Der bittere Ambrose Bierce
Dem überall gleichsinnig verlauteten spurlosen Verschwinden des Ambrose Bierce in den Tiefen des mexikanischen Bürgerkrieges hat der Aufbau-Literaturkalender von 1990 mit einer löblichen Tapferkeit ein Todesdatum entgegengesetzt. Demzufolge starb der Ende 1913 in den USA abgängig gewordene Bierce am 11. Januar 1914. Er wäre damit, weil am 24. Juni 1842 geboren, reichlich 71 Jahre alt geworden. Für einen Teilnehmer des bis dahin mörderischsten Krieges der modernen Geschichte, des amerikanischen Bürgerkrieges, ein ziemlich respektables Alter. Noch sind wir hinreichend weit weg vom Flutwellenkamm des Gedenkens an den Beginn des Ersten Weltkrieges, der dem genannten Bürgerkrieg für immer, also für genau ein Vierteljahrhundert, den Rang ablief, um eines solchen Datums inne zu werden. Wobei ich keine andere Quelle für dieses Datum kenne, dem längst zur Institution gewordenen, noch immer lebenden Kalender aber gern Referenz erweise.
In Ländern mit geordneten stehenden Heeren gehören die Kriegserzählungen von Ambrose Bierce auf den Index. Sie zerstören den Wehrwillen. Sie tun das, indem sie vorführen, wie es so ist. Wenn man auf dem Pferd sitzt, vom Heldentod träumend, und eine Kanonenkugel schlägt neben einem ein. Wenn da eine Leiche liegt mit dem gelben Gesicht in der Pfütze, die Leichenräumkommandos des Krieges von 1861 – 1865 waren vermutlich kaum langsamer als die späteren. Wenn man denkt. Die vielleicht verblüffendste Lehre, die die Kriegserzählungen von Ambrose Bierce vermitteln, lautet: Denken ist schädlich. Dagegen ist die mörderische Konsequenz, mit der vorgeführt wird, wie die bedingungslose Ausführung eines Befehls diesen ad absurdum führt, fast schon wieder zu brachial. Wer freilich während eines Abschnitts in seinem Leben das zweifelhafte Vergnügen hatte, genau den Passus mit dem Gehorsam aus seinem Fahneneid dutzendfach abschreiben zu müssen zum Zwecke der Disziplinierung, der ist hellhörig für Literatur mit solchen Ingredienzien.
Die DDR war schon 1965 bereit, eine Sammlung „Bittere Stories“ von Bierce auf ihre Bürger loszulassen, das Nachwort schrieb der eine von beiden unentwegten Nachwortschreibern zur USA-Literatur damals, Karl-Heinz Wirzberger. Ihm kam es vor allem darauf an, dem Erzähler so viel gesellschaftskritisches Potential zuzuordnen, dass sein Erscheinen gerechtfertigt wirkte. Ihm kam es außerdem darauf an zu zeigen, dass die bürgerliche Literaturgeschichtsschreibung wie immer und überall herumlog und Substanz verleugnete, die mit bester Regelmäßigkeit die eigentliche Substanz darstellte in der selektiven Deutung des marxistisch-leninistischen Besserwissens. Man muss alternativ zur Kenntnis nehmen, was Stephan Hermlin 1969 in „Sinn und Form“ zu Bierce äußerte, um zu verstehen, welche Klippen Wirzberger umschiffte. Hermlin selbst hat mit seiner Novelle „Der Leutnant Yorck von Wartenburg“, die einzeln und in zahlreichen Kombinationen mit den wenigen anderen Erzählungen Hermlins immer wieder neu aufgelegt wurde, auf eine der bekanntesten Stories von Bierce zurückgegriffen, auf „Zwischenfall auf der Eulenfluss-Brücke“.
Bei Bierce wird auf eindrucksvolle Weise vorgeführt, was mit Namen wie Bewusstseinsstrom oder mit Phänomenen wie dem angeblichen Ablauf ganzer Leben in den Sekunden vor dem Tod später in Verbindung gebracht wurde. Ein Mann wird auf der Brücke erhängt, die er zerstören wollte als sein Beitrag im Bürgerkrieg. Es klingt sperrig, was Bierce dazu schreibt: „Wenn er angemeldet kommt, ist der Tod ein Würdenträger, der selbst von denen mit förmlichen Ehrenbezeigungen empfangen wird, denen er am engsten vertraut ist. Die militärischen Kennzeichen der Ehrerbietung sind Schweigen und Unbewegtheit.“ Das Hängen ist, wenn es das Hängen nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 ist, dem sich Hermlin widmet, weit vom Würdenträger-Tod entfernt. Man weiß aus Plötzensee von den Drahtschlingen und so gewinnt das 80 Jahre ältere USA-Standrecht unerwartet und sicher unverdient den Anhauch von Humanität.
Hermlin aber interessierte sich für die beispielhafte erzählerische Lösung der schwierigen Aufgabe, die er exemplarisch fand, zugleich aber auch wusste, dass er mit gerade solcher Traditionswahl vor Erklärungsnöten würde stehen können. Er verteidigte Bierce erst einmal gegen Argumente seiner westlichen Herausgeber: „Ein Schriftsteller, gezeichnet von einer dubiosen Brotarbeit, ist immerhin sicherlich so bedeutend wie das, was ihm gelungen ist.“ Will sagen, wer seinen Lebensunterhalt mit Journalismus verdienen muss, sollte nicht seine redigierten Polizeiberichte um die Ohren gehauen bekommen, wenn er ein paar ganz große Stories geschrieben hat. Und genau das hat Ambrose Bierce. Und zwar gleich in einigen Genres, wie selbst die DDR-Auswahl gut belegt, aus der der Leipziger Reclam-Verlag zehn Jahre später, auf neue Entdeckungen zum Ärger vieler Leser verzichtend, noch einmal eine Auswahl traf. Wer mehr will, kann neben den verschiedenen Einzelsammlungen längst auch auf den vierbändigen Bierce von Haffmanns zurückgreifen.
