Friedrich Hebbel: Maria Magdalena

Einer der ersten Klippschulsätze, die jeder Kritiker irgendwann gesehen, gehört oder um die Ohren gehauen bekommen hat, lautet: Eine Inhaltswiedergabe ist noch keine Kritik. Dessen ungeachtet ist die Welt tagtäglich voller genau solcher Kritiken und das öffentliche Weinen darüber hält sich in überschaubaren Grenzen. Was soll man von den nebenberuflichen Sportreportern auch anderes erwarten, die von ihrer sparenden Chefredaktion nun auch am Samstagabend, wenn die gut verdienenden fest angestellten Redakteure ihre wohlverdiente Freizeit genießen, auf die Textpirsch gejagt werden und zwar ins örtliche Theater? Gut, manchmal gehen auch Damen und Herren ins Theater, die wenigstens von Musik ein bisschen verstehen oder schon einmal in einer Ausstellung waren, bei der es Sekt gab und eine Laudatio, die niemand verstand.

Friedrich Hebbels „Maria Magdalena“, der fortlebende Stumpfsinn lässt das bürgerliche Trauerspiel noch heute bisweilen auch „Maria Magdalene“ heißen, obwohl das einfach nur ein Druckfehler der ersten Buchausgabe war und das seit mehr als 150 Jahren eigentlich jeder wissen kann, ist eines der Beispiele, an dem sich behaupten ließe, Inhaltswiedergabe qualifiziere oder disqualifiziere ihren Exekutor. Denn, und ich nenne nur drei namhafte Namen stellvertretend, selbst Größen der Kritik um die Mitte des 19. Jahrhunderts wie Julian Schmidt, Karl Rosenkranz und Berthold Auerbach, alle drei drehten Hebbel durch den Wolf, dass es krachte, machen ein Geschehen zum Anlass ihrer explosiven Empörung, das im gedruckten und später auch gespielten Text gar nicht vorkommt. Die Art und Weise, wie diese drei Herren der tragischen Heldin Klara die Schuld an ihrem Schicksal zuordnen, ist frappierend, bezeichnend und aus allgemein-weiblicher Sicht deprimierend. An solchen in ihrer unreflektierten Selbstverständlichkeit, in ihrer schuldlosen Schuldigkeit leidenden Missverständnissen darf sich jeglicher Feminismus zu Recht Aggressivitätsschübe eintrainieren.

Wenn irgendjemand in diesem Trauerspiel nicht moralisch fragwürdig ist, dann genau diese Klara, die sich noch von ihrem ziemlich missratenen Bruder Karl kujonieren lassen muss, weil der in nämlicher Selbstverständlichkeit nicht nur davon ausgeht, er sei der Vormund seiner Schwester, wenn der Vater fehlt, sondern auch davon, dass es ihre Aufgabe sei, ihm Wasser vom Brunnen zu holen, wenn er dürste. Schlimm ist, dass die Rechtslage der Zeit das tatsächlich so absicherte, gar nicht zu reden von der überkommenen Sitte, die das zusätzlich und viel fester sanktionierte als irgendwelche Paragraphen. Die Männlichkeit von Kritik hat sich übrigens bis in die jüngste Gegenwart fortgepflanzt, wenngleich sie sich natürlich von ihrer moralisierenden Scheinentrüstetheit längst verabschiedete. So jedenfalls erkläre ich mir den Umstand, dass männliche Kritiker und Literaturdeuter sich an Meister Anton festbeißen, diesem Alptraum eines fundamental-evangelikalen Tyrannenvaters mit alttestamentarischer Attitüde (nur scheinbar ein Widerspruch), und um die Frage, warum dass alles denn „Maria Magdalena“ heißt und eben nicht „Meister Anton“, herumschleichen wie die dreibeinige Katze um den lauwarmen Brei.

Es ist, mit Verlaub, sowas von uninteressant und nebensächlich und überflüssig, seitenlang darüber zu orakeln, ob das Trauerspiel denn eines sei oder nicht vielleicht eher ein soziales Drama, als schließe das eine das andere aus, herrje, und ob die Tragik richtig tragisch sei wie früher, als die blinden griechischen Könige noch ihre Mütter heirateten oder erstachen oder sie erst erstachen und dann heirateten. Irgendwie muss man seine Bücher füllen, das ist nicht übertrieben ehrenrührig aber wenn man dann so nebenher die Behauptung aufstellt, man könne diesem Trauerspiel nur auf die Spur kommen, wenn man sowohl das Vorwort als auch die Widmung verstanden habe, ich nenne keinen Belegnamen, dann ist das natürlich nicht an Theatergänger oder Leser gerichtet, sondern an ordinierte Standeskollegen, von denen es zum Glück so wenige gibt, dass Bücher für sie eigentlich Maximalluxus darstellen in Gegenden, die sonst keine wesentlichen Probleme haben.

