Dora Wentscher: Die Schule der Grausamkeit
Wer sich auf die Suche nach halbwegs detaillierten Angaben zu Dora Wentscher macht, die heute vor 50 Jahren in Erfurt starb, nachdem sie zuvor seit ihrer Rückkehr aus dem Exil in der Sowjetunion in Weimar gelebt hatte, wird weit und breit auf ärgerliche Weise enttäuscht. Zu wiederholen wäre, was ich am 16. November 2011 bereits zu Dora Wentschers Lesedrama „Heinrich von Kleist“ festhielt (nachzulesen in meiner Rubrik BÜCHER, BÜCHER). Die Exilforschung der DDR billigte ihr eine nur höchst marginale Rolle zu, man erfährt in den sieben Bänden des Leipziger Reclam-Verlages zum Gesamtthema Exil schlicht gar nichts über das, was die 1883 geborene ehemalige Schauspielerin in Prag ab 1933 und in der Sowjetunion ab 1935 tatsächlich tat, schrieb, erlebte. Nicht einmal die einfache Tatsache, dass sie in Moskau vergeblich versuchte, Mitglied des Schriftstellerverbandes zu werden, ist den DDR- Quellen zu entnehmen.
Das lässt sich nur bei David Pike finden, der in seinem „Deutsche Schriftsteller im sowjetischen Exil 1933 – 1945“ mitteilt, dass 1940 wegen einer zu geringen Zahl von Veröffentlichungen neben Dora Wentscher auch Gregor Gog, Alfred Durus und Hans Rodenberg die Aufnahme verweigert wurde. Das Lexikon „Schriftsteller der DDR“ erwähnt für die Zeit nach 1918 Mitarbeit an der „Schaubühne“ sowie an Alfred Polgars „Frieden“, doch weder bei Polgar noch bei Tucholsky noch bei Ossietzky enthalten die Personenregister der Ausgaben, die ich zu Rate zog, je den Namen Dora Wentscher. Ein uraltes indirektes Lebenszeugnis von ihr besitze ich selbst: der einst berühmte Kritiker Julius Bab (3. Juli 1883 bis 12. Februar 1955), nur vier Monate älter als Wentscher, nahm ein Exemplar seines 1912 im Berliner Osterheld & Co Verlag erschienenen Gedenk-Buches „Kainz und Matkowsky“ über zwei der großen Bühnenstars der damaligen Zeit, um eine persönliche Widmung für Dora Wentscher mit feiner Feder hineinzuschreiben.
Die Widmung stammt vom Oktober 1912, ihr ist ein nicht komplett lesbares Zitat eines Otto von Heister vorangestellt, zu dem ich leider auch keine Angaben machen kann. Welche Rolle Dora Wentscher wo spielte, wo Bab sie kennen lernte oder schon kannte, alles weiße Flecken, die sich möglicherweise in den Berliner Archivbeständen aufklären ließen. Das DDR-Lexikon erwähnt neben ihrer Tätigkeit als Schauspielerin auch die einer Malerin und Bildhauerin ohne jede nähere Zeitangaben, dann den Beitritt zur KPD 1929. Die in Renate Walls „Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen im Exil 1933 – 1945“ angeführte Mitgliedschaft im Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller fehlt im DDR-Lexikon, ebenso die Auszeichnungen mit dem Vaterländischen Verdienstorden der DDR in Bronze und der Medaille „Kämpfer gegen den Faschismus“. Und schließlich fällt an beiden Lexika auf, dass zur literarischen Qualität des Werkes im Prinzip nichts oder fast nichts gesagt wird, das DDR-Lexikon sieht die Erzählungen „in zuchtvoller Sprache“ geschrieben.
