Otto Flake: Angst um Lily
Hätte Otto Flake in der deutschen Literaturgeschichte nicht mehr vollbracht, als das Geheimnis des Pseudonyms Emil Sinclair aufzudecken, hinter dem sich bekanntlich, wie jedes hundertmillionste Kind weiß, Hermann Hesse verbarg, Eduard Korrodi trat es in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG vom 24. Juni 1920 endgültig breit, dann wäre Flake kaum wesentlich unbekannter als er es so ist mit seinen rund hundert Büchern und den zyklischen Versuchen, ihm endlich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Natürlich hat auch der gestrige 50. Todestag Flakes keine Änderung in die Lage gebracht. Die Abfolge der historischen Lagen und Zeitgeister, in die Flake einfach nicht passen will, ist mittlerweile so lang, dass es komische Wirkungen erzielt, die Stimmen jener, die dagegen anstritten, als weitgehend oder völlig wirkungslos gebliebene zu versammeln und zu zitieren. Inzwischen gibt es auch Ehrenrettungen, die besser unterblieben wären, weil sie das Niveau des bereits Vorliegenden allzu auffällig unterschreiten. Ich nenne Armin Strohmeyr, der Otto Flake in sein ganz sicher in bester Absicht zusammengestelltes Buch „Verlorene Generation“ (Atrium Verlag Zürich) aufnahm, das Lebensgeschichten von dreißig vergessenen Autorinnen und Autoren erzählen will und dies im Fall Flake auf seltsam gymnasiastenhafte Weise tut. Ich rede nicht vom Dadaisten Hans Ball, den Flake in Zürich getroffen haben soll, der natürlich Hugo Ball war. „Demian“- Autor Hesse hat übrigens Flake dessen Enthüllung nie erkennbar übel genommen
Eine heutige Behandlung des 1880 im lothringischen Metz geborenen Otto Flake, er starb am 10. November 1963 in Baden-Baden, müsste beherzt auf Rolf Hochhuth zurückgreifen, der gemeinsam mit Peter Härtling, sein 80. Geburtstag ist am 13. November zu feiern, einen der etlichen letztlich vergeblichen Versuche unternahm, Flakes Namen dauerhaft unter den ganz Großen des deutschen Sprachraums im zwanzigsten Jahrhundert zu etablieren. Ich kenne keine genussvollere Lektüre über Flake als das aufgeregte und eben deshalb aufregende Nachwort, welches Hochhuth für den fünften Band seiner Werkesammlung Flakes verfasste. Die zwanzig Seiten am Ende von „Freiheitsbaum und Guillotine“ sind eine Perle von Polemik vor allem gegen den offenbar vollkommen ahnungslosen, aber wie oft in solchen Fällen um so dreister Blödsinn schreibenden Kritiker H. A. Walter, dem der verantwortliche Redakteur Rudolf Hartung ausgerechnet in der NEUEN RUNDSCHAU Platz einräumte, in der Otto Flake oft selbst Autor war. Hochhuth, von Flake zum Nachlassverwalter bestimmt, lief zu Hochform auf und überließ dennoch Stefan Zweig das letzte Wort mit dessen Behauptung über Flake: „... er beweist heute den Deutschen, denen Dichtung fast immer eines ist mit Dämmerung, daß Kunst auch Klugheit sein kann und Klugheit eine Kraft.“
Einer heutige Behandlung Flakes, die sich Zeit nehmen müsste, sehr viel Zeit angesichts des wahrlich gigantischen Werkes, könnte sich erfolgversprechend im Titel ihr Ziel vorgeben: „Otto Flakes Vorbildlichkeit“ könnte vornan stehen oder eben, Zweig aufgreifend, „Otto Flakes Klugheiten“. Wer sich auch nur ein wenig mit dem befasst, was über Flake geschrieben steht, stößt unweigerlich immer auf Attribute der Kühle, des Lakonismus und seltsam, nie ist das reinen Herzens positiv gemeint. Deshalb will ich für meinen Teil bekennen, dass mir ein angeblich unterkühlter Mann wie dieser schon vorab sympathischer ist als jeder lauwarme oder ein überhitzter, beide ja leicht denkbar als Alternativen, falls die Unterkühlungsdiagnostiker denn bei ihrer Wortwahl überhaupt mitdenken, dass Wortwahl immer auch, spätestens Spinoza wusste das, Negation ist. Rolf Hochhuth jedenfalls hat trotz polemischer Innenhitze mit gnadenloser Klarheit gesehen und gesagt, wie brutal linke Totschlagargumente Wirkungstreffer setzten: „Unbegreiflich, wie sich überhaupt in dogmen-benebelten Köpfen der Wahn festsetzen konnte, ob einer ein Bürger sei und eine Persönlichkeit, das hänge ab von der Klasse, der er angehört!“