Die wohl eher peinliche Widmung für den dänischen König kenne ich nicht, denn die mir zur Verfügung stehenden Ausgaben verkneifen sie sich, selbst die sonst an Ausführlichkeit keineswegs leidenden Reclam-Erläuterungen verzichten auf jegliches Zitat, das ellenlange Vorwort aber ist eine einzige Zumutung. Wem immer Friedrich Hebbel beweisen wollte, dass er fast so ungenießbar schreiben konnte wie Georg Friedrich Wilhelm Hegel auf der Stilebene seiner „Wissenschaft der Logik“, die Idee ging in die Hose. Freilich offenbart sie nebenher ein tatsächliches Hebbel-Problem. Er scheint einer gewesen zu sein und das ist ihm auch von den schon genannten Kritikern teilweise vorgeworfen worden, die natürlich nicht nur unrecht hatten mit dem, was sie konstatierten, der nicht von zu erzählenden Geschichten ausging, sondern von einer abgrenzenden Poetik, von einer sich selbst vorsorglich in die Geschichte einordnenden Absicht. Und das hat die unvermeidliche Tendenz in sich, kopflastig zu werden.

Liest man heute, mit welcher Selbstverständlichkeit er seiner ersten Kritikerin Auguste Stich-Crelinger, einer Schauspielerin, von der er sich Förderung versprach, das Beispiel Goethe vorhält, um deren Argumentation, man könne keine Schwangere auf die Bühne stellen, zu entkräften, dann schluckt man doch kurz. Ging es nicht eine Nummer kleiner anno 1844? Nein, es ging nicht, auch die Briefe, die Hebbel an seine langjährige Geliebte Elise Lensing verschickte, der er übrigens die letzte Korrektur vor dem Druck überließ, demonstrieren ein Selbstbewusstsein, das fast einschüchtert. Wer sich so selbst loben kann wie Hebbel, sein genanntes Vorwort geht ihm fast über alles, was er bis dahin schrieb und ist doch bestenfalls etwas geworden, dass Historiker der Dramentheorie für ihre Abhandlungen brauchen, die eben auch nur von anderen Historikern der Dramentheorie gebraucht werden, der erzeugt zwiespältige Gefühle.

Manch süffisant klingende biographische Darstellung Hebbels als „Aufsteiger“ aus den alleruntersten Schichten fußt im Tiefsten wohl auf menschlicher Abneigung gegen eine Unbescheidenheit, die tatsächlich jedoch um Dimensionen sympathischer ist als jedes verkniffene Sein-Licht-unter-den-Scheffel-Stellen. Letztlich ist fast durchgängig sehr klug, was Hebbel erdenkt und ausformuliert und dass er wie alle Kind seiner Zeit, Figur eines historischen Übergangs und so weiter und so fort ist, sei wenigstens kurz in Erinnerung gerufen. Die Haut, aus der Hebbel nicht konnte, ist unser aller Haut, halten wir also den Ball flach. Natürlich hat man als Autor bisweilen den dringenden Verdacht, etwas sehr Gutes geschrieben zu haben, und der Verdacht bestätigt sich. Autoren als Einzelkämpfer haben den entschiedenen Nachteil gegenüber Fußballstars, dass sie nach einem Tor des Jahres aus 82 Metern Entfernung nicht sagen können: „Es ist egal, wer das Tor schießt, Hauptsache drei Punkte. Ich freue mich, wenn ich der Mannschaft helfen konnte.“ Ein Autor, der nicht lügt, freut sich, wenn er sich selbst helfen konnte.

„Maria Magdalena“ hat nun tatsächlich eine tückische Schwierigkeit. In allen drei Akten kommt dieser Name nicht ein einziges Mal vor, weder direkt noch indirekt. Und in allen Briefstellen, Tagebuch-Notizen, im genannten Vorwort, wird alles Mögliche und Unmögliche in extenso erklärt, nur der Titel nicht, den Hebbel an einer Stelle einmal „symbolisch“ nennt, was dann aber auch schon alles ist. Man kann sich nun auf die Suche begeben und herausfinden, was Maria Magdalena zu bedeuten habe, es wird eine Suche, die an jeder Fundstelle Stoff liefert, aber keine schlüssige Deutung hergibt. Hebbel hat das vermutlich haargenau so einkalkuliert, dergleichen gehört zu den Späßen, die man sich als Autor macht, vor allem wenn man sich schon ärgerte über bestallte Missversteher. Gerade solchen wirft man gern hin, was gar nicht erst zu verstehen ist. Deshalb jedoch zur Tagesordnung Meister Anton überzugehen und Klara Maria Magdalena fortan wie eine Randfigur zu behandeln, das ist es nicht.

