Hans Löwe: Sänger und Held

Mit einem Geständnis muss ich beginnen: Es ist mir höchst zuwider, nicht das Geringste von einem Autor zu wissen, über dessen Buch ich schreiben will. Wohl geht es hier eigentlich nur um den heute vor 200 Jahren gefallenen Barden Theodor Körner, aber eben über das Vehikel des schmalen Bändchens, welches in meinem Geburtsjahr 1953 im DDR-Verlag der Nation erschien als Nummer 3 einer Reihe, die den heute undenkbaren Titel führte: Kleine Nationale Bücherei. Allein die Ankündigung einer solchen Reihe würde jetzt neben den schlafenden sogar die toten Hunde wecken, wehret den Anfängen, heißt der Marschbefehl, am Ende steht Beate Zschäpe. Hans Löwe ist - der einzig sichere Hinweis, den ich auf einem uralten Plakat des Kulturbundes fand, betrifft eine Lesung mit ihm - ein Leipziger Schriftsteller gewesen. Ein Verzeichnis der Mitglieder des Leipziger Schriftstellerverbandes, dessen Manuskript im April 1982 abgeschlossen wurde, nennt den Namen weder unter den toten noch unter den lebenden Autoren. Ich las von Löwe neben „Sänger und Held“ noch die Bände „Soldat seines Volkes“ und „Der Rattenfänger von Helmerode“, das eine erzählte von Ferdinand von Schill, das andere aus der Zeit der Kinderkreuzzüge.

Sollte jener Hans Löwe meiner Kinderjahre identisch sein mit jenem Hans Löwe, der in späteren Jahren „Leben ist Lernen“ verfasste oder „Probleme des Leistungsversagens in der Schule“ oder „Einführung in die Lernpsychologie des Erwachsenenalters“, dann wäre er einer der seltenen Fälle, die ihren Schöngeist der puren Wissenschaft opferten, wenngleich im halbwegs vertrauten pädagogischen Umfeld. Freilich schreibt ein weiterer Hans Löwe auch über Pferdezucht und ist Professor, der steht jedoch kaum unter Verdacht, in frühen Jahren das DDR-Bild der heroischen antinapoleonischen Befreiungskriege aktiv mitgeprägt zu haben, er müsste es denn in seiner Vita verschwiegen haben. Wer im alten Westen aber verschwieg schon etwas aus seiner Biographie, das wäre eine originäre Forschungsaufgabe für Karl Corino, falls der noch forschen möchte, wo er doch schon geforscht hat.

Hans Löwe also hat über Theodor Körner geschrieben. Er ist damit einer von vier DDR-Autoren, die sich berufen fühlten, den „lärmenden Kraftmeier der Befreiungskriege“ (Günter Kunert), den „Rapper der Romantik“ (Frank Pergande) zur literarischen Figur zu machen. Die anderen waren Claus Back, Walter Püschel und, zwanzig Jahre später, Ulrich Völkel. Gemessen an der literarischen Qualität dessen, was Körner in der kurzen Zeit seines Lebens verfasste, ist das ein mehr als verblüffendes Interesse. Denn es gibt niemanden, der je dadurch auffiel, dem dramatischen oder dem lyrischen Schaffen auch nur in einzelnen Fällen erwähnenswerte Qualität nachgesagt zu haben. Die im DDR-Verlag Volk und Wissen herausgegebene Buchreihe „Erläuterungen“, die der Literatur der Befreiungskriege einen eigenen, wenn auch vergleichsweise schmalen, Band widmete, vermeidet es auf fast kuriose Art, überhaupt von den Werken Körners zu reden, sie hält sich an das vermeintliche oder tatsächliche Heldenleben des Lützowers, der noch nicht 22 war, als er starb.

