seinerzeit 2001, sieben auf einen Streich nach dem Vorbild des tapferen Schneiderlein, auf den Binnenmarkt warf. 2001 in der Berliner Kantstraße, heute lebt meine Tochter da, mein Gott, als ich nach Maueröffnung dort erstmals auflief, da gab es noch Platten vor allem und seltsame Sex-Foto-Bücher und Biermann hatte Sascha Anderson noch nicht Arschloch genannt.

Auf meinen Büchern zu Hause lag quer ein knittriges Schwarz-Weiß-Foto von Biermann, Geschenk der eben ausreisenden Bettina Hindemith von 1977, es hatte ihre Wand geziert. Erinnerung an eine Straßenbahn in Schwerin, da sang einer aus Jena, es war 1974, von Francois, dem Friedensclown. Später auf der Bühne des Poetenseminars, sang er noch mal und Heinz Kahlau, der Dichter, stürzte in seiner Latzhose nach vorn und riss den Mann herab, der da sang. In „Alle Lieder“ finde ich den Text auf S. 156/57. Biermann, deine „Drahtharfe“ habe ich mit klecksendem Kugelschreiber Seite für Seite auf kleinkariertes DDR-Papier abgeschrieben, ein später im Geschäftsfeld Lyrik agierender Bekannter aus Dresden sandte bisweilen, maschinegetippt, frische Texte. Auch von dem anderen, dem Kunze, dem Biermann natürlich ein Lied gewidmet hat. Blättern: „Genosse Julian Grimau“ (S. 89) aus dem Jahre 1963, frühe Erinnerung: ein Schlagzeilenereignis, Hinrichtung eines Kommunisten im Franco-Spanien, davor noch Lumumba, davor nach Algerien-Krieg, was einem so einfällt, der 17 Jahre jünger ist als dieser Biermann. Später, gebe ich zu, hat er mich weniger und weniger interessiert, ich habe fast nur noch auf seinen Erzählton gelauscht, wenn er vor einem Mikrophon saß, auf diese unfassbare Mischung aus Eitelkeit, Selbstironie und Oberlehrer. Den Ton hatte er schon in Köln 1976, als er vier Stunden seine Ausbürgerung herbeisang, ohne es, nehmen wir mal freundlich an, so zu wollen. Ich sah das Konzert in der Wilhelm-Pieck-Straße, die heute Torstraße heißt.

Mich irritiert der Gedanke, dass Margot Honecker, ausgerechnet Margot, es war, die vielleicht viel mehr Hand über ihm hatte, als allen Legenden-Liebhabern lieb wäre. Während jeder Kleindarsteller der DDR-Weltgeschichte seine Stasi-Akten öffentlich machte, hat Biermann sie nur gelesen. Das weckt mir mehr Verdacht als alle Gen-Soja-Bohnen zusammen. „Alle Lieder“ aber stehen griffnah an meinem Schreibplatz, ich muss den Hintern nur ganz wenig aus dem Drehstuhl heben. Und weiß, dass in Ilmenau einer wohnt, der schöne alte Biermann-Geschichten erzählen könnte, wenn er es wollte. Er war Biermanns Parteigruppen-Sekretär, als beide gemeinsam Philosophie studierten bei Humboldts zu Berlin.


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