Der Mann, der Heiligabend starb
Lassen wir Goethe beiseite. Am Tag, als William Makepeace Thackeray den Alten in Weimar besuchte, Dr. Friedrich August Wilhelm Weißenborn, Mentor junger Engländer in Weimar, fädelte das ein, hielt Goethe im Tagebuch fest: „Blieb für mich und bedachte das Nächste.“ Vor dem Hintergrund des langen Goethe-Lebens ließe sich aus der Deutung dieses einen Satzes eine exorbitante Monographie stricken, der zwanzig Jahre alte Thackeray aber fände darin kaum Raum. Er selbst hat reichlich anderthalb Jahrzehnte später Weimar in Pumpernickel verwandelt in seinem Roman „Jahrmarkt der Eitelkeiten“ („Vanity Fair“) geschildert. In den „Gesprächen“ findet sich unter Nummer 1567 für das Jahr 1830 ein englisches Textstück über den Dialog mit Goethe, es kann da etwas nicht stimmen mit der Jahreszahl, denn die Visite war erst am 20. Oktober 1831. Thackeray gab sich in „De Finibus“, zu den „Roundabout Papers“ gehörend, extrem bescheiden.
„Wir kleineren Schriftsteller können keine Gestalten vom Range eines Faust hervorbringen oder großartige Werke schaffen, die die Zeiten überdauern werden; doch sind unsere Bücher Tagebücher, in die unsere eigenen Gefühle unvermeidlich einfließen.“ Ein wenig überdauert hat Thackeray schon, sein „Snobbuch“ ist 2007 bei Faber & Faber Leipzig in der alten Übertragung von Heinrich Conrad neu aufgelegt worden und nur drei Jahre später konterte Manesse München mit der Neuübersetzung von Gisbert Haefs. Es sei in aller Bescheidenheit daran erinnert, dass Rütten & Loening Berlin über Jahre eine ziemlich voluminöse Ausgabe Gesammelter Werke in Einzelbänden herausbrachte, die immer wieder Neuauflagen erlebte. Man schrieb zweibändig im alten England, genauer: man schrieb in Fortsetzungen und das gab dann am Ende meist mehr als weniger Umfang. Zum zweihundertsten Geburtstag Thackerays 2011 begann Jörg von Uthmann seine Würdigung mit dem Satz: „Sein Pech war, dass er einen Zeitgenossen namens Charles Dickens hatte.“
Sein Pech ist freilich nicht unser Pech, denn William Makepeace Thackeray drängt uns kein Entweder-Oder auf. Ich kann sehr gut Dickens mögen und den ein paar Monate älteren Thackeray auch. Zum Beispiel wegen einer solchen Stelle: „Mein Pegasus ist nicht zum Fliegen zu bewegen, auf daß ich das Terrain unter mir überblicken könnte. Er hat keine Schwingen, ist mit Sicherheit auf einem Auge blind, ist störrisch, träge und eigensinnig. Er frißt von der Hecke, wenn er galoppieren sollte, und galoppiert, statt zu verschnaufen. Nie ist er in Form, wenn ich ihn brauche.“ Da schlägt das alte Poetenseminar-Herz höher, dem der sonst meines Wissens nie weiter auffällig gewordene Hartmut Pache anno 1972 ins Stammbuch schrieb: „Hoch zu Roß // ins Schloß, // mit //gebrochnem // Reim // heim.“ Thackeray: „Was mich betrifft, so gestehe ich, daß meine Augen beim Lesen dessen, was ich früher einmal niederschrieb, oft vom Text abirren. Ich sehe dann nicht die Worte, sondern den vergangenen Tag vor mir...“.
