Nachtwache. Manfred Bieler 80

Wer am 9. Oktober 1989 den SPIEGEL und am 10. Oktober 1989 die FRANKFURTER ALLGEMEINE als Literaturfreund in die Hände nahm, muss aus dem Staunen nicht mehr herausgekommen sein. Am Tag der bis dahin größten Leipziger Montagsdemonstration und am Tag danach räumten die Feuilletons an Elbe und Main einem Roman viel Platz frei, dessen 1934 geborener Autor Manfred Bieler erst seit zwölf Jahren Bundesbürger war, vorher hatte er die Staatsbürgerschaft der Tschechoslowakei inne, noch vorher war er ein DDR-Bürger. Der Roman hieß „Still wie die Nacht. Memoiren eines Kindes“, der Kritiker im SPIEGEL Paul Kersten, der in der FAZ Gerhard Schulz. Beide können auf keinen Fall denselben Roman gelesen haben oder einer von beiden hätte Grund gehabt, sich nach einer Umschulung umzusehen. Kersten, der in einem Vorspann als jemand vorgestellt wird, der selbst an einem Kindheitsroman arbeitet, dessen Titel auch gleich vorsorglich genannt ist, wenn das keine Schleichwerbung war, ist von Bieler in einem Maße rauschhaft begeistert, dass ihm jedes klare Urteilsvermögen verloren gegangen ist. Schulz dagegen ist alles andere als begeistert: „Spätestens hier, auf Seite 13, habe ich mich gefragt, ob Bieler uns auf den Arm nehmen will.“

Die Verwirrung, die ein Roman in keineswegs wirren Köpfen auslösen kann, soll hier trotz des beträchtlichen Reizes, der davon ausgeht, nicht weiter verfolgt werden, nur noch der Hinweis auf den bedenklich substanzarmen Beitrag, den Bruno H. Weder für das Kritische Lexikon der deutschen Gegenwartsliteratur (KLG) verfasste, der offenbar seinerseits ein wieder anderes Buch behandelte, als er sich diese Memoiren mit deprimierender Leidenschaftslosigkeit vornahm. Nur eine kleine Randbemerkung lässt sich nicht unterdrücken. Weder zitiert zum Beleg seiner Lesarten Heinrich Vormweg, Konrad Franke, Walther Karsch, Rolf Michaelis und H. P. Anderle. Wen er, als er auf die unterschiedliche Qualität der Frauen- und der Männergestalten bei Bieler kommend, zwingend hätte zitieren müssen, nämlich Marcel Reich-Ranicki aus dem Jahr 1969, den übergeht er dezent oder hochmütig oder wie auch immer absichtsvoll, wissenschaftliche Souveränität sieht jedenfalls anders aus. Und schreiben konnte Reich-Ranicki ohnehin fast immer besser als Gegner und Neider.

Manfred Bieler, am 3. Juli 1934 in Zerbst geboren, am 23. April 2002 in München gestorben, sogar die Suhler Zeitung FREIES WORT druckte damals einen dpa-Nachruf zweifelhafter Qualität, obwohl sie vorher nie und nochmals nie von Bieler je Kenntnis genommen hatte, musste zeitlebens und danach mit einem Ruf-Problem auskommen. Michael Kleeberg, von dem der liebevollste und verständnisvollste und womöglich auch klügste Artikel über Manfred Bieler stammt, 2010 in der LITERARISCHEN WELT veröffentlicht, schob souverän die leidige (West-)Debatte über E- und U-Literatur beiseite und legte den Finger auf eine Wunde, die im Osten wegen ihrer Bekanntheit schon niemand mehr wahrnimmt seit langem: „Den DDR-Bieler liebte die Literaturkritik, den Emigranten, den „Renegaten“ im Westen, der seine Lektion über den real existierenden Sozialismus gelernt hatte, mochte sie dann nicht mehr, umso weniger als er begann, Erfolg beim Leser zu haben.“ Man könnte eine eigene Studie schreiben über das pejorative Vokabular, das auf Bieler zur Anwendung kam, der einmal den explizierten Kardinalfehler beging, sich in einem Interview zur Verkäuflichkeit als Kriterium für seine Bücher zu bekennen. Man muss einen Autor nur mit Worten wie geschickt oder umtriebig belegen, schon hat er gegen die kurzen Fanmeilen der ewigen HURRZZ-Avantgarde und ihrer bezahlten Klopffechter nie mehr eine deutsche Chance.