Man wird Hochhuth sicher nicht zu nahe treten, wenn man annimmt, dass er wie alle seines Metiers in allen vergleichbaren Fällen pro domo spricht, dass er, wenn er Otto Flake in Schutz nimmt, sich selbst verteidigt, doch das wäre ein anderes Thema. Hier soll es eigentlich nur um den Bruchteil eines Bruchteils im ungehobenen Riesenschatz Otto Flake gehen, von dem, es sei nicht vergessen, die DDR immerhin vier Bücher veröffentlichte im Buchverlag Der Morgen Berlin und das, was Ernst-Otto Luthardt in zweien davon als Nachbemerkungen zu Papier brachte, spricht noch heute durchaus für Luthardt, entlastet ihn freilich nicht dort, wo er einer inoffiziellen Nebentätigkeit frönte, von der vor Jahren in der Jenaer Vierteljahresschrift GERBERGASSE 18 zu lesen war. Hier soll es um die Erzählung „Angst um Lily“ gehen aus dem Jahr 1930, in der neben der genannten Lily ein Werkstudent Erwin und ein dubioser Mann namens Pokorny eine Rolle spielen. Lily heißt Türckheim und stellt damit eine Assoziation zu Goethes Lili Schönemann her voller Absicht. Einen autobiographischen Hintergrund hat Otto Flake selbst in „Es wird Abend“ geschildert.
In dieser umfänglichen Autobiographie heißt es: „Das Jahr schloß mit 17700 Mark Einnahme ab. Im neuen Jahr 1930 kam nur der Essay über Sade auf den Markt. Eine Nebeneinnahme fiel mir zu, als ich darauf einging, ein fremdes Manuskript lesbar und druckfertig zu machen. Ein Geschäftsmann, der vermutlich ein Geschäftemacher war, hatte eine Villa gemietet, eine Schar von Angestellten hineingesetzt und einen mir undurchsichtigen Großbetrieb begonnen – ein weitgereister Mann, der aus Osteuropa in die Staaten gegangen und aus den Staaten zurückgekehrt war, ein Selfmademan, der die fehlende Bildung durch Erfahrungen und einen brutalen Willen zur Geltung ersetzte. Auf seinen Reisen hatte er in zahllosen Hotels das von ihnen gelieferte Papier mit Einfällen, Beobachtungen, Aphorismen bedeckt. Ich sollte das alles nun ordnen. Nachträglich vermutete ich, daß er sich auf diese Weise an Kamilla heranmachen wollte. Ein Paar Wochen lang also begab ich mich nachmittags zu ihm, sichtete, strich und renkte ein. Die Maschinenschreiberinnen nahmen mir jedes Blatt unter der Hand fort; ob das Opus gedruckt wurde, weiß ich nicht. Figur und Milieu dieses Halbgentlemans regten mich zur Erzählung „Angst um Lily“ an.“
Kamilla ist auf ein Inserat Flakes hin nach Baden-Baden gekommen, die Autobiographie zu ihr: „Fräulein Kamilla war fünfundzwanzig und gesellschaftlich gewandt, worauf ich bei meinen vielen Besuchern und Teegästen Wert legte. Ich hatte ihr freigestellt, außerhalb des Hauses zu wohnen, sie fand die Ausgabe überflüssig, da ein Zimmer bei mir leerstand.“ Ihre Geschichte, entnehme ich der diesbezüglichen Literatur, ist in den Roman „Die Töchter Noras“ eingegangen, der 1934 zuerst erschien und 1948 neu unter dem Titel „Kamilla“ aufgelegt wurde. In „Angst um Lily“ aber spielt sie eine erste Probe-Rolle. Dort gehört sie zu den Angestellten einer Kopfzeitung, die vor allem Anzeigen entgegen nimmt. In dieser Tätigkeit lernt sie auch Erwin kennen, der mit Arbeit als Lokalredakteur sein Studium zu finanzieren gedenkt und als solcher auch auf den Mann trifft, der in der Erzählung Pokorny heißt. Erwin macht für diesen Pokorny exakt genau das, was Otto Flake in Baden-Baden tat, freilich keineswegs als Werkstudent, sondern als Mann von fast fünfzig Jahren. Distanzierte er sich erzählerisch von seiner eigenen Tätigkeit, die er wohl, als Autor von schon einer ganz erheblichen Reihe von Büchern, als nicht nur leicht unter seiner Würde empfinden musste? Machte er sich, sein alter Ego, deshalb so auffallend deutlich jünger?
