Anklopfen bei Ernst Blass
Woran erkennt man, dass eine vermeintliche Belanglosigkeit doch keine ist? An einzelnen Sätzen. Einer lautet: „Es ist schwer, im Unglück nicht zu posieren.“ Eine bemühte Reminiszenz an ein Urlaubserlebnis in einem Ostseebad verwandelt sich plötzlich in etwas, das innehalten lässt. Plötzlich zeigt sich, dass ein doch arg junger Mann, Autor Ernst Blass war eben 22 Jahre alt, als die Zeitschrift „März“ 1912 die kleine Erzählung in ihr Heft 11 aufnahm, zu Selbstironien fähig ist. Distanz gewinnen kann zu Erlebtem, dem er Form geben will im wohl nicht unterdrückbaren Bewusstsein, dass die Oberflächenebene doch hart an Dürftigkeit grenzen könnte. „Heute spüre ich in wundenloser Trauer den Glanz der Weiten.“ Das lässt noch nicht sehr viel erwarten.
Denn natürlich hat kein Weltereignis den Erzähler ereilt an der See, es ist, überraschungsfrei, eine junge Frau namens Ada, die eine Freundin namens Else hat. Man sah sich auch in Berlin am Wittenbergplatz. „Als sie auf einem Karussellpferd saß, verschob sich ihr Rock etwas. Es war wohl der Gipfel dieses Sommererlebnisses.“ Schon klar, wir finden uns vor dem ersten Weltkrieg in jener wundersamen Zeit, da Arthur Schnitzlers „Reigen“ Pornografie-Vorwürfe auslöste, da Carl Sternheims „Die Hose“ mit Erfolg Phantasien beflügelte und das auf wohlkalkulierte Weise. Noch heute verschaffen kalkulierte Bühnenskandale Autoren einen Sitzplatz auf der Wartebank des Nachruhms. Ernst Blass verlebendigt uns gut hundert Jahre später, was einst so Gipfel waren.
„Alles ist so zufällig im Leben. Und eines Tages wird man es beenden, nicht weil die Zeit erfüllt ist, sondern weil der behandelnde Arzt ein Esel ist.“ Man darf es Facettenreichtum nennen, dergleichen Prosa-Zutaten. „Tagelang fanden in meinem Gehirn hitzige opernhafte Dialoge statt.“ Ist das unbewusste Abwehr gegen Kitschvorwürfe, ist das berechnete Brechung von Stimmung, die eben vermeintlich aufgebaut wurde? Man ist froh, den heute kaum mehr erträglichen Sprachkrampf expressionistischen Prosa-Mühens nur in Spurenelementen vorzufinden, der Rest ist leserfreundlich. Und selbst der Leser kommt auf seine Kosten, dem es wohltuend ist, eigene Abwehrkräfte in sich mobilisieren zu können anhand von Literatur, die sich nicht mehr wehren kann. „Sie hatte stehend etwas von einer Antilope, nein: von einem Rennpferd.“
Man muss nicht dem Beirat der „Emma“-Redaktion angehören, dergleichen Bildlichkeit anstößig zu finden. Aber es geht ja wenigstens noch weiter: „Von einem Rennpferd. Unernstes, Sportshaftes, Gespanntes, Lachzitterndes. So war Ada.“ Lachzitternd ist genehmigt, verehrte Mitgliederinnen der Wächterräte. Eine verzichtbare Passage zu einem Onkel, der sonst keine weitere Rolle spielt in der Ostseereminiszenz, hat Potential, an einen gewissen Heinrich Heine zu gemahnen, welchem ein wohlhabender Onkel zu Hamburg manche Boshaftigkeit eingab und Blass-Leser dürfen für sich festhalten, dass schon der Anfänger vielleicht voll Tücke intertextuelle Bezüge vermauerte in seine Erzählprosa.
Der Erzähler stellt sich mit Blick auf jenen Onkel eine Frage, die Aufnahme in jeden gut sortierten Zettelkasten von Maximen und Reflexionen verdient: „Soll man sein Leben damit verlieren, daß man gegen ganz unerhebliche Gestalten Schimpfwörter heraufzeugt? Soll man eines Tages sterben, indem man „Hohlköpfe“ murmelt?“ Auch ich bevorzuge die Variante mit den vorsorglich gefalteten Händen auf der Brust, entspannten Gesichtes den Blick auf die versammelte Nachkommenschaft gerichtet, Friede im Herzen, Verzeihen in der Galle. Gab es Hohlköpfe in unserem Leben? Ernst Blass schloss am 23. Januar 1939 für immer seine Augen. Was er tatsächlich murmelte im Jüdischen Krankenhaus zu Berlin, wissen wir nicht.
