Richard Dehmel: Der Werwolf

Vermutlich wäre es zuviel Ehre für Johannes R. Becher, schriebe man ihm zu, dass er mit seiner „Rede über Richard Dehmel“, die vermutlich nie gehalten, 1912 aber gedruckt wurde und zu DDR-Zeiten die vierbändige Ausgabe seiner Publizistik eröffnete, der Ignoranz gegenüber Dehmels Prosa (und Dramatik) das Urmuster lieferte. Wie auch immer, wenn Dehmel überhaupt eine Rolle zugestanden wird, dann mit seiner Lyrik und in spezieller Weise auch mit seiner Persönlichkeit. Um so erstaunlicher ist es, dass in der DDR innerhalb von nur drei Jahren die kleine Erzählung „Der Werwolf“ den Weg in gleich drei Anthologien fand, andere Prosa Dehmels aber, die es ja gibt und die keinesfalls einfach als nichtig angesehen werden sollte, ist nicht berücksichtigt worden. Die vermeintliche Überlegenheit der sozialistischen Planwirtschaft funktionierte im Verlagswesen oft besonders schlecht, es gibt Texte von namhaften Autoren, die eine vernünftige Werkausgabe verdient hätten und sie nie bekamen, die zigmal in immer neuen Sammlungen gedruckt wurden, andere dafür nie. Das krasseste Beispiel ist Arthur Schnitzler, der nur wenig älter als Dehmel war.

Die seltsame Popularität des „Werwolf“ in der DDR beruht, wenn man Zeugnisse von Nachworten und Anmerkungen ernst nehmen will, auf einer ziemlich krasssen Fehlinterpretation des Textes. Derzufolge hat Richard Dehmel die Klassenjustiz angeprangert. Das freilich ist mit dem Text nicht zu belegen. Den Herausgeber Fritz Böttger focht das nicht an: „Wie aber gerade die Ärmsten und Hilflosesten den Klassenvorurteilen ausgeliefert werden, erzählt Richard Dehmel in der kleinen Geschichte „Der Werwolf“, in der einem anständigen Bürger nie und nimmer ein Selbstmord, einem dienstunfähigen Eisenbahnschaffner jedoch unbedenklich ein Raubmord zugetraut wird. Den Untersuchungsmethoden des Staatsanwaltes ist der geistig gehemmte Mann so wenig gewachsen, daß er sich zuletzt wirklich für einen Mörder hält.“ Und ganz hinten in der Sammlung von Erzählungen mit dem schönen Titel „Kaisermanöver“ steht: „Auch aus dieser Skizze spricht die Liebe zu dem wehrlosen einfachen Menschen, die innere Anteilnahme für die Opfer einer inhumanen Klassenjustiz.“ 

Letztendlich ging es immer nur darum, den Autor in eine passgerechte Schublade einordnen zu können, die es erlaubte, Werke aus seiner Hand dem werktätigen Volk zuzumuten. Bei Richard Dehmel war es zunächst die streng durchsortierte Lyrik, mit der Helga Bemmann ihn in der verdienstvollen Reihe „Klassische Kleine Bühne“ des Henschelverlages vorstellte. Sie machte vier Werkgruppen aus, die der Nachwelt überliefert zu werden verdienen: die großangelegte Chansonform, das einfache, oft geradezu lapidare Volkslied, die Vershumoreske in kunstvoller literarischer Sprache und schließlich die Kindergedichte. Schon Peter Ludewig demonstrierte mit seiner Auswahl „Alle Ufer fliehn“ (siehe ALTE SACHEN), dass weit mehr noch gelesen werden kann. Natürlich hatte Dehmel den Makel, dass er sich zu Beginn des ersten Weltkrieges von einer allerdings ziemlich allgemeinen Kriegsbegeisterung hinreißen ließ, er schrieb nicht nur selbst Patriotisches voller Peinlichkeit, er sammelte auch Kriegslyrik in insgesamt zwölf Heften.

Dass ihn ein späterer Vollblut-Nazi wie der Balladen-Dichter Börries von Münchhausen gar mit dem Vorwurf, er sei ein Jude, vor Gericht zerrte, erfuhren DDR-Dehmel-Leser nicht. Wohl aber, freilich in einem Zusammenhang, der sicher nicht mit allergrößter Öffentlichkeit rechnen durfte, von der besonderen Menschlichkeit Dehmels. Der polnische Dichter und Schriftsteller Stanislaw Przybyszewski, der lange in München und Berlin lebte und den fünf Jahre älteren Dehmel in der Reichshauptstadt kennenlernte, hat Erinnerungen hinterlassen, die der Gustav Kiepenheuer Verlag Leipzig und Weimar 1985 unter dem Titel „Ferne komm ich her“ veröffentlichte. Liebevollere Zeilen über Dehmel habe ich nie gelesen, es gibt außerdem auch eine separate mit „Richard Dehmel“ überschriebene Reminiszenz, die der Igel Verlag 1992 in den sechsten Band seiner Przybyszewski-Werkausgabe in acht Bänden mit Kommentarband aufnahm, die den Inhalten des Erinnerungsbuches allerdings wenig hinzufügt. Przybyszewski stellt uns Dehmel als großen Freund, als unübertrefflichen Vorleser, als Mann vor, der sich selbst von seiner Epilepsie befreite. Demnach konnte sich Dehmel bis zur Selbstverleugnung für andere Menschen und deren Werke einsetzen.