Joseph von Eichendorff gönnt in seiner „Geschichte der poetischen Literatur Deutschlands“ dem mit Körner verglichen vollkommen unbekannten Max von Schenkendorf fast zehn Seiten, auf denen der Name Körner immerhin einmal fällt, sonst nie im durchaus umfänglichen Band und das, obwohl (oder vielleicht auch, weil?) Eichendorff Theodor Körner 1813 in Wien persönlich kennenlernte. Für Eichendorff war Schenkendorf „der eigentliche Sänger dieses Kampfes, tiefer und wahrer als Körner“. In Wöbbelin, wo Körner begraben ist, veranstalten Mahn- und Gedenkstätten seit dem 23. August ein dichtes Jubiläumsprogramm, das von einer Fachtagung bis zu allerlei mit Blasmusik und Schulkindern reicht. Es steht zu vermuten, dass alles mit Blasmusik Körner am nächsten kommt. Körner wurde Gegenstand einer kaum vorstellbaren Verherrlichung, kaum dass ihn die tödliche Kugel getroffen hatte. Und fast ebenso schnell verursachte er bei anderen das Phänomen des Fremdschämens. Das wäre ein verlockendes Thema, kann hier jedoch bestenfalls angedeutet werden.

Was aber steht in Hans Löwes Buch? Da bekommt der Leser zunächst einen jungen Mann vorgeführt, wie er heute landauf, landab in wenig variabler Ausprägung die regionalen Amtsgerichte beschäftigt. Er hat sich ein jugendliches Feindbild erarbeitet, es sind die adligen Studenten bei Körner, und anhand dieses Feindbildes sucht er Händel, provoziert er, bis die Gewalt, die er heraufbeschwören will, tatsächlich eintritt. Es darf durchaus Blut fließen, denn in der Weltanschauung dieses wie ähnlicher bis heute agierender Jungmänner ist eben Gewalt gegen den Feind keine kriminelle, sondern eine gute Tat. Die aktualpolitischen Explikationen seien hier ausgeklammert. Für die junge DDR wäre ein solches Vorbild des politischen Rowdytums wohl dennoch kaum tragbar gewesen und so nimmt Löwe, der streng genommen gar nicht erzählt, sondern eine lose Szenenfolge mit Beschreibungen vorträgt, sprachlich-stilistisch anfechtbar und bisweilen sogar ins unfreiwillig Komische driftend, einen radikalen Persönlichkeitswandel an. Ausgelöst durch die Begegnung mit jungen Leuten in Wien, die sich mit Andreas Hofer in Tirol solidarisieren oder sogar an seiner Seite kämpften. Der blutjunge und eben noch nach heutigen Maßstäben nicht nach Erwachsenenstrafrecht zu behandelnde Windhund Körner mutiert quasi im Absatzumdrehen zu einem reifen Mann, der fast im selben Atemzug zum politischen Agitator wird.

Was aber macht man acht Jahre nach dem Krieg mit Texten, die Gewalt und Krieg verherrlichen in einer weithin unerträglichen Metaphorik, die pathetisch und epigonal sind, wenngleich sie vor allem in Vertonungen von Carl Maria von Weber, der sich den posthum 1814 von Körners Vater herausgegebenen Sammelband „Leyer und Schwerdt“ vornahm, breite Volkstümlichkeit erreichten? Hans Löwe hatte eine rettende und gar nicht so schlechte Idee. Er legte seinem Körner kurz vor dessen Tod eine souveräne Einsicht in alle eigenen Schwächen bei, die es erlaubte, dass Körner selbst alles, was er bisher schrieb, verwerfen konnte. „Stammen sie von ihm, diese oberflächlichen Komödien für die vergnügungssüchtigen Wiener Theaterbesucher? Oder gar jene bombastisch-schwülstige Schauerdramatik, fern von allem realen Erleben? ... Plötzlich erkennt er die Schwäche des eigenen Dichtens: Wie wenig davon ist wert, auf die Nachwelt zu kommen!“ So lässt Hans Löwe seinen Theodor Körner denken und hat auf diese Weise fast zwanglos das tatsächliche Urteil der Literaturgeschichte über Körner integriert.

Keine zehn Jahre nach Körners frühem Tod schrieb ein ebenfalls noch sehr jungen Düsseldorfer seine „Briefe aus Berlin“. Im dritten teilt er seine Lesern mit: „Sie sehen, Theodor Körners Gedichte werden immer noch gesungen. Freilich nicht in den Kreisen des guten Geschmacks, wo man es sich schon laut gestanden: daß es ein besonderes Glück war, daß Anno 1814 die Franzosen kein Deutsch verstanden, und nicht lesen konnten jene faden, schalen, flachen, poesielosen Verse, die uns gute Deutsche so sehr enthusiasmierten.“ 1913, als der hunderste Todestag Körners noch einmal landauf, landab in Dienst genommen werden konnte für den irgendwie herbeigesehnten, immer näher rückenden Krieg, kommentierte Hermann Hesse seltsam ambivalent eine eben erschienene Faksimile-Ausgabe der Körner-Verse. Er konnte sein Kritikvermögen nicht ausschalten, zugleich aber stand er offenbar unter dem Einfluss eigener Kindheitserinnerungen.

