Vor 30 Jahren starb Franz Fühmann
Dass der achte Juli 1984 ein Sonntag war, habe ich nicht recherchiert, ich las es bei Max Walter Schulz, der eine der beiden Trauerreden hielt, die am 16. Juli 1984 in der Berliner Akademie der Künste gehalten wurden zu Ehren Franz Fühmanns, der nur 62 Jahre alt wurde. Ich habe ihn bald eingeholt. Die andere Trauerrede hielt Christa Wolf. Muss darauf hingewiesen werden, dass ihre die bessere war? Auf der Suche nach Spuren dieses Todes aus der Zeit damals stoße ich auf des Landes Seltsamkeiten, in dem er sich ereignete. „Neue Deutsche Literatur“, die vom Schriftstellerverband der DDR herausgegebene „Monatsschrift für Literatur und Kritik“, hatte erst in der Septembernummer Platz für Nachrufzitate, die Nachricht kam nach Redaktionsschluss, lautet die Erklärung, für Oktober dann wäre wohl Zeit gewesen. Dennoch enthält erst das November-Heft ein paar Texte zu Fühmann, die Autoren: Günther Deicke, der Jahrgangsgefährte, Ursula Püschel, die promovierte Germanistin, Kritikerin und zeitweise Angestellte bei der DEFA, Wieland Förster, der Bildhauer und Freund, Christian Klötzer, der Fühmann 1949 in der sowjetisch-lettischen Antifa-Schule 2040 Ogre kennengelernt hatte und ihm offenbar in Berlin später gelegentlich begegnete.
Vor allem aber wurde das Hörspiel „Der Schatten“ abgedruckt, erst gut sechs Wochen vor Fühmanns Tod im Berliner Rundfunk urgesendet. In Buchform erschien es, soweit ich sehe, zuerst in der dialog-Reihe des Henschelverlages aus dem Jahr 1986, dort lassen sich auch weitere Details nachlesen: Musik Reiner Bredemeyer, die Darstellernamen: Simone von Zglinicki, Margit Bendokat, Anne-Else Paetzold, Hanns-Jörn Weber, Gunter Schoß, Hansjürgen Hürrig, Helmut Geffke, Günter Naumann, Angelika Waller, Ulrich Voß und Fred Alexander. Gedauert hat es dreiundsechzigeinhalb Minuten, Barbara Plensat war die Regisseurin. In den Anmerkungen gibt es den Hinweis auf weitere Hörspieltexte im Nachlass, „Der Schatten“ war auf alle Fälle sein erstes Hörspiel. Der Zufall will, dass der todkranke Fühmann am Ursendungstag an Margarete Hannsmann schrieb, es ist der letzte in der Briefauswahl von 1950 bis 1984, den der in diesem Brief auch erwähnte Hans-Jürgen Schmitt herausgab. Darin der Satz: „Mach ich halt Hörspiele und schreib wüste Träume.“ In meiner Ausgabe steckt der Merkzettel aber vor allem wegen Karl Corino, der laut Fühmann die Nephele-Erzählung verrissen hatte: „... na ich glaub, ich hab ganz gut geantwortet. Im Grunde wollen die alle soz. Realismus, bloß umgekehrt rum. - Was kümmerts mich.“
Das wäre ein Satz, der hinter sehr viele Spiegel gesteckt gehörte, seine Bedeutung ist mit dem Untergang des Landes, in dem er geschrieben wurde, keineswegs verloren gegangen. In „Franz Fühmann 90“, nachzulesen in dieser Rubrik JAHRESTAGE vom 12. Januar 2012, habe ich dazu schon ein paar Gedanken festgehalten. Ich bin auch damals, warum wohl, zuerst ins Jahr 1976 zurückgegangen, habe aber nur auf die Tage nach der Biermann-Ausbürgerung geachtet. Die auch da schon berufene frappierende Übereinstimmung meiner privaten und unveröffentlichten Ablehnung von Reiner Kunzes „Die wunderbaren Jahre“ mit der Sichtweise Fühmanns auf dieses Buch bewegt mich immer noch. Es ist dieses Jahr 1976 ein exemplarisches Jahr im schließlich viel zu kurzen Leben Franz Fühmanns geworden. Dem Anmerkungsapparat der Briefauswahl entnehme ich die Information, wie die Staatssicherheit ihre Aktivitäten verstärkt fokussierte und ich sehe beim Nachblättern in dem seinerzeit eine ganz andere Sprache sprechenden Band „Liebes- und andere Erklärungen. Schriftsteller über Schriftsteller“ (Aufbau-Verlag 1972), dass ausgerechnet Günter Rücker über Franz Fühmann schrieb. Wie mag ihm später zumute gewesen sein, als er den Gegenstand seiner Schriftstellerliebe zu bespitzeln hatte?