„Was für ein seltsames, frohes, schönes und trauriges Gefühl ist es doch, allein und still im Arbeitszimmer zu sitzen...“. Schön wäre es, ein ganzes Buch ausschließlich aus Zitaten zu montieren, die ein geschlossenes Werk ergäben, wie lange aber müsste man dafür traurig und allein im Arbeitszimmer sitzen! Thackeray ist ein guter Lieferant für gute Zitate. Und er war in Chur. Das hebe ich nicht heraus, weil auch ich in Chur war, denn es ist gar keine Kunst, nach Chur zu kommen, man fährt eigentlich fast ständig daran vorbei und muss nur abbiegen. Das eigentliche Graubünden liegt ja dahinter mit seinem Scuol und seinem Zernez und seinem Guarda. Hach, jene Katze vor Guarda, die auf dem Geländer wartete. Also Thackeray ist nur in Chur gewesen. Mehr weiß ich jedenfalls nicht. „Selten habe ich einen Ort gesehen, der lieblicher, gemütlicher, stiller und idyllischer gewesen wäre als dieses abgelegene winzige Chur. Wenn seine Einwohner überhaupt der Mauern und Schutzwehre bedurften, dann allenfalls, um Sommerhäuser zu bauen, Weinstöcke abzustützen oder Wäsche zum Trocknen aufzuhängen!“
In Chur fordert der Bankangestellte mit vollen Backen den Engländer auf, eine Stunde später zu kommen, da haben sich die Zeiten geändert. Man stört keinen mehr in der Mittagspause in der Schweiz, weil alles gleich verschlossen wird, bis alle fertig sind mit dem Kauen. „... immerhin, sage ich, wurde hier vor einem Dutzend Jahrhunderten, als sich noch Leben in der Stadt regte, der heilige Lucius nach der Stiftung unserer Kirche zu Cornhill wegen theologischer Meinungsverschiedenheiten gesteinigt.“ So hinterhältig schreibt Thackeray. Und er trifft auf einen lesenden Burschen, einen, der einen Roman liest: „... ich beziehe mich hier nur auf Romane, die ich selbst am liebsten mag: Romane ohne Liebe, Geschwätz und ähnlichen Unsinn, in denen dafür in Hülle und Fülle gefochten, geflohen, entführt und wieder befreit wird!“ Klar, dass der Engländer dann sofort unvermeidlich auf Alexandre Dumas kommt: „Ich habe dich einmal, als ich krank zu Bett lag, dreizehn glückliche Stunden hintereinander gelesen, und die Damen des Hauses rissen sich die Bände gegenseitig aus der Hand.“ Meinte er seine Dame und die drei Töchter?
„Ein kleiner Faulpelz“ endet mit der sehr sachlichen Feststellung: „Wenn also die Nachfrage so groß ist, muß der Händler liefern, ähnlich wie er Sättel und helles Bier nach Bombay und Kalkutta liefert.“ In Kalkutta ist er geboren, sein Vater war Kolonialbeamter. Und Romane sind halt, im Mutterland des modernen Kapitalismus nichts klarer als das, Ware wie Sättel und helles Bier. „Ist das Erschaffen von Menschen aus der Phantasie schon Wahnsinn, und sind Romanschriftsteller damit bereits Anwärter auf die Zwangsjacke?“ fragt er. Der Vorteil seiner Sehweise ist Nüchternheit, kein Dichter-Geschwafel: „Nach meiner recht beträchtlichen Erfahrung ist jemand, der Bücher schreibt, anderen, die gar nichts schreiben, an Geist oder Gelehrsamkeit keineswegs überlegen.“ Und die Erklärung ist einfacher als einfach: „So ist auch ein Schriftsteller im allgemeinen zu sehr mit seinen eigenen Büchern beschäftigt, als daß er sich um die der andern kümmern könnte.“ Thackeray mochte, was er kräftige Kost nannte, zum Beispiel also „einen heimlichen Schurken im Hintergrund, der kurz vor dem Finis Folterqualen zu leiden hat.“
Möge jeder, der sich darüber aufregt, dass auch ehemalige Landtagsabgeordnete noch gesondert begrüßt werden, als seien sie wer, der es seltsam findet, dass sie dann immer noch Grußworte reden dürfen, als warte jemand auf die, sich diesen Thackeray zu Herzen nehmen: „Es ist unsere Schuld und nicht die der Großen, wenn sie sich uns so überlegen dünken.“ Thackeray nimmt sich hier wie immer nicht selbst aus: „... und wenn Euch und mir, mein Lieber Freund, täglich wie Götzen gehuldigt würde und wir die Menschen, wo immer wir uns blicken ließen, in Bewunderung erstarren sähen, dann würden wir auch ohne weiteres ein überhebliches Wesen annehmen...“. Dass William Makepeace Thackeray an dem Tag, den wir Heiligabend nennen, im Alter von nur 52 Jahren starb, hat seinen Nachkommen sicher doppelt die Festlaune verdorben. Heute ist es 150 Jahre her. Vielleicht ist im Besinnlichkeitsfundus eine kleine Kapazität für ihn frei.