Der am 17. Oktober 1890 geborene Ernst Blass, Jahrgangsgefährte von Kasimir Edschmid, Walter Hasenclever, Klabund, Anton Kuh, Hans Marchwitza, Soma Morgenstern, Frank Thieß, Kurt Tucholsky, B. Traven, Erich Weinert, Franz Werfel – um nur die bekanntesten zu nennen – wird, wenn überhaupt, am ehesten noch mit Lyrik erinnert. Ja, er war ein einst sehr bekannter, sehr erfolgreicher Dichter, aus dem frühen „An Gladys“ stammt die berühmteste Zeile, die er je zu Papier brachte: „Die Straßen komme ich entlang geweht“. Dreimal bis heute gab diese Zeile den Titel für Bände mit Blass-Gedichten. 1912 hieß der Debüt-Band so, 1980 die erste von Thomas B. Schumann verantwortete Sammlung sämtlicher Gedichte, 2009 die zweite. Das Vorwort von Blass gehört zum Kanon „Theorie des Expressionismus“ (deshalb auch in die gleichnamige Sammlung des Stuttgarter Reclam-Verlages aufgenommen).
Schreibt 1912 ein junger Mann von seinem „Dichterhaupt“, als hätte ihm Geibel die Feder geführt? Natürlich nicht. „Mit weichem Glücke bin ich ganz belaubt.“ widerlegt alle Stehkragen-Verdächte und die letzte der vierzehn Zeilen des ziemlich streng durchgehaltenen Sonetts tut Sahne auf: „Ich bin so sanft, mit meinen blauen Augen!“ Sie hatten ihren Spaß, die jungen Männer, die sich gruppierten um Kristallisationsorte und -personen zu Berlin, wie immer ihre Gedichte ihre Welt zu spiegeln schienen. Für Blass war die Person Kurt Hiller, nur fünf Jahre älter, aber schon Autorität. Hiller erinnerte sich noch am 2. September 1960 im Schiller-Nationalmuseum zu Marbach an seinen einstigen Zögling. Das sei sein mit Abstand bester Gedichtband gewesen. „Unter allen als expressionistisch bezeichneten Lyrikern von Rang ist keiner so typisch berlinisch wie Blass, wenn man will: so typisch westberlinisch.“
„Und als einziger unter ihnen allen war er daher auch Theoret; Theoretiker jener Kunst, deren junger Meister er war. Sein eben erwähntes erstes Versbuch enthält eine der prächtigsten Vorreden, die je in deutscher Sprache verfaßt und gedruckt worden sind.“ Leichthin schreibt einer dergleichen nicht. Kurt Hiller, dem der spätere Weg von Ernst Blass, dokumentiert in den Bänden „Die Gedichte von Trennung und Liebe“ (1915), „Die Gedichte von Sommer und Tod“ (1918) und „Der offfene Strom“ (1921) sicher eher ein Ärgernis war, revidierte 1960 dennoch seine frühesten Urteile nicht. Ein anderes frühes Urteil ist in der DDR-Sammlung „Fortschrittliche Literaturkritik 1890 – 1918“ (Mitteldeutscher Verlag) übrigens unmittelbar nach dem mehrfach genannten Vorwort abgedruckt worden. Es stammt von Rudolf Kayser (1889 – 1964) und veranschaulicht die Art expressionistischen Prosaschreibens, die am raschesten aus der Mode kam und am schnellsten nervte, Carl Sternheim hat sie stellenweise bis zu vollständiger Ungenießbarkeit kultiviert.
Rudolf Kayser gab vor allem seiner Begeisterung Ausdruck: „Ich erzitterte vor der Urgültigkeit dieser Kunst.“ In solchem Zustand sollte man eher nicht mit Anspruch über Lyrik schreiben, könnte man meinen, der gesamte Text ist einer in einer fast endlosen Kette von Verlegenheitsäußerungen, die die Entwicklung von Lyrik begleiten. Sie enthalten zur Sache mit frappierender Regelmäßigkeit wenig bis nichts, streben aber ebenso emsig noch originellen und hyperoriginellen Sätzen in allen nur irgend denkbaren Metaebenen, bei Kayser als Beispiel: „Form läßt sich nicht in Formeln spannen.“ Zu studieren bei ihm auch die sofortige Errichtung von Feindbildern: „Feinde dieser Kunst sind Feinde der Gegenwart“. Nachdenken durfte man schon 1913 nicht über solch forcierte Sätze. Und erst zum Schluss steht einer, der überrascht.
