Rainer Kirsch. Kopie nach Original

Ein bisschen vergilbt sieht er schon aus, dieser Zeitungsausschnitt. Er darf das, er ist vom 15. März 1991. Es handelt sich um ein Gespräch mit Rainer Kirsch, „dem noch amtierenden Vorsitzenden des in Liquidation befindlichen ehemaligen Schriftstellerverbandes der ehemaligen DDR“. Das Gespräch führte, seltsam genug, Ina Kirsch. Sarah Kirsch, die Ex-Gattin wäre schon sehr überraschend gewesen, wer aber war Ina Kirsch? Hatte der lustige Rainer einer Verwandten ersten Grades einen Honorarjob verschafft oder, wir ahnen es, hat er sich die Fragen vielleicht gar selbst gestellt, und wollte das nur halbwegs abtarnen? Die abdruckende Wochenzeitung hieß FREITAG, zu dem war der SONNTAG mutiert nach einer Fusion, es war die Zeit des allgemeinen Mutierens. Der schriftstellerische Optimismus hüpfte da nicht eben triumphierend auf einem Bein durch die Fußgängerzonen, Herr und Frau Wichtig von eben wurden vom Leseland plötzlich brachial ignoriert, man las Konsalik, BILD und PRALINE, nicht die sächsische Dichterschule, die ohnehin immer gern dem Verdacht Vorschub leistete, primär ein Verein zum Formulieren gegenseitigen Lobes zu sein. Wie auch immer, Rainer Kirsch lieferte sich selbst eine ziemlich schräge Definition von Fortschritt: „... die zivilisatorische Leistung Ulbrichts im Rahmen des realexistierenden Sozialismus bestand darin, daß er das Totschlagen abschaffte, die Honeckers, daß er Künstler lieber auswies oder weggraulte als einsperrte.“ Das kann man stehen lassen.

Weil mich Gedichte über Landschaften, die ich nicht kenne und aller Wahrscheinlichkeit nach auch nie kennenlernen werde, fast ebenso ratlos machen wie Gedichte zu Bildern, die ich nicht kenne und aller Wahrscheinlichkeit auch nie kennenlernen werde, werde ich die Gedichte Rainer Kirschs lieber unbeachtet lassen, ich weiß aus vielfachem Zeugnis, dass sie formstreng sind, sehr formstreng, das wieder ist eine Eigenschaft von Gedichten, die mich zwar nicht ratlos, wohl aber mutlos macht, die Kombination beider Losigkeiten ist, das wird der neutrale Leser zugestehen, kaum geeignet als Liebeshumus. Formstrenge und Geruchsstrenge aktivieren Abwehrreaktionen, wobei ich einräume, das es natürlich auch von der Form abhängt, deren Strenge mir ans klopfende Herz gelegt wird. Also greife ich des Geburtstages wegen zu einem Märchen mit dem Titel „Die Rettung des Saragossameeres“. In ihm gibt es farbige Wale, eine schwimmende Hexe, etliche Millionen Flundern, Schwertfische, die sich töten lassen. Am Ende des Märchen bin ich – ratlos. Halt, sage ich mir, war das etwa auch ein Gedicht, nur leicht inkognito? Konrad Franke, Erzexperte für DDR-Literatur, belehrt mich lexikal, das Märchen „versteckt die Aussage im Fantastischen“. Ich hätte sie dort freilich ganz gern gefunden. Und schäme mich deshalb schon vorsorglich.