Hermlin verteidigte Bierce gegen den Vorwurf des Pessimismus und zwar nicht auf die sonst durchaus verbreitete etwas dümmliche DDR-Weise, die dennoch in ihrer Wirkung wichtig war, den Pessimismus mit vermeintlichen oder tatsächlichen Optimismus-Spuren zu entkräften, sondern mit dem klaren Hinweis, dass Pessimismus berechtigt sein kann und ertragen werden muss. In der DDR, wo die Sonne die Gewohnheit hatte, im Osten aufzugehen und dann im übertragenen Sinne am Horizont stehenzubleiben, war solche eigentlich banale Aussage Bekenntnis und wurde als solche auch wahrgenommen. „Bierce selber ist der Chronist einer neuen Apokalypse“, schrieb der Marxist Hermlin ziemlich unmarxistisch. Und wies auf den „schwarzen Humor“ des Amerikaners hin, einen Humortyp, der in der DDR bis zu ihrem Ende offiziell auf eine gewisse Hartleibigkeit stieß, sich sonst aber großer und wachsender Beliebtheit erfreute. Ein Staatswesen mit permanenter Neigung zur Produktion von Realsatire ist immer ein idealer Nährboden für solche Schwärze.
Da wäre die Kuh. Sie hat, Tante Patientia gehörend, die sich in einen Landwirtschaftsbetrieb nicht vollkommen passgerecht einfügende Angewohnheit, alles und jeden folgenreich zu treten. Von der Tante schreibt Ambrose Bierce: „Es war zwecklos, meiner Tante Vorstellungen zu machen: Sie gab alles zu, ließ aber alles beim alten.“ Das durfte im 19. Jahrhundert vielleicht noch archetypisches Frauenverhalten genannt werden, führt jedoch für die genannte Tante im Ergebnis des vermeintlichen, von einem pfiffigen Methodistenpfarrer organisierten Lernprozesses bei der Kuh zu eine finalen Pointe, die so beschrieben ist: „Ach Gott, wie platt sie die gute alte Dame gegen die nächste Mauer klatschte! Mit einer Maurerkelle wäre das nicht so glatt geraten.“ Eine gesonderte Argumentation gegen die Behauptung, Bierce sei ein humorloser Mann gewesen, ist da wohl als überflüssig hinreichend belegt. Das unlängst erst wieder in der bisher umfassendsten Ausgabe vorgelegte „Des Teufels Wörterbuch“ (Manesse 2013, Übertragung Gisbert Haefs) setzt Stoff anderer Art hinzu, der den Beleg unterstützt. In der ZEIT vom 28. Dezember 2006 hat Wolfgang Müller Bierce einen „humorlosen Ankläger“ genannt, was aber ein anderes Paar Schuhe darstellt.
„Ein Offizier eigener Art“ ist Hauptmann Ransome, der eine Batterie Artillerie befehligt. Ihm ist aufgetragen, bei der geringsten Bewegung vor seiner Stellung unverzüglich das Feuer zu eröffnen. Seine Stellung ist, was man unfreundlich ein Himmelfahrtskommando nennen könnte und den Befehl begleitete der ausdrückliche Hinweis, sich keinerlei eigene Gedanken zu machen. Ransome lässt feuern und zwar wegen der Wirkung auf die größere Zahl an Feinden mit Kartätschen. Die dumme Pointe: Es sind nicht Feinde, auf die er schießt, sondern die eigenen Leute, die die Flanke verstärken sollen. Der Hauptmann nimmt das gegen ihn verhängte Todesurteil hin, ohne sich zu verteidigen. Mit so viel Humor wollte er seine Ankläger dann doch nicht verwirren, die nicht eine Sekunde bedenken, dass ihr eigener Befehl ausgeführt wurde, buchstabengetreu und befehlsgemäß ohne jeden eigenen Gedanken. Gab es nach dem amerikanischen Bürgerkrieg Kriege, in denen Ähnliches nicht vorkam?
Es liest sich heute mehr als makaber, wenn DDR-Stimmen wie Wirzberger den Vorwurf artikulieren, Bierce sei leider nicht in der Lage gewesen, den Charakter des Bürgerkrieges zu erkennen. „Daß der Bürgerkrieg ... ein gerechter, dem Fortschritt und, trotz seiner Leiden und Opfer, der Menschlichkeit dienender Krieg war, blieb Bierce verschlossen.“ Hundert Jahre nach dem mexikanischen Tod ohne nähere Umstände muss die Blindheit des Erzählers Ambrose Bierce gelobt werden. Der Menschlichkeit dienende Kriege sind bestenfalls die Erfindung von wegen Plattfüßigkeit ausgemusterten Ideologen, wahrscheinlicher aber der bodenlose Zynismus im Erfindergeist von Leuten, denen bei Krieg zuerst einfällt, wie man daran verdienen kann. Bei Ambrose Bierce ist einer davon der Schwager von Brigadekommandeur Jupiter Doke. Der selbst bei der Flucht im Nachthemd aus dem Fenster ein Heer von Mauleseln zum gefühlten Tornado macht. Für den Feind selbstverständlich