In diesen Kreisen gilt es als Vorwurf, wenn einer sich, ohne rot zu werden, auf Fontane oder Thomas Mann oder auf Maupassant oder Dostojewski beruft, wenn er einfache Fabeln bevorzugt und konventionelle Chronologie. Im wirklichen Leben ist es leider immer erst halb zwölf, ehe es um zwölf wird, daran kann man als übersättigter intellektueller Kohlkopf schon mal verzweifeln. Und immer stehen die zahlreichen Leser wie die Deppen da, die nicht begeistert an Textflächen lutschen, sondern zu einer Mittelalter-Roman-Autorin pilgern, die aus ihrer vierzehnten Medicus-Reprise im historischen Kostüm liest und danach sechshundertdreiundzwanzig Autogramme gibt. Bieler ist im Westen den Ruch des Unterhalters nie losgeworden, im Osten hat er so früh politisch-ideologischen Verdacht erregt, dass mit seinen literarischen Qualitäten gar kein Aufhebens mehr gemacht wurde. Im Westen hat die Mehrzahl der Kritiker gar nicht mitbekommen, dass „Der junge Roth“ von 1968 weitgehend identisch mit „Märchen und Zeitungen“ von 1966 war, auch literarische Parodien, im Osten schon 1958 einmal als „Der Schuß auf die Kanzel oder Eigentum ist Diebstahl“ bei Eulenspiegel gesammelt, fiel im Westen erst 1988 unter dem Titel „Walhalla“ auf bei Hoffmann und Campe.

Für den heutigen 80. Geburtstag Bielers habe ich mir das Hörspiel „Nachtwache“ noch einmal vorgenommen, im Augustheft von NEUE DEUTSCHE LITERATUR (ndl) 1963 zuerst veröffentlicht. Ich las es und einige andere mehr im April 1980, im Mai auch die zugänglichen Erzählungen. Mangels damaliger Notizen, das Tagebuch vom 7. April 1980 vermeldet nur die Lektüre als solche für Ostersonntag, den 6. April, an dem ich auch gleich noch „Die lächerlichen Preziösen“ von Moliere nachschob, ist keine Erinnerung rekonstruierbar. Jetzt aber der erste Eindruck wie auch der zweite und dritte: Wie unsagbar blöde war doch die Kulturpolitik dieses ersten Arbeiter- und Bauern-Staates, die sich aus fast durchweg tapferen Arbeitern im Weinberg des Sozialismus Schritt für Schritt und über die Jahre mit beinahe faszinierender Kontinuität erst Kritiker, dann Dissidenten bastelte, die schließlich aus vermeintlichen zu tatsächlichen Feinden wurden. Die wollten alle nur einen besseren Sozialismus, fast alle jedenfalls, und dann wurden sie gebeutelt, gejagt, verschwiegen, getrieben aus Gründen, die nun im Westen tatsächlich niemand auch nur ansatzweise nachvollziehen kann. Im Westen nahm sich die Literatur immer nur selbst ernst, im Osten neigten die üblichen Verdächtigen zur Ansicht, dass zwölf- bis dreißigzeilige Gedichte die Staatsordnung gefährden können, ehe sie die Polkappen zum Abschmelzen bringen.

„Nachtwache“ stellt einen entfernten Verwandten von Strittmatters „Ole Biekopp“ in den Mittelpunkt, einen Genossenschaftsbauern, der am Ende stirbt. Das heißt, er ist am Anfang schon tot und im Sarg, seine Geschichte folgt erst in einer einfachen Rückblende, die ihrerseits wieder einfach chronologisch vorgetragen wird in einer ebenfalls einfachen Stationen-Dramaturgie. Bei so viel Einfachheit wären im Westen wohl die Radios aus dem Fenster geworfen worden, der depperte Osten aber hörte sich das nicht nur an, sondern fand es auch gut. 73 Jahre alt ist dieser Bauer, scheinbar so etwas wie die heimliche oberste Autorität, Genosse seit 1910 (da gab es noch keine Kommunisten, er muss also Sozialdemokrat gewesen sein und zwar einer, der nicht über Zwangsvereinigung laberte, sondern Bürgermeister wurde und Kümmerer mit der üblichen Portion Selbstverleugnung). Er spürt den nahen Tod und es wird kein Tod aus Leiden an der DDR, wie ihn etwa Reich-Ranicki später für Christa Wolfs Christa T. in den kritischen Totenschein eintrug. Albert Rechenthin stirbt, weil die Körperuhr abgelaufen ist. Aber er will noch klären, was geklärt werden kann, will Verfügungen treffen, letztes Gutes tun, Verständnis finden, Entscheidungen erleichtern. Das alles in späten bis sehr späten Privatbesuchen bei Menschen, die natürlich alle beschäftigt sind, sich mehr oder minder gestört fühlen. Alle aber hören zu, auch Klook, den er ins Gefängnis brachte. Und Anna bekommt regelmäßig Blumen von ihm, die er auf Monate im voraus bezahlt hat, und glaubt, sie kämen von dem, den sie immer noch liebt.

Kritisch sieht Manfred Bieler seinen Helden an keiner Stelle, der damit zur Instanz ohne Fehl und Tadel wird, also eigentlich nach Wunsch aller Kulturoberen der DDR. In der Tat gibt es zu diesem Hörspiel keinerlei Belege für Ablehnung oder auch nur bescheidenere Einwände. Man müsste sehr genau analysieren, in welchen möglichen Korridor vorübergehender Tauwetter-Phasen dieses wie andere Werke in ihren DDR-Jahren rutschten. Nur dann wird für den Außenstehenden wenigstens ansatzweise verständlich, warum bisweilen Harmlosigkeiten mit härtester Keule getroffen, während ziemlich deftige Deutlichkeiten mit Wohlwollen oder wenigstens schweigend toleriert wurden. „Nachtwache“ übt keine Brachialkritik, aber das Spiel vermittelt ein Realitätsbild, von dem, ebenfalls auf Bieler bezogen, Fritz J. Raddatz einst sehr nachdrücklich forderte, es ernst zu  nehmen. Eine gelernte Schneiderin verdient in der Feldlbaubrigade mehr als in der Verwaltung, als Aushilfe im Kindergarten mehr als als Verkäuferin, wo sie jahraus, jahrein „Hamwernich, hamwernich“ sagen muss. Darüber soll keiner arrogant lachen, nur weil er in anderen Verhältnissen andere private Lebenserfahrungen machte. Literaturwürdig ist es allemal.