Er lautet: „So kommt es, daß dieses Buch eines der wenigen ist, das nach den großen Gekrönten George und Rilke einen Fortschritt ermöglicht.“ Natürlich wäre ich neugierig, welche wenigen anderen Bücher in Kayser-Sicht gemeint waren und ich argwöhne, Kayser wäre in Verlegenheit geraten, sie zu benennen, denn er nutzt die noch heute munter fortlebende Technik des fälschenden Superlativs. Das Wort Fortschritt aber ist ein Signalwort. Galt nicht die These vom Fortschritt der Kunst in guten Häusern damals schon gut 100 Jahre lang als noch unhaltbarer als die allgemeine Theorie des historischen Fortschritts in so oder so aufklärerisch-frühbürgerlich-liberaler Tradition? Und nun gar Fortschritt der Lyrik? Rudolf Kayser macht Staunen.
Wer heute mit Ernst Blass umgehen will, muss zuerst Dank abstatten. Dank an Thomas B. Schumann. Dem verdankt sich, nach eigenen Vorleistungen, die hier nicht genannt werden müssen, eine wunderschöne dreibändige Ausgabe (Edition Memoria) , die Schumann nicht müde wird, „nur“ Leseausgabe zu nennen, als wäre nicht alles andere Luxus und halbwegs streng genommen auch überflüssig. Die angekündigten drei Folgebände mit weiteren Kritiken, Briefen und Materialien liegen bisher noch nicht vor, soweit ich es sehe. Dabei wäre es allein schon deshalb höchst interessant, sie in den Händen zu halten, weil Blass einst für eine Weile ein festangestellter (!!!) Tanzkritiker war. Heute müssen Zeitungen froh sein, wenn ihre Geschäftsführer nicht auch noch den Chefredakteur ausgründen und ihn seinem Haustarifvertrag mit sich selbst überlassen.
Thomas B. Schumann (Jahrgang 1950) hat im ersten seiner drei Nachworte die bis dahin einzige Dissertation zu Blass in einer Weise geprügelt, wie es sich selten las. Es handelt sich um die Heidelberger Dissertation von Angela Reinthal. „Manche Seiten enthalten gerade mal fünf Zeilen der Verfasserin...“. Hier war einer sehr, sehr sauer. Angela Reinthal hat das nicht davon abgehalten, 2010 ein Materialbuch zu Blass drucken zu lassen im Igel-Verlag. Der wiederum ein achtbares Haus ist, schon weil er, wie Schumann mit seiner Edition Memoria auch, Vergessenes und Vergessene in seinem Programm pflegt, wo rings am Literaturmarkt und im Literaturbetrieb längst nur noch das Saisonware-Karussell rast. Ernst Blass müsste in verschiedenen Längsschnitten jüngerer Literaturgeschichte frisch betrachtet werden. Fehlt er doch ganz oder fast ganz sowohl unter den Expressionisten als auch unter den jüdisch-deutschen Autoren. Fast nur wo Schumann schreiben durfte, steht Blass in gerechtem Licht.
Als Blass sich, 1932, zum zweiten Male ausführlicher zu Georg Heym äußerte, den er bei und mit Kurt Hiller früh traf, schrieb er: „... nie wieder hat mich eine poetische Magie derart lebendig berührt und gezwungen, nie wieder ist ein fremder Traum mir so vertraut erschienen, nie wieder hatte ein Dichter weniger Distanz zu seiner Dichtung...“. Das korrespondiert mehr als erstaunlich mit dem Eindruck, den das berühmteste Blass-Gedicht vermittelt. Er markiert höchst klarblickend einen entscheidenden Differenzpunkt zwischen sich und Heym zwanzig Jahre nach dessen Tod in der Havel. Er gibt damit dem Urteils Hillers recht. „Heym steht allein, zeitlich am Eingang des Expressionismus, aber zeitlos am Anfang jeder Dichtkunst.“ Eitel, entnehme ich dem, war Ernst Blass auch nicht. Und empfehle als Begleittexte „Ertrunken in der Havel“ und „Zweimal Georg Heym“ (am 16. Januar 2012 in meinen Rubriken JAHRESTAGE und ALTE SACHEN) sowie „Ernst Balcke unter Eis“ (JAHRESTAGE am 9. April 2012).
P.S. Der dictum-Verlag Ilmenau empfiehlt ganz neu den „doppelten Ullrich“:
„Meine ärgsten Freunde. Ein Vierhundert-Tage-Buch“; ISBN 978-3-95618-120-7,
Softcover, 19,80 Euro.
„Restsympathien und andere. Tagebuch 2013“; ISBN 978-3-95618-123-8,
Softcover, 19,80 Euro