Immerhin hat Friedrich Hebbel, dessen 150. Todestag heute ist, in seinem Tagebuch vom 22. November 1838 über seinen Vater, den Maurer, einen hinreißenden Satz geschrieben: er war „ein herzensguter, treuer, wohlmeinender Mann; aber die Armut hatte die Stelle seiner Seele eingenommen.“ Dass dieser Vater in die Figur des Meister Anton eingeflossen ist, gilt sämtlichen Deutern als so sicher, dass es nie in Zweifel gezogen wurde. Dass man den Sachverhalt wie Brecht auch drastischer ausdrücken kann, soll mit aller Zurückhaltung erwähnt werden: Erst kommt das Fressen, dann die Moral. Wir neigen heute zu der kombinierten Auffassung, dass der Mensch sowohl das „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ ist als auch Eigenverantwortung trägt. Für die freilich der Spielraum, und Klara ist eines der nachklassischen Beispiele dafür, bisweilen so eng sein kann, dass er unter der Wahrnehmungsgrenze liegt. Klara ist Opfer nicht DER Verhältnisse, sehr wohl aber von Verhältnissen.

Wir wissen heute, dass der miserable Mitgiftjäger Leonhard, der Klara schwängerte, um sie und ihr Erbe sich zu sichern, alles andere als nur moralische Nullität darstellt. Er ist, so absurd das scheinen will, die Verkörperung des gesamtgesellschaftlichen, des historischen Fortschritts. Meister Anton dagegen trägt soviel Vorbürgerlichkeit oder Frühbürgerlichkeit an sich, dass er allein schon die Bezeichnung „bürgerliches“ Trauerspiel für den Handlungsablauf, den er in seinen Hauptzügen zu verantworten hat, fragwürdig macht. Eine Kernsubstanz von Bürgerlichkeit, wie wir sie verstehen wollen, sollen und wohl auch müssen, ist rechtlicher Art. Wenn schon ein Vater aus bestimmten nachvollziehbaren, deshalb keineswegs automatisch zu goutierenden Gründen, seinen eigenen Sohn für schuldig hält, obwohl er noch nicht die Umstände auch nur ansatzweise kennt, dann hätte immer noch die rechtsstaatliche Unschuldsvermutung zu greifen bis zum Beweis des Gegenteiles. Sohn Karl mag sein, wie er will, die Juwelen jedenfalls stahl er nicht. So traf seine Mutter der Schlag umsonst, so steigerte sich sein Vater in seine Selbstüberhebung ohne letzten Grund.

Klara stürzt sich am Ende des dritten Aktes in den Brunnen, das Stück ist voller Vorausdeutungen, die einen wichtigen Teil seines Kunstcharakters ausmachen, weil sie so zu verhindern glaubt, dass der in seiner Ehre irreversibel verletzte Vater sich selbst die Gurgel durchschneidet. Genau das aber tut Meister Anton nicht, er sagt nur wie ein Shakespeareheld in Filzlatschen: „Ich verstehe die Welt nicht mehr.“ Dies würde voraussetzen, dass er sie je verstanden hat. Daran ist heftig zu zweifeln. Meister Anton ist ein Tischlermeister von der traurigen Gestalt, man muss das Licht sehr schräg auf ihn fallen lassen, um ihm einen großen Schatten zu verleihen. Gespielt worden ist das Stück in den vergangen Jahren immer mal wieder, mal in Linz, mal in Augsburg, in Mannheim, am Gorki in Berlin oder auch am Hamburger Schauspielhaus. Der Erfolg war stets größer als in den Jahren 1846 und 1847, als die ersten deutschsprachigen Bühnen von Königsberg bis Leipzig sich an „Maria Magdalena“ versuchten. Dass weder im Dezember 2013 als dem Monat des Todestages, noch im März 2013 als dem Monat des zweihundertsten Geburtstages auch nur irgendeine in der Premieren-Übersicht von THEATER HEUTE festgehaltene Hebbel-Premiere zu bemerken war, ist kein Drama. Häuser, die auf sich halten, arbeiten antizyklisch wie Investoren einer bestimmten ökonomischen Schule.

P.S. Von mir neu im Buchhandel: „Meine ärgsten Freunde. Ein Vierhundert-Tage-Buch“;
ISBN 978-3-95618-120-7, Softcover, 19,80 Euro.
Weiterhin lieferbar auch mein „Kulturschock NVA. Briefe eines Wehrpflichtigen   1971 – 1973, ISBN 978-3-86153-711-3, Hardcover, 19,90 Euro


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