Im „Werwolf“ gibt es einen Toten, einen Apotheker, bei dem alles darauf hindeutet, dass er einem Raubmord zum Opfer fiel. Von dem oder den Mördern fehlt jede Spur, es gibt keinerlei verwertbare Hinweise. Was es aber gibt, ist eine uns Heutige höchst modern anmutende Hysterie. Es beginnt so etwas wie eine Volksbewaffnung, es breitet sich still eine Lynchmobstimmung aus, man lauert und belauert, man lauscht und belauscht und als es endlich möglich scheint, den Mann zu verdächtigen, der den Spitznamen Werwolf hat, geht alles schnell und schicksalhaft. Richard Dehmel erzählt die Geschichte einer öffentlichen Vorverurteilung und das ist moderner, als uns lieb sein mag. Der nach einem Unfall berufsunfähige Eisenbahner hat sich zurückgezogen und ist in den Augen seiner Mitmenschen wunderlich geworden. Ausgerechnet ein Lehrer ist es, der den Spitznamen in Umlauf brachte und ein Schneider macht den Denunzianten. Natürlich war es der Eisenbahner nicht und wenn einer mit ihm so menschlich als möglich umgeht, ist es der Richter, da ist wenig Klassenjustiz im Schwange. Dennoch nimmt sich der Verdächtigte das Leben, die Aufklärung kommt zu spät.

Was heute etwas irritiert, ist die Tatsache, dass der vertuschte Selbstmord des Apothekers, der seiner Familie die Versicherungssumme hinterlassen wollte, nicht automatisch das Unwirksamwerden der Versicherung nach sich zieht. Offenbar gab es zu Zeiten des Hauptmanns von Köpenick, in der die Handlung angesiedelt ist, worauf ausdrücklich hingewiesen wird, in Verträgen noch nicht solche Rückversicherungsklauseln oder aber der Autor Dehmel hat sich darum nicht gekümmert. Dass es sich bei diesem sein Leben seiner Familie opfernden Apotheker, der aus seinen wirtschaftlichen Schwierigkeiten keinen anderen Ausweg sieht, keineswegs um das handelt, was der oben erwähnte Fritz Böttger einen Bankrotteur nennen zu müssen glaubt, liegt auf der Hand. Es ist Lebenstragik. Und hat noch etwas vom berühmteren Eisenbahnerschicksal, dem des „Bahnwärter Thiel“ nämlich. Die Witwe des Apothekers zahlt nicht nur der Versicherung freiwillig etwas zurück, sie gibt auch der Witwe des Eisenbahners ab, eine warmherzig humane Pointe, keineswegs der Hinweis auf die Reformbedürftigkeit der wilhelminischen Justiz, die davon unabhängig natürlich realiter gegeben war.

Zu entdecken wäre an Dehmel, wenn schon seine eigentlich schriftstellerische Produktion nicht mehr für nennenswert gehalten wird, seine kultur- und literaturgeschichtliche Rolle über einen ziemlich langen Zeitraum hinweg. Er taucht in so vielen Briefen anderer auf, er hat selbst so viele Briefe an interessante Partner geschrieben, er verkehrte in Kreisen, die heute immer noch oder wieder von hoher Anziehungskraft sind. Zu nennen wäre Strindberg, dessen Berliner Leben ja für sich Stoff darstellt und so ist es kein Zufall, dass der Band „Strindberg im Zeugnis der Zeitgenossen“ mit einem Dehmel-Gedicht anhebt und auch innen eine Charakteristik von ihm enthält. Johannes Schlaf nach der Trennung von Arno Holz, Detlev von Liliencron, Paul Scheerbart, Erich Mühsam natürlich, viele Namen könnten eine Rolle spielen. Als Johannes R. Becher schrieb: „Doch seine ewig eminente:  anregende Bedeutung wird sich erst in jenem Großen manifestieren, der diese neue, unsere Zeit restlos in sich beschließt.“, hat er wohl ein wenig auch auf sich selbst gesetzt, dieser Große zu werden. Dehmels Schwächen hat er auf alle Fälle wachen Sinns registriert.

Das Thema Richard Dehmel zwischen Paula und Ida wäre etwas für die Klatschspalte. Stanislaw Przybyszewski jedenfalls hat der ersten Frau Paula huldigende Sätze gewidmet. Ohne sie wäre Richard Dehmel nicht der, der er war. Sie wusste ihn zu nehmen, sie wusste ihn zu beruhigen, wenn  ihn der Weinkrampf überwältigte und an den Kindergedichten war sie mehr als nur beteiligt, es gibt eigene von ihr, die vielen Vergleichen standhalten. Julius Bab hat zwei Bücher über ihn geschrieben, ein dünnes 1902 und ein dickeres 1926, beide sind vergessen wie ihr Autor und ihr Gegenstand fast auch. Der 150. Geburtstag am 18. November 2013 stand nie im Verdacht, eine Dehmel-Renaissance auslösen zu können. Auch deshalb gibt es diesen Text.


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