Beschrieben ist, wie der Mann Pokorny den Privatsekretär Erwin abstößt und anzieht zugleich, wie der Jüngere die seltsam unwiderstehliche Macht der anderen empfindet und sich ihr teilweise auch ausliefert. Die Freundschaft zwischen Erwin und Lily wird von Erwin plötzlich als Liebe empfunden, die Art des Umgangs von Pokorny mit Lily, der keineswegs so ungebildet ist, beim Namen Lily Türckheim nicht zu wissen, was der bedeutet, macht Erwin die titelgebende Angst. Die Geschichte endet untragisch, ohne alle auch nur angedeutete Melodramatik, die so leicht denkbar wäre, hieße der Autor eben nicht Otto Flake. Lily fällt vollkommen heutig dem Sparkurs des Zeitungshauses zum Opfer, Erwin wird als Privatsekretär nicht mehr benötigt und kann mit neuer Energie sein Studium fortsetzen. Die effektfrei mitgeteilte Pointe: Lily tritt die Stelle als Nachfolgerin von Erwin an, Lily tritt in eine auch private Beziehung zu Pokorny, vollkommen souverän, ohne Selbstmitleid, ohne Trauer um Vergangenes. Lakonisch heißt es gegen Ende: „Die Frage nach der richtigen Wahl stellt sich stets von neuem, und keine falsche Antwort schadet ihr jemals.“ Dieser Ton ist es, wenn man den bemühten Erklärern folgen will, der die deutsche Leserseele verfehlt. Darüber hinaus, übergreifend gesehen, scheint es Vorlieben zu geben, die sogar gegensätzliche Zeiten überdauern und von Flake ebenfalls nicht bedient werden: Ihn interessiert nicht, wie Menschen scheitern, sondern wie so trotz allem bestehen, manchmal nur überstehen.
Von da gesehen, wo derzeit jede zweite Feuilletonüberschrift über dicke Romane, große Theaterinszenierungen und ambitionierte Kinofilme vom grandiosen Scheitern redet, liegt Otto Flake schon wieder falsch, ausgerechnet aus seiner Teilheimat Frankreich hat eine ganze beredte Philosophie des Scheiterns den Mainstream des Zeitgeistes tiefwirkend unterwandert. Aber es gibt noch andere Gründe dafür, dass nicht einmal kurzzeitige Millionenverkäufe seiner Bücher wie Ende der fünfziger Jahre mit der Übernahme ins Bertelsmann-Programm ihn dauerhaft etablierten. Es war ja nicht „sein“ Publikum der Zeit vor 1933, das er plötzlich in Massen wieder hatte, es war das Ringpublikum, dessen Käufe letztlich nur für den Verlag wirklich etwas brachten und dem Autor natürlich Einkommen. Es ehrt die damaligen Programmmacher, wenn sie Anspruchsvolles aufnahmen, verwandelte den marktfixierten Bestseller-Fan aber niemals in einen Literaturfreund oder gar Kenner. Carl Einstein im Buchclub, um es sinnbildlich zu sagen, geht nicht auf, er wird an überraschte Verwandte verschenkt, wenn ein Weihnachtsgeschenk fällig wird und das Buch sich anbietet, weil man es dann los ist. Die Bitterkeit, die Otto Flake in seinen späten Lebensjahren immer wieder einmal in Worte fasste, ist mehr als erklärlich. Er war den Faulpelzen zu fleißig, den Dünnbrettbohrern zu vielseitig, den Spontaneitätskaspern zu rational, er war allen, die ihre kreischende Unbildung durch das Feindbild Bildungsbürger beschützen, ein dauernder Dorn im Auge. Da gibt es wenig Hoffnung für Otto Flake.