Hätte Franz Fühmann nur zehn Jahre länger gelebt, hätte er sein Testament zehn Jahre später aufgesetzt, er hätte sich wohl nicht nur das Erscheinen von Hermann Kant, Dieter Noll und Gerhard Henninger an seinem Grabe verbeten. Es bleibt Spekulation, wie sehr ihn die eine oder andere Erkenntnis aus seinen Akten noch überrascht hätte. Immerhin können wir uns angesichts der ja den entsprechenden Personen bekannt gemachten Willensbekundung lebhaft vorstellen, wie schwierig die Entscheidung wurde, wer was tun, was sagen, was schreiben könnte, ohne das Andenken Fühmanns heftig zu verletzen. Es waren wohl nicht nur die frühen Drucklegungstermine, die eine raschere Reaktion der führenden Zeitschriften verhinderte, die „Weimarer Beiträge“ verkniffen sich bis Ende 1984, soweit ich sehe, überhaupt jegliche Reaktion. Und Uwe Kolbes Rede am Grab Franz Fühmanns, die ist DDR-Lesern nicht zur Kenntnis gegeben worden, sie eröffnet mit großer Symbolkraft und Bedeutung auch für Kolbe selbst seine Sammlung „Renegatentermine“ im Suhrkamp-Verlag. Fühmann war der große Förderer Kolbes, ich erinnere mich des später berühmten Heftes von „Sinn und Form“ noch gut, nicht zuletzt, weil Fühmann auch Frank-Wolf Matthies förderte, der 1974 in der Schweriner Abschlussveranstaltung sein Gedicht über den Stasi-Mann unmittelbar nach mir vortrug. Vor mir Sabine Kühn, ich habe irgendwo darüber schon geschrieben.
Das Studium der Briefe Fühmanns aus dem Jahr 1976, allein dieses einen Jahres, eröffnet ein weites, ein fast unabsehbar weites Feld, denn es sind gleich reihenweise Sätze zu lesen, bei denen man verweilen muss. Sie betreffen beispielsweise vernichtend, fast angeekelt vernichtend, den eben neuen elften Band der großen Literaturgeschichte, die Literatur der DDR beinhaltend: „... was mich vor allem immer wieder verblüfft, ist diese Selbstherrlichkeit der Herren Professoren...“ und kurz darauf ganz knapp, der Adressat ist übrigens Gerhard Schneider, dessen bei Koehler und Amelang erschienenes Bändchen „Studien zur deutschen Romantik“ Fühmann eben erst gelesen hatte: „Ich hab's so satt.“ Schon das ist eine Fußnote wert, Fühmann liest 1976 ein Buch, das zuerst 1962 erschien, und versucht das nicht irgendwie zu verschleiern. Er kommt zu Adam Müller und dann zu einem hübschen biographischen Detail: „Ich las mit sieben Jahren den „Faust“ und fand ihn im höchste Grade verbesserungsbedürftig. Daraufhin setzte ich mich hin und schrieb mir den meinen.“ An Konrad Reich schreibt Fühmann über Werner Liersch, „der sich seit Jahren hartnäckig mit schwammigen Kritiken, mit Verlaub zu sagen, an mich geheftet hat“. Wütend aber ist er, weil Liersch einen Briefwechsel zwischen Hans Koch und Franz Fühmann publizierte ohne Rückfrage.