„Man liest die alten Schillerisch schwungvollen Verse wieder, die uns in Knabenzeiten erhitzt haben und wenn nun auch manches durchsichtig und mager erscheint, was uns damals voll und schwellend ansprach, so findet man das Ganze doch wieder echt und als Ausdruck jener Tage schlechthin typisch.“ So Hesse. Und wenn man in die Dokumente seiner Knabenzeit schaut, um das ebentuell nachvollziehen zu können, stößt man auf einen Brief an die Eltern vom 8. November 1891 und dort heißt es: „Ich treibe in der Freizeit allerlei und neben Homer, Ovid, Lykurgsche Gesetze, Livius und Xenophon ist auch auf meinem dunklen Pult David Copperfield, Körner, Schiller etc zu sehen. Wir lesen natürlich nur solche Lektüre, die vom Ephorat erlaubt und anempfohlen wird.“ Zur vollen und schwellenden Ansprache finden sich keinerlei Belege, dafür ist der Satz von der erlaubten Lektüre natürlich ein köstliches Fundstück.

Heinrich Heine, er ist der Verfasser der genannten „Briefe aus Berlin“ von 1822, hat Körner immer parat gehabt, wenn es galt, sich über seine Art des Dichtens lustig zu machen, es gibt aus den Zeitgedichten „Der Tambourmajor“, es gibt Passagen im „Atta Troll“ und auch in „Deutschland. Ein Wintermärchen“ und es gibt die in jedes Lesebuch gehörende Unterscheidung zwischen deutschem und französischem Patriotismus in „Die romantische Schule“: „Der Patriotismus des Franzosen besteht darin, daß sein Herz erwärmt wird, durch diese Wärme sich ausdehnt, sich erweitert, daß es nicht mehr bloß die nächsten Angehörigen, sondern ganz Frankreich, das ganze Land der Zivilisation, mit seiner Liebe umfaßt; der Patriotismus des Deutschen hingegen besteht darin, daß sein Herz enger wird, daß es sich zusammenzieht wie Leder in der Kälte, daß er das Fremdländische haßt, daß er nicht mehr Weltbürger, nicht mehr Europäer, sondern nur ein enger Deutscher sein will.“ Und eine Geschichtslektion, die nichts an Aktualität eingebüßt hat: „Als Gott, der Schnee und die Kosaken die besten Kräfte des Napoleon zerstört hatten, erhielten wir Deutsche den allerhöchsten Befehl uns vom fremden Joche zu befreien und wir loderten auf in männlichem Zorn ob der allzulange ertragenen Knechtschaft und wir begeisterten uns durch die guten Melodien und schlechten Verse der Körnerschen Lieder, und wir erkämpften die Freiheit; denn wir tun alles, was uns von unseren Fürsten befohlen wird.“

Hans Löwe hatte neben dem guten Einfall mit der späten Einsicht Körners auch einen schlechten. Er erfindet eine nicht näher charakterisierte Begegnung des 14 Jahre alten Theodor Körner mit Heinrich von Kleist. Und knüpft daran folgende Reflexionen des todesnahen, von der tatsächlichen Nähe seines Todes freilich nichts ahnenden Körner: „Er sieht ihn wieder vor sich, den schlanken Jüngling mit dem wilden, fordernden Blick, mit der schnellen gehetzten Sprache – Heinrich von Kleist. Wie kommt es, daß er sich diesem nur fünfzehn Jahre Älteren nicht erschloß? Jetzt, da es zu spät ist, da jener Verzweifelnde sein Leben allzu früh selber geendet hat, jetzt erst erkennt er die zwingende Kraft, die dieser Mensch in seinem unbändigen Fordern, in seinem zähen Willen zum Unbedingten bewährt hat. Warum konnte er das nicht schon damals erkennen?“ Zieht man von 1813 (Körner 22) acht Jahre ab (Körner 14), dann muss die Begegnung ins Jahr 1805 gefallen sein. Wer war zu diesem Zeitpunkt Heinrich von Kleist? Ein so vollkommen Unbekannter, dass ein Vierzehnjähriger nicht nur nichts von ihm wissen konnte, es wäre auch undenkbar gewesen, sich dem doppelt so alten „Schroffenstein“-Autor, wie auch immer, zu offenbaren.