Wie auch sollen Stimmen von Kurt Tucholsky und Stefan Zweig, von Siegfried Kracauer und Carl von Ossietzky, von Max Rychner und Hermann Hesse, wie auch sollen solche Autoritäten Wirkung erzielen, da Autorität als solche suspekt ist, bis ihre Gegner den Rollator in Richtung postmortales Endlager verlassen haben, dem Wurm oder der Flamme anheim gegeben? Die Abfolge der gut begründeten Argumentationen, dass Otto Flake endlich und wieder einmal endlich und noch einmal endlich der Vergessenheit entrissen gehört, belegt ja neben allem anderen auch die durchschlagende Wirkungslosigkeit aller der Appelle selbst an den Publikationsorten, die ihre Leserschaft als Multiplikatoren sehen. Rolf Hochhuth, ihn noch einmal in Erinnerung zu rufen, hat übrigens mit besonders galliger Boshaftigkeit den SPIEGEL erwähnt und sich dabei auf Peter Rühmkorf berufen, demzufolge das Nachrichtenmagazin „niemals für Namenlose oder Totgeschwiegene oder Verkannte des Geistes ein Wort einlegt, sondern sein Geschrei stets nur um Menschen und Dinge macht, die ohnehin schon im Geschrei sind“. Das ist allerdings insofern besser geworden, als der SPIEGEL heute nicht selten das Geschrei selbst lostritt, man muss gar nicht nur an Helene Hegemann oder Christian Kracht denken.
Friedrich Michael, den ich schon deshalb gern zitiere, weil er in Ilmenau geboren wurde, erinnerte sich anlässlich des neunzigsten Geburtstages von Otto Flake in der FAZ vom 24. November 1970 öffentlich an frühe Gespräche mit Flake 1931, versuchte sich ebenfalls in Ursachenforschung und kam dabei auf die „Ausschaltung alles Gefühlsbedingten“. Er schloss: „Gäbe es noch Nachmittage mit Otto Flake! Doch wir haben nun sein Buch.“ Ach, Friedrich Michael! Gustav Seibt übte sich 2003 in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG als Wiederentdecker am Roman „Hortense oder Die Rückkehr nach Baden-Baden“. Er beendete sein Plädoyer so: „Am Ende, beim Zuschlagen, fragt man sich betroffen: Warum hat man uns von diesem Autor nie etwas erzählt? ... Sein Werk wartet auf seine Wiederauferstehung.“ Nur knapp zwei Jahre später gab Klaus Bellin in NEUES DEUTSCHLAND den Wiederentdecker. Und das Fazit kommt einem mehr als bekannt vor: „Jetzt, beim Lesen seiner Autobiografie und des „Hortense“-Romans fragt man sich erneut, wie es kommen konnte, dass man ihn so wenig kennt.“ Zu diesem Zeitpunkt beschloss das Zentralkomitee schon fünfzehn Jahre nicht mehr, wen man zu kennen hatte.
Von Freundschaften wäre zu reden mit René Schickele oder Ernst Stadler, von bösartiger und uninformierter Denunziation mit Langzeitwirkung von Klaus Mann, schönen Stimmen von Golo Mann oder Peter de Mendelssohn. Kurt Hiller schäumte in seiner ersten Nachkriegsrede auf deutschem Boden fast über gegen Otto Flake und dessen Nietzsche-Buch. Allein die Umkreis-Namen: Emmy Hennings, Hans Arp, Hugo Ball! Hätten sich Flake und Schickele den Namen ihrer Zeitung STÜRMER schützen lassen, vielleicht hätte dann DER STÜRMER nicht so heißen dürfen. Wenn ich etwas bedaure, dann nicht, dass mir niemand etwas von Flake erzählt hat, ich kann ja selbst lesen. Ich bedaure, dass ich nie Zeit haben werde, auch nur den Teil seines Riesenwerkes je zu lesen, von dem ich jetzt schon weiß, dass er mich mehr als nur anlassgebunden interessiert. Es wäre mehr als nur reizvoll, Otto Flake nicht nur damit zu charakterisieren, was ihm fehlt, sondern mit dem was er hat, ist und darstellt. Das freilich müsste man benennen können.