Wenn 1962 als offenbar letztes Buch zu Lebzeiten unter dem Titel „Flößstelle Iskitim“ ein „Sibirisches Tagebuch 1941/42“ gedruckt wurde, gewidmet dem „geliebten Gatten, Genossen und Freund Johannes Nohl“, dann wüsste man schon gern mehr an Fakten, denn im Juni 1962, als Dora Wentscher das knappe und wenig besagende Vorwort für das Tagebuch im Volksverlag Weimar zu Papier brachte, waren eben nicht nur Gagarin und Titow, Gaganowa und Mamai Namen, die Aktualität verkörpern sollten, es hatte auch KPdSU-Parteitage 1956 und 1961 gegeben und deren Auseinandersetzungen mit der Zeit unter Stalin, die Dora Wentscher hautnah, offenbar auch in Sibirien, erlebt hatte. Für eine 1956 im Volksverlag Weimar veröffentlichte Sammlung mit dem Titel „Helden, Frauen und Knechte“, der Titel setzt die Tradition unglücklicher Titel für Wentscher-Bücher seltsam konsequent fort, schrieb Louis Fürnberg ein Vorwort, das ihm kein gutes Zeugnis ausstellt. „Es ist mir seit langem ein Rätsel, daß Dora Wentscher noch lange nicht bekannt und ihr Werk noch lange nicht gelesen genug ist“, meinte er gleich eingangs.
Die Lektüre von „Die Schule der Grausamkeit“ aus dem Jahr 1941, um die es zum heutigen Todestag gehen soll, liefert freilich eine brutale Erklärung des angeblichen Rätsels. Diese 56 Seiten lange Erzählung (in der Ausgabe mit dem unsäglichen Titel „Vergangenes nicht Vergessenes“, der noch als Untertitel schlecht gewesen wäre, was im Volksverlag Weimar 1947 offenbar jedermann vollkommen gleichgültig war) ist ein Dokument derart frappierender literarischer Unfähigkeit, dass man es zunächst gar nicht glauben mag. Die „zuchtvolle Sprache“ des Lexikons, das immerhin ist nach Lektüre des Vorworts von Louis Fürnberg für die spätere Sammlung, die „Die Schule der Grausamkeit“ ebenfalls enthält, dort mit der Angabe 1939/1941, festzuhalten, ist schlicht von Fürnberg übernommen. Der sieht bei Dora Wentscher „alles, was gute Prosa auszeichnet“. Und eben: „... zuchtvoll, wahrhaft durchblutet und beseelt, gewährt Dora Wentschers Stilkunst einen hohen Genuß“. Genau das tut sie eben nicht, im Gegenteil, es steigen, um es vorwegzunehmen, einem alle paar Zeilen die Tränen in die Augen angesichts schräger Bilder, unpassender Vergleiche, kenntnisloser Sachaussagen und jämmerlicher Fehler.
Nicht zu reden ist davon, dass man dieser langen Erzählung bis zum Ende keine Erkenntnis davon abgewinnen kann, was die Erzählerin eigentlich erzählen wollte, wo sie eine Erzählperspektive gewählt zu haben meint, die motivfrei urplötzlich wechselt. Es gehen Sprachebenen munter durcheinander und das wirkt eben nicht wie Stil, sondern wie Unfähigkeit zur Selbstkontrolle. Louis Fürnberg hat natürlich den didaktischen Zug an Dora Wentscher bemerkt und versucht, ihn sich und den Lesern schönzureden. Diesem ohnehin fast immer ärgerlichen Zug in Erzählprosa fügte Dora Wentscher jedoch eine himmelschreiende Unkenntnis deutscher realer Verhältnisse bei, auf deren Basis höchst folgerichtig alle Didaktik sich gegen ihre Verkünderin kehrt. Ich gebe zu, dass mich David Pike just auf diese Erzählung gelenkt hat, die er als einzige in seiner Exil-Darstellung gleich mehrfach erwähnt. Und bin froh, für heute doch auf „Tante Tina“ verzichtet zu haben oder auf „Der Typ“, der immerhin Malerinnen-Erfahrungen der Autorin zu verarbeiten scheint.
In schlagender Art beweist Dora Wentscher mit ihrer in der Sowjetunion weit weg von deutscher Realität, sehr nah aber zweifellos an deutschem kommunistischem Wunschdenken geschriebenen Erzählung, wie recht Klaus Mann hatte, der Exilautoren quasi im Generalverdacht rasant wachsende Unfähigkeit unterstellte, deutsche Verhältnisse realistisch darzustellen. Dora Wentscher hat von nahezu keinem kennzeichnenden Realitätszug der Nazidiktatur eine Vorstellung. Bei ihr gehen munter und peinlich SA, SS und Gestapo durcheinander, sie weiß nicht, in welcher Dienstform welche Dienstgrade üblich sind, wer wofür zuständig und womit befasst ist. Es kommen bestimmte Fakten schmerzlich auffallend gar nicht vor, beispielsweise gibt es keinen Krieg gegen Polen, dafür aber den gegen Belgien, Holland und Frankreich und dann den gegen die Sowjetunion. Himmelschreiend ist die Behauptung, das OKW (Oberkommando der Wehrmacht) habe 245 deutsche Divisionen in die Sowjetunion einmarschieren lassen, ohne sie in Kenntnis zu setzen, wohin sie marschierten. Es fällt kein Wort über Judenausrottung. Dafür aber wird der Anschein erweckt, als hätten SS, Einsatzgruppen und Gestapo in Dörfern einen extremen Ermittlungsaufwand betrieben, um ein paar Kolchosfunktionäre herauszufinden.