Vielleicht war Fühmann der vertrauliche Umgang mit Koch da auch schon eher peinlich? Und wieder ein Satz: „Ich habe so satt, ich kann es nicht sagen.“ Bei Sigrid Damm bedankt sich Fühmann für deren im Juni 1976 veröffentliche sehr ausführliche Besprechung von „Erfahrungen und Widersprüche“, immerhin 16 Druckseiten in der NDL lang, man könnte überprüfen, wie viele andere Bücher ähnliche Aufmerksamkeit erhielten, es entwickelte sich daraus ein anhaltender Austausch. Fühmann verwahrt sich gegen öffentliche Debatten, die nur privilegierten Eingeweihten verständlich sind: „Unsere Restriktionspolitik auf diesem Gebiet, dieses Bücherkonfiszieren, dieses Vorschreiben, was ein Erwachsener lesen darf und was nicht, dieses Werksurrogate in Gestalt erbärmlicher Broschüren kann ich nicht mehr so hinnehmen.“ Rolf Henrich hat, als Fühmann schon fünf Jahre tot war, das Gesamtphänomen auf den prägnanten Begriff „Der vormundschaftliche Staat“ gebracht. Fühmann über die Möglichkeiten des Vergleichens: „Ich kann einmal mit dem Schlechtestmöglichen vergleichen, das ist das Vergleichen, das wir lieben, und am Faschismus gemessen, steht der Sozialismus in der Tat gut da.“ Vieles frustriert Fühmann, der Weggang von Konrad Reich vom Hinstorff Verlag, die Schullehrpläne, die unwidersprochen Brecht, Neruda und Helmut Preißler in eine Reihe stellen. Fühmann bekennt: „Ich habe keine geistige Heimat...“.
Noch in den Reden und Gedenkartikeln 1984 klingt es da teilweise fast krampfig anders, mindestens aber verschwommen, es wagte keiner, alles auf den Punkt zu bringen, wie hätte es auch gewagt werden können, von außen und später ist da kein Urteil zu fällen. Sogar eine leise Andeutung von Selbstmordgedanken enthält der Brief an Sigrid Damm. An Wilhelm Girnus gerichtet, erklärt er seinen vollständig Bruch aller diplomatischen Beziehungen mit Germanisten wie Horst Haase oder Hans Jürgen Geerdts (auch der ein Jahrgangsgefährte von Fühmann): „Ich will damit nichts mehr zu schaffen haben.“ Dem Freund Wieland Förster gesteht er: „... ich mache jetzt endlich, zum ersten Mal seit dem Vorkrieg wieder, nur was ich will...“. Sarah Kirsch bittet er: „Erzählst du mir was von Italien? Mir treibts hier die Tränen in die Augen, da brauch ich kein Holland.“ Und resigniert an Wieland Förster: „Ich weiß nur, daß es nicht weitergeht so, und daß es so weitergehn wird.“ Er malt sich aus, in einem anderen Land von Bordell zu Bordell zu ziehen, denn er hat erstaunliche Schreibpläne, für die er ein Modell bräuchte. „Auch die Freiheit ist Scheiße.“ endet dieser Brief.
Auf Reiner Kunzes „Die wunderbaren Jahre“ bezogen an Konrad Reich: „... die Gesellschaft macht mich rasend, die solche Bagatellen zu Tragödien wuchtet oder wuchern läßt.“ An Hans-Jürgen Schmitt: „Es ist rundum beschissen, Sie entschuldigen, aber es ist wirklich alles Scheiße.“ An Christa Wolf am 11. November, eine knappe Woche noch bis zur gemeinsamen Unterzeichnung des Protestes gegen die Biermann-Ausbürgerung: „... weil ich alles so unsagbar beschissen finde, inklusive dieser unsäglichen Kunze-Affäre, ein miserables Buch, und eine Aufblähung...“. Sehr diplomatisch formuliert am 16. November der Trennungsstrich zu Professor Hans Joachim Bernhard, Fühmann überlegt, sich generell von einer festen Verlagsbindung zu verabschieden. Was für eine Bilanz dieses Jahres, wie radikal auch die Bewertung des eigenen Schaffens, auf die hier gar nicht weiter eingegangen werden soll. Es bleibt ein halber Satz von Wieland Förster, der der NDL auf deren Bitte um eine Art Fühmann-Nachruf schrieb: „... man sollte nur schreiben, wenn man die Kraft hat, den zu Beschreibenden unversehrt und ungeteilt zu lassen.“ Das ist angesichts des hinterlassenen Werkes von Franz Fühmann kaum stark genug zu unterstreichen. Denn, leicht paradox formuliert, lässt sich sagen: Wer Franz Fühmann mögen will, muss Franz Fühmann auch in Kauf nehmen können. Ich werde das gelegentlich an „Die Suche nach dem wunderbunten Vögelchen“ demonstrieren und verweise zwischenzeitlich auf meine drei Fühmann-Beiträge in der Rubrik BÜCHER, BÜCHER.