Dann aber bin ich doch noch fündig. Ich lege meine insgesamt sechs Rainer-Kirsch-Bücher nebeneinander, sie heißen in der Reihenfolge ihres Erscheinens (alles Erstausgaben) „Kopien nach Originalen“ (1974), „Das Wort und seine Strahlung“ (1976), „Kopien nach Originalen“ (1978), „Amt des Dichters“ (1979), „Ausflug machen“ (1980) und „Ordnung im Spiegel“ (1985), danach habe ich meine kaufende Beziehung zu Rainer Kirsch eingestellt und als er den ehemaligen Verband der ehemaligen DDR abzuwickeln hatte, da war ich längst abgewickelt, weil die Suhler Kleingliederung des ehemaligen Verbandes ihren Nachwuchs schon rauswarf, als etwa Gera daran noch nicht einmal ansatzweise dachte. Zur Strafe ist Gera heute zahlungsunfähig, während es Suhl erst noch versucht, dahin zu kommen. Ein Titel ist hier zweimal genannt, die 78er Ausgabe firmiert auch überall als zweite, veränderte Auflage. Und es ist ein Skandal, dass all die Formstrenge-Begeisterten, die Poetologie-Schnüffler, die sich angelegentlich aus diesem und jenem Anlass, zuletzt dem des siebzigsten Geburtstages 2004, an Kirsch versuchten, nie den Versuch vorführten einer gespielten Neugier, was denn da eigentlich verändert wurde zwischen 1974 und 1978.

Der Untertitel des Büchleins, alle genannten sind eher Büchlein als Bücher, lautet in beiden Fällen „3 Porträts & 1 Reportage“. Zwei der Porträts und die Reportage sind in beiden Ausgaben identisch, ein Porträt aber ist verschütt gegangen. Es stammt aus dem Jahr 1970 und heißt „Der Philosoph Professor Loeser“. Das ist nicht der Titel, der einen alles aus den Händen werfen lässt. Oder doch ein bisschen. Einzige Voraussetzung, die freilich exklusiv genug ist: Man sollte in der Zeit Philosophie studiert haben oder halbwegs nahe daran, um die es geht. Dann ist dieses Porträt ein einziges großes Vergnügen, im Detail wie im Ganzen, man vergisst sehr bald den für Kirsch offenbar konstitutiven Hang zum Manierismus auch in der Prosa und hat alles vor Augen, Ohren, Mund und Nase. Man hört wieder die Debatten von damals, man kennt die Schauplätze. Das große zweibändige Lexikon „Wer war wer in der DDR?“ Band 1 A – L, Ch. Links Verlag, widmet Franz Georg Loeser die reichliche halbe Seite 810. Wir könnten in diesem Jahr am 20. Dezember Loesers neunzigsten Geburtstag feiern, er starb am 21. Januar 1990, nachdem er die DDR 1983 verließ, in die er erst 1956 von England her gekommen war.

Rainer Kirsch macht, sein Porträt wird im Lexikon übrigens als einzige Sekundär-Literatur-Stelle genannt, ein bisschen vorstellbar, was das für ein außerordentlicher Mann war, wie weit er vorausdachte, wie geradezu unfassbar unorthodox er für einen bekennenden Marxisten, für einen SED-Mann war. Der Prozess seines In-Ungnade-Fallens, für den das Aussondern des Porträts in der zweiten Auflage des Reclam-Bandes 586 nur ein Symptom darstellt, wird von Rainer Kirsch natürlich nicht reflektiert, aber er macht fast auf jeder Seite klar, wo die offizielle DDR und ihre Philosophie treibenden Klopffechter anknüpfen würden, wenn es soweit kommt. Es ist so weit gekommen und kann hier nicht nacherzählt werden. Verkürzt gesprochen und sicher auch arg vereinfacht, ist Franz Loeser ein Opfer jenes geistigen Umbruchs nach rückwärts geworden, der sich mit dem ruhmreichen achten Parteitag der SED 1971 für immer in dem Spruch eines tränensackbelasteten und ewig versoffenen Gewerkschaftsbosses manifestierte „Ein Schiff ist ein Schiff und kein schwimmendes System“. Die eben noch bis zur Brechgrenze hofierte Kybernetik war plötzlich fast Unwort und Menschen wie Loeser, die „Deontik“ trieben, standen in manchem Dumpfbackenauge wie Scharlatane da.

