Fragment über Paul Kornfeld
Sein Todesdatum ist nicht bekannt. Für das Jahr 1942 werden die Monate Januar oder April angegeben, als Todesursache wird „getötet“ oder Typhus genannt. Fest steht der Ort des Todes: Lodz, das damals aber nicht Lodz hieß, sondern Litzmannstadt, benannt nach dem NSDAP-Mitglied und Weltkriegsgeneral Karl Litzmann, der 1936 verstarb und dessen Ehrenbürgerschaft in Neuruppin erst 2007 aufgehoben wurde. Litzmannstadt war kein Vernichtungslager, wohl aber als zweitgrößtes Ghetto in Polen nach Warschau Ausgangspunkt von Transporten in die Vernichtungslager weiter im Osten. Paul Kornfeld starb im Ghetto, das Gas blieb ihm erspart. Der am 11. Dezember 1889 in Prag geborene Mann war, darüber sind sich unterschiedliche Autoren einig, auch ein Opfer seiner eigenen hanebüchenen Unterschätzung der Gefahr, die für alle Juden vom deutschen Nationalsozialismus ausging. Diese Unterschätzung erwuchs aus der allgemeineren Geringschätzung alles Politischen im Weltverständnis Kornfelds und die wiederum fußte, kaum fassbar, wenn es so nackt formuliert wird, auf einer Geringschätzung alles Wirklichen überhaupt. Eine der besten Kornfeld-Kennerinnen, die 1931 geborene Manon Maren-Grisebach, sie hat 1959 über sein Frühwerk promoviert und sich danach, wo immer es ging, für ihn eigesetzt, wagte angesichts der sicher unbeabsichtigten Implikationen daraus nicht, eine Linie von Kornfeld zu späterem Irrationalismus im Fundament des Faschismus zu ziehen, sie deutete nur an und hoffte auf Forschungen und Darstellungen anderer.
Wer sich Paul Kornfeld nähert über analytische Darstellungen von Werk und Leben, der wird kaum dahin kommen, sich angezogen zu fühlen. Zu krass sind seine Überzeugungen in puncto Verhältnis von Literatur und Wirklichkeit, zu weltfremd alles, was er um seinen vagen, absichtsvoll vagen Begriff der Seele baut, gleichzeitig tragen die Nachrichten aus seinem Leben mit den Stationen Prag, Berlin, Frankfurt am Main und Darmstadt, um die wichtigsten zu nennen, Bilder haarsträubender Widersprüchlichkeit an sich, die nicht wenig von dem, was er schrieb, wenig glaubwürdig erscheinen lassen. Denn es lässt sich nur sehr schwer leugnen, dass allzu stark aufgetragener Weltschmerz, zu einer bestimmten Zeit in der deutschen und auch in anderen Literaturen fast ein Ausweis, auf der Höhe der Zeit zu stehen, nicht zu Autoren passen will, die von ihren eigenen öffentlich gemachten Weltbildern völlig unbeeindruckt ein völlig anderes Leben führen. Der große Verleger Ernst Rowohlt hat es auf Kornfeld bezogen auf die herrlich knappe Formel gebracht: „Wie konnte mein Freund Paulchen, der im Leben der lustigste Kerl war – was haben wir zusammen für Unsinn gemacht! - in seinen Werken so traurig sein?“ Eine mögliche Antwort: es war modische Traurigkeit, Show-Traurigkeit, marktkonforme Traurigkeit. Nicht wenige Expressionisten – und bis 1920 ist Kornfeld ganz sicher diesen zuzurechnen – pflegten ihr diesbezügliches Image fast inbrünstig, während sie gleichzeitig eigentlich nur den kleinen Mädchen auf der Spur waren, die von diesen Kaffeehausrittern des Weltendes und der Verzweiflung sich so beeindrucken ließen, dass sie bereit waren, ihre bürgerliche Kinderstube zu vergessen zugunsten eines Hupfers ins schlecht gelüftete Dichterbett.
Paul Kornfelds Wirklichkeitsverachtung schlug sich unmittelbar in seinen Texten nieder, die Erzählung „Die Begegnung“ kann zur Demonstration aller literarischen Untugenden dienen, die daraus erwachsen. Man wird den namenlosen Helden, einen jungen Mann in der Stadt F., man muss wenig erfinderisch sein, um sofort Frankfurt zu denken, bei nüchterner Betrachtung für dringend therapiebedürftig halten. Voll der abstrusesten Gedanken, voll eines Schmerzes und einer Weltnot, die halbwegs glaubhaft zu begründen der Autor vornehm unterlässt, wandert er buchstäblich stundenlang ziellos durch die Stadt, irgendwann registriert er die Anwesenheit einer jungen Dame in einer Kutsche, die einkaufen will. Bis dahin hat er still für sich geseufzt und gestöhnt, nun verfällt er in ein Signalstöhnen und verursacht undefinierbare Geräusche, bis die junge Frau tatsächlich das Wort an ihn richtet. Und er beginnt umgehend, das unschuldige Wesen mit einem Redeschwall zu überschütten, heutige Jugend nennt das „Zutexten“, er textet sie also in einer Weise zu, dass jedes reale Geschöpf weiblichen Geschlechts wahrscheinlich heimlich den psychiatrischen Notruf alarmieren würde, während sich der Gesprächspartner ins Schmerzenstuch schneuzt. Nur wer die wirren Ansichten Paul Kornfelds bezüglich des Wirklichen an der Wirklichkeit zur Kenntnis genommen hat, wird sich damit abfinden, dass die Kutsche, der Kutscher und die Einkäufe, die die junge Dame getätigt hat, im Text plötzlich einfach keine Rolle mehr spielen.
Die Frage, was nun wie tatsächlich geschieht, ist dem Autor Paul Kornfeld tatsächlich gleichgültig, seinen Leser mehrheitlich aber höchstwahrscheinlich nicht. Diese Leser fragen sich ganz profan und naiv, ob der Kutscher vielleicht die Einkäufe zur Wohnung der Dame fuhr, oder ob sie diese Einkäufe gar die ganze Zeit, viele Stunden bis zur Dunkelheit, mit sich schleppen musste, ohne dass der Weltschmerzling auch nur einmal fragte, ob er ihr eventuell tragen helfen sollte. Das sind aber nur Niederungen des wirklichen Lebens, der ambitionierte Schmerzensmann, und das scheint dieser junge Mann mit allen Konsequenzen, die in diesem Wort stecken, nach dem Wollen seines Schöpfers zu sein, geht darüber hinweg. Er verfällt sicher wenig zufällig in biblische Sprachdiktion, spricht wie ein Künder, der demnächst versuchen wird, über die Wasser zu gehen. Für den Autor Kornfeld aber ist zu registrieren, dass er offenbar auch das Einhalten einer einheitlichen Perspektive für zu profan hält. Die von ihm eingesetzte Erzählinstanz, die eben noch alles weiß, stellt im nächsten Moment fest, etwas nicht zu wissen, es nur vermuten zu können. Dass dies nicht nur in dieser kleinen Erzählung auffällig ist, haben berufene Leser festgestellt.
Überliefert ist, dass sein Mysterienspiel „Himmel und Hölle“ nach zwei Aufführungen abgesetzt wurde. Überliefert ist, dass es mitten im Stück Lacher gab, die weniger die Dummheit der Zuschauer dokumentierten als eher die Qualitäten des Bühnentexts, unfreiwillige Komik