Ohne Not, denn für ihre Geschichte gibt es dafür keine Notwendigkeit, baut sie ihrem Anti-Helden eine rasante Biografie mit Teilnahme und permanent wachsender Verantwortung für allerlei Verbrechen, sie erfindet vollkommen frei eine Stärke des Widerstands in Deutschland und Widerstandsaktionen, wie sie tatsächlich auch nicht ansatzweise irgendwo tatsächlich vorkamen. Fast wie eine lässliche Sünde wirkt es da, dass ihre beiden Hitlerjungen kurz nach der Machtergreifung siebzehn Jahre alt sind, als sie zu Bewährung und Stählung an grausamen SA-Foltern teilnehmen dürfen. Drei Jahre später, 1936, ist einer der beiden, die 1933 siebzehn waren, schon 23, er hat also drei komplette Jahre ausgelassen, zwei weitere Jahre später ist er fast 24, eines der Jahre ist also auf wundersame Weise zurückgekehrt. Wenn die Autorin so etwas nicht merkt in einer mehrere Jahre alten Erzählung, dann sollte es dem Lektor wohl auffallen, oder gab es 1947 keine Lektoren, die aus schlechten Texten wenigstens die ganz unerträglichen Fehlleistungen herausfischten? Wenige Jahre später soll angeblich ein Lektor aus einem nicht druckbaren Manuskript den Welterfolg „Nackt unter Wölfen“ geformt haben, für den freilich nicht der Lektor den Ruhm einsteckte.
Zu Dora Wentschers Verteidigung darf David Pike herangezogen werden. Sie war keineswegs die einzige, die Wünschenswertes als Realität behauptete, einige der Namen, die Pike dafür heranzieht, sind dem älteren DDR-Leser durchaus noch in unterschiedlichem Maße vertraut: Andor Gabor, Berta Lask, Hans Günther, Erich Wendt, Albert Hotopp. Er verheimlicht auch nicht, dass natürlich nicht wenige Exil-Kommunisten in Stalins Sowjetunion nicht nur zu leiden hatten, sondern auch ihr Leben verloren, Hans Günther ist ein Beispiel. Bei der Aufzählung von Werken freilich, die im GULag unterdrückt wurden, verschwanden oder schlicht nicht gedruckt wurden, kommt Pike zu einem vernichtenden Fazit: „Es besteht jedoch wenig Anlaß zu der Vermutung, daß im GULag literarische Meisterwerke zugrunde gingen oder in irgendwelchen Schreibtischschubladen verschwanden.“ Es darf gefahrlos vermutet werden, dass er damit zutiefst recht hat. Denn seine knappe Bewertung von „Die Schule der Grausamkeit“ bestätigt seine Kompetenz, sie sei hier nachfolgend zusammenhängend zitiert.