Als ich von 1975 bis 1980 an der Humboldt-Universität Philosophie studierte, waren diese Kämpfe bereits ausgefochten, ich erlebte schon die nächste Generation seltsamer Logiker, die in Ungnade fiel, es war ein gefährlicher Wissenschaftszweig damals, diese Logik, obwohl ihre Vertreter von so gut wie niemandem wirklich verstanden wurden und bei all ihren Talenten eins nicht hatten, nämlich ihre Lehre pädagogisch fruchtbringend zu vermitteln. Ich brauchte fast vier Semester, ehe ich halbwegs verstanden hatte,  was dieser ganze formalisierte Kram eigentlich sollte, da war es zu spät, die Disziplin war mir vergrault, die „3“ fürs Diplomzeugnis nicht mehr korrigierbar. Am Anfang von allem aber hatte Franz Loeser gestanden, wieder verkürzt und vereinfacht gesagt. Ich betone das wegen der drei Fachleute, die an solchen Stellen immer krähen, man müsse das viel differenzierter sehen. Ich denke, man sollte es überhaupt erst einmal wieder wahrnehmen, Differenz kommt später. Rainer Kirsch hatte ja in den 50ern selbst ein wenig Philosophie studiert, das war die Zeit, als die Ethik aus dem Ruch kam, eine bürgerliche Wissenschaft zu sein, einige Wissenschaften hatten damals diesen Ruch, heute kann man darüber kaum noch lachen, damals war es böser Ernst. Man flog von der Uni wegen Ernst Bloch und man durfte den Proleten mimen zur Bewährung, das stärkte das Verhältnis zum führenden Proletariat ungemein, das als Strafbataillon dienen musste. Dergleichen zu begreifen, waren die Entscheider aber einfach zu blöd.

Während ich zu Franz Loeser nie ein Verhältnis gewann, hatte ich zu seiner Frau ein prägendes. Denn sie zelebrierte im Fernsehen der DDR den Sprachkurs „English for you“, der für mich 1967 verbindlicher Unterrichtsstoff wurde, was immerhin zum Kauf eines Fernsehers in meiner Familie führte und zu einer „4“ auf dem ersten Zeugnis danach, denn mein bisheriger Englisch-Kurs in den Schuljahren 7 und 8 hatte für dieses Fernsehenglisch keinerlei Voraussetzung geschaffen, es war einfach Anton und Tamara auf Englisch gewesen, alte DDR-Bürger erinnern sich vielleicht an Anton und Tamara in Schuljahr 5, Russisch. Franz Loeser aber, der offerierte seinem Gesprächspartner Rainer Kirsch Gedankenspiele, die dem vermutlich kurzzeitig die Sprache verschlugen: „... heute würde einem Professor, der einem Studenten zehn Mark stiehlt, das womöglich Professur und Parteibuch kosten; was aber geschieht mit ihm, wenn er langweilige Vorlesungen hält, ermüdende Sitzungen einberuft und in Veröffentlichungen lange Bekanntes breitwalzt, das heißt der Gesellschaft große Mengen unwiederbringlicher Zeit stiehlt?“