Während der Name Kleist in einen dezidiert unsinnigen Zusammenhang gebracht wird von Hans Löwe, fehlen die Namen Schiller und Goethe ganz. Der informierte Leser weiß, dass Körners Vater jener Retter aus der Not war, den Schiller 1785 brauchte, gemeinsam mit den Schwestern Stock und mit Huber. Der informierte Leser weiß auch, dass Goethe in Vater Körners Haus einkehrte, wenn er in Dresden Gelegenheit dazu hatte. Nicht ganz so bekannt ist, dass Goethe 1813 in Böhmen den nach seiner Verwundung kurenden Theodor Körner traf, der ihm offenbar Gedichte vortrug, mit denen er Goethes Geduld über alles Maß strapazierte. Dennoch hat Goethe Körner-Stücke an seinem Theater spielen lassen, was offenbar einer großen Zahl von Goethe-Autoren so peinlich schien, dass sie nicht einmal das Faktum erwähnen. Weder der Alt-Nazi Hans Knudsen noch der Sänger Dietrich Fischer- Dieskau haben in ihren natürlich vollkommen unterschiedlichen und unterschiedlich intendierten Darstellungen von Goethes Theater-Intendanz Körner nur namentlich ein einziges Mal erwähnt. Auch dicke Goethe-Bücher allgemeineren Charakters verschweigen Körner Junior in Goethes Leben.

Mit Versen wie „Du sollst den Stahl in Feindesherzen tauchen“ oder „Das höchste Heil, das letzte, liegt im Schwerte!“ hat einer sich nicht viel Anwartschaft auf Nachleben heute erworben. „Soll uns der Sumpf vermodern?// Was gilt da Weltenbrand?“ ist in seiner unfassbaren Gedankenlosigkeit kaum zu übertreffen. Hans Löwe hat diese Zeilen zitiert, die, wie Hesse natürlich richtigerweise sagt, zeittypisch waren. Wer das gelten lassen möchte, weil es zeittypisch war, müsste auch zeittypischen Antisemitismus gelten lassen. Die DDR hatte kein Problem mit dem Namen Ernst Moritz Arndt für die Greifswalder Universität. Was aber ist mit einem Satz wie diesem, den Löwe seinem Körner in den Mund legte: „Empört es euch nicht, Fremde in eurem Lande befehlen zu hören, die hierherkamen, obgleich niemand sie rief?“ Sollte das vollkommen ohne jeden Hintersinn geschrieben sein in einem jungen Staat, in dem jedermann wusste, wer befahl, ohne gerufen worden zu sein? Da wäre ich wieder an der Stelle, warum ich gern wissen würde, wer Hans Löwe war.

In Ilmenau, wo ich seit fast 35 Jahren lebe, gibt es seit genau einhundert Jahren eine Theodor-Körner-Straße. Zwei Tage nach dem hundertsten Todestag Körners fasste der Stadtrat Ilmenau den entsprechenden Beschluss. Das war an Goethes 164. Geburtstag, am 28. August 1913. Ob die Ratsmitglieder seinerzeit wussten, dass Goethe selbst genau hundert Jahre vorher zum dritten Male in Ilmenau Geburtstag gefeiert hatte, soll zu ihren Gunsten angenommen werden. Bezüge zwischen ihm und Körner kannten sie vermutlich eher nicht. In einem längeren Gespräch mit Friedrich Soret am 14. März 1830 hat der alte Goethe sich selbst in Beziehung zu Körner gesetzt: „Kriegslieder schreiben und im Zimmer sitzen – das wäre meine Art gewesen! Aus dem Bivouac heraus, wo man nachts die Pferde der feindlichen Vorposten wiehern hört, da hätte ich es mir gefallen lassen. Aber das war nicht mein Leben und nicht meine Sache, sondern die von Theodor Körner. Ihn kleiden seine Kriegslieder auch ganz vollkommen. Bei mir aber, der ich keine kriegerische Natur bin und keinen kriegerischen Sinn habe, würden Kriegslieder eine Maske gewesen sein, die mir sehr schlecht zu Gesicht gestanden hätte.“ So viel zum Schluss.


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