„In der ursprünglichen Erzählidee steckt durchaus Potential zu mehr: es ist die Geschichte zweier siebzehnjähriger SA-Mitglieder, die beim Verprügeln gefangener Kommunisten ihr Handwerk lernen und zugleich die Fähigkeit üben, mit ihrem schlechten Gewissen ins reine zu kommen. Aber hier gleitet der Autorin die Geschichte schon aus der Hand, da sie weder versiert genug ist, die Zweifel und Vorbehalte, denen die beiden jungen Männer ausgeliefert sind, überzeugend darzustellen, noch deren unterschiedliche Entwicklung plausibel zu machen vermag. Es wird nicht einsichtig, warum der eine, nachdem beide wegen eines verdächtigen Nachtgesprächs ins Konzentrationslager gesteckt worden sind, für seine frisch erworbene Hitler-Gegnerschaft sterben muß, während der andere durch Anpassung an die Situation wieder freikommt, innerhalb der SA aufsteigt und schließlich, jetzt als SS-Offizier, selbst Kommandant eines Konzentrationslagers wird. Dora Wentscher bemüht sich, die Gedankengänge und persönlichen Motive dieses Mannes nachzuvollziehen, seine Überzeugungen von seinen Karrierewünschen zu trennen usw., aber abgesehen von der Standard-Botschaft, daß der Widerstand gegen Hitler allgemein verbreitet sei, ergibt die Geschichte wenig Sinn.“
Da David Pike nicht erkennen lässt, ob er noch mehr von Dora Wentscher kennt, soll, was er nicht erwähnt, nicht als Fehlleistung gedeutet werden. Vor allem wäre da die ausgesprochen gewalttätige Rachephantasie zu erwähnen, die im Denken Dora Wentschers, sonst kehrte sie nicht an verschiedenen Stellen wieder, offenbar eine starke Rolle spielte. Dass sie in „Die Schule der Grausamkeit“ berittene Partisanen mit einem Volksaufstand im Dorf kombiniert, hat wie sehr vieles andere auch in dieser Erzählung heftigste Kolportagezüge. Es ist eben nicht einfach zu tolerieren oder gar zu übersehen, dass sie in der stupidesten Weise ihre Arbeiter-Helden, die auch immer „echte“ Arbeiter sind, nie Bündnispartner der Arbeiter im kommunistischen Verständnis, mit körperlich und moralisch edelsten Zügen ausstattet, alle sind im kommunistischen Sinne blond und blauäugig, während ihre Gegenspieler durchweg mit körperlichen Mängeln ausgestattet werden, die auf die Erregung von Ekel abzielen. Wobei es nur übler Kitsch ist, wenn sich die ranghohen Verbrecher in feinsten Glacé-Handschuhen den Schweiß mit edlen Seidentaschentüchern aus der Brusttasche abwischen und sich anschließend in eben diese Tücher schnäuzen.
Eine kleine Blütenlese soll das Gedenken abrunden, das eben nicht zum falschen Schluss führen möge, von Dora Wentscher sei fortan auf immer zu schweigen. Immerhin sind von ihr verkörperte Literaturleistungen epochentypisch, darüber hinaus kann man unter Umständen an grusligen Fehlleistungen mehr lernen als am Roman dieses Herbstes, des nächsten Wochenendes oder der Generation XYZ.2. Und, das ist vielleicht die Hegelsche List der Geschichte, es gibt ein paar Stellen, die man, freilich komplett antiintentional gelesen, als Kommentare zur anderen totalitären Mörderdiktatur, der Stalins nämlich und, embryonal, seiner Vasallen lesen kann. „Die Stahlruten hingen schlaff in ihren Händen.“ „Jähzornige sind meistens gute Menschen.“ „Ein klumpiges Gefühl schwerer Unlust lag ihnen auf der Brust.“ „Steeger und Warnke sprangen auf und standen stramm wie Puppen am Faden.“ „Auf einem elfenbeinernen Briefumschlag fand sich eine Adresse.“ „Er konnte sich nicht von den raffinierten Freuden losreißen, die sie ihm gewährte.“ „Alle Henker werden mit der Zeit furchtsam.“ „Sie machten finstere Gesichter. Sie waren selber Bauernsöhne.“ „Wir haben die Kulaken und die Verräter zerschmettert.“ „Die unbewaffneten Bauern krochen an der Erde entlang, den verwundeten Soldaten den Garaus zu machen.“ „Edwin Steeger endete unter den erbarmungslosen Schlägen der Bauern und Bauernweiber von Ch.“
Dora Wentscher lässt ihren Edwin Steeger als Zuhörer und Zuschauer an einem Schauprozess gegen sechs Arbeiter teilnehmen, einer ist der, dem Steeger einst mit seiner schlaffen Stahlrute ein Auge ausschlug, das war seine Spezialität. „Diese Schaustellungen der Verräter waren ein Greuel und wenn es auch innerhalb der Partei blieb, überflüssig, schädlich.“ Sollte sich hier auch ein Urteil über Moskauer Schauprozesse verbergen? „Aber solch eine Macht über ein Volk, das gar nicht will, was ist das schon für eine Macht? Kann denn die halten?“ Fünfzig Jahre nach Dora Wentschers Tod darf das eine Frage mit hohem Prophetie-Anteil genannt werden. Mehr als nichts ist das allemal.