Mal abgesehen davon, dass damals offenbar vollkommen unreflektiert Parteibuch und Professur nur zusammen gedacht wurden, ist das ein rasanter Gedanke von noch rasanterer Aktualität. Gerade hat eine große Zeitung öffentlich darüber gehandelt, dass Powerpoint in Hörsälen Studenten verdummt. Mir war das vor zwanzig Jahren klar, als ich eine erste derartige Medienwissenschaftsvorlesung an der Ilmenauer TU erlebte und mich wunderte, dass zu so etwas überhaupt Studenten kommen. Wir wären bei Humboldt zu so etwas einmal und dann nie wider erschienen. Bei uns war Vorlesung Vorlesung und die war war entweder toll, wir kamen, oder sie war irgendwo nachlesbar, dann kamen wir nicht. Punktum, eine sehr einfache und radikale  Lösung, die faulen Professoren gut Beine machte, wenn sie es denn je merkten. Rund um den scheinbar ganz harmlosen Begriff der Redundanz baute Loeser vor Kirsch, ohne es zu explizieren, eine Hardcore-Kritik am allgemeinen Parteischwafel auf. Der zeichnete sich wie keine andere Sprech- und Schreibweise ja eben dadurch aus, dass ein Maximum Verbalität mit einem gen Null tendierenden Minimum an Neuwert verbunden war. Das ohnehin DDR-übliche Zwischen-den-Zeilen-Lesen war beim Parteichinesisch für die Glieder der Hierarchie überlebenswichtig, denn Klartext kam einfach selten bis nie vor.

Franz Loeser entwickelte in seinen Büchern in beinahe hyperaktiver Weise neue Ideen, er hatte die Visionen, von denen heute überall gefaselt wird, im Feld seiner ureigenen Wissenschaftsgebiete. Die Mathematisierung der Gesellschaftswissenschaften musste natürlich jenen Fachvertretern Angst und Schrecken machen, deren ultima ratio in Begriffen wie „Klasseninstinkt“ steckte. Rainer Kirsch hat griffsicher aus dem vermutlich vielfach umfangreicheren Material der mehrfachen Gespräche mit Loeser eine einzige Provokation gebaut. Das geht bis zur selbstverständlichen Rehabilitation des widersprüchlichen Charakters, der dies nie hätte gebraucht haben dürfen, wenn denn in diesem verlogenen Pseudo-Marxismus der offiziellen DDR wirklich dialektisch gedacht worden wäre. So aber musste ein Schriftsteller im Verein mit einem Philosophen eine offene Tür einrennen und durfte dafür zu Recht Dankbarkeit ernten. „Werden sich aber Ethiker finden, die fordern, den Angehörigen der eigenen Klasse solle man in jedem Falle die Wahrheit sagen?“  So einfach die Frage, so unendlich das damit verbundene Problem der praktischen Parteipolitik, die das bürgerliche Bildungsprivileg durch das sozialistische Informationsprivileg übergangslos ersetzt hatte.

Rainer Kirsch hat zu erklären versucht, woher die Widerstände kamen, die sich Loeser schon entgegen stellten, als die Ungnade noch nicht ausgebrochen war, dabei der frappierend hübsche Gedanke, dass den dominierenden Ethikern die moralische Größe fehlte, einen neuen Ansatz in ihrer eigenen Wissenschaft hinzunehmen. Wenn ich an meine Ethik-Vorlesungen und die dazu gehörigen Seminare denke, kann ich nur sagen, oh ja, oh ja. Bei Rainer Kirsch zu Loeser auch andere ganz klare Sätze: „Wie dem immer sei, müssen wir hier sagen, daß der mögliche Mißbrauch einer Wissenschaft kein Argument gegen deren Entwicklung ist. ... Die Möglichkeit, Erkenntnis zu missbrauchen, ist der Preis für den Fortschritt.“ Das Zugeständnis an den üblichen Kotau vor der führenden Rolle der Sowjetunion ist in diesem Kirsch-Text das Lob des Sowjetautors Mark Popowski, von dem vermutlich bis dahin noch nie jemand gehört hatte. Das Verfahren gilt in der vereinigten Bundesrepublik unverändert fort, nur sind es hier Jahr für Jahr sieben bis neunzehn bis dahin völlig unbekannte US-Autoren, denen das überraschende Lob gesungen wird. Für Sonnabend hat NEUES DEUTSCHLAND ein Interview mit Rainer Kirsch angekündigt. Na dann.  Sein Archiv hat er schon Ende 1991 an die Akademie der Künste gegeben. Für die Forschung. Mal schauen, wann die damit aus ihrer Deckung kommt.


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