Bei Brigitte Reimann findet sich im Tagebuch unter dem 25. Dezember 1961 diese Charakteristik: „ B. ist entsetzlich vital, ein Urvieh, riesengroß, zwei Zentner schwer, Säufer und Fresser und allen anderen leiblichen Genüssen zugetan, gesund, ungläubig, begabt.“ Mit seinem Schelmenroman „Bonifaz oder Der Matrose in der Flasche“ konnte sie nicht allzu viel anfangen, als Bieler aber ins Schussfeld der Obrigkeiten geriet, hielt sie mit ihrer Sympathie nicht hinterm Berg, obwohl sie sich zunächst noch von Erwin und Eva Strittmatter bestärken ließ in ihrer Ablehnung des Buches und seiner Schreibweise. Am 4. Oktober 1964 erinnert sie sich eines Besuchs des DEFA-Regisseurs Kurt Maetzig kurz zuvor, der ihr aus Bielers Buch „Das Kaninchen bin ich“ vorlas die halbe Nacht: „Eine schöne, kluge Geschichte, ganz anders als der überflüssige Bonifaz, und ein Mädchen Maria, das es in unserer neuen Literatur noch nicht gegeben hat.“ Der Film mit Angelika Waller in der Rolle dieser Maria wurde 1965 verboten wie auch die gesamte restliche 65er DEFA-Jahresproduktion. Ausgerechnet von Horst Sindermann, der sich zum Ende der DDR zu einem erträglicheren Image vorgearbeitet hatte als dem bei Biermann mit „Sindermann, du blinder Mann“ formulierten, stammt das schlimme Wort von den „Kaninchen-Filmen“.

Am 9. November 1965 fasste das Politbüro des ZK der SED eigens einen Beschluss über ein Theaterstück von Manfred Bieler, der vier Punkte enthält, wie mit Bieler hinfort verfahren werden soll. Eine wichtige Rolle sollte der berüchtige Hans Koch dabei spielen, der sich 1987 das Leben nahm. Es handelte sich um das Stück „ZAZA“. Es muss den höchsten Genossen geradezu ein Hauptgenuss gewesen sein, falls ihnen der SPIEGEL 51/1969 vom 15. Dezember 1969 vorgelegt wurde, der auf seiner Seite 181 unter der Überschrift „In den sozialistischen Himmel“ die vernichtende Kritik einer Inszenierung des von der SED verdammten Stückes in Tübingen brachte. Laut SPIEGEL zeigt das Stück „eher ein Zerrbild sozialistischer Wirklichkeit, in dem pausenlos gehurt, bespitzelt, denunziert und korrumpiert wird.“ Fast zum Treppenwitz wird die Schlusswendung der Kurzkritik, wenn man auf das Lebensende des erwähnte Theaterbesuchers schaut: „Der Tübinger Professor Walter Jens faßte sich an den Kopf und fragte: „Wo bin ich?““ Sollte er die ersten Anzeichen seiner Demenz tatsächlich schon bei Manfred Bieler gespürt haben?

Michael Kleeberg beendete seine Betrachtung zum Bieler-Roman „Der Mädchenkrieg“ übrigens so: „Soll mir keiner erzählen, dass Bieler von den deutschen Literaturgenossen diesseits und jenseits des eisernen Vorhangs nicht genau dafür – für das schlechte Gewissen, das seine aufrechte Haltung ihnen insgeheim machen musste – abgestraft und ausgegrenzt wurde.“ Der Genossenschaftsbauer Albert Rechenthin wünscht sich von seinem Parteisekretär mit dem sprechenden Namen Freund, nicht mit zusammengebundenen Füßen beerdigt zuwerden, das habe man mit früher mit Landstreichern gemacht. Und er erzählt ihm die Geschichte von den Säuglingen im Wochenheim, die friedlich einschlafen, als ihnen vom Tonband Herztöne vorgespielt werden. „Vielleicht erinnern sie sich an den Ton, sie sind ja noch nicht lange auf der Welt.“ Ob der Traktorist Seeber tatsächlich noch die Wasserleitung gelegt bekommt, die ihn als einzigen im Dorf bisher nicht erreicht, verrät das Hörspiel nicht mehr. Den frommen Wunsch von Michael Kleeberg unterschreibe ich gern: „Aber kein Schriftsteller, der noch begeisterte Leser hat, ist tot.“ Wegen seiner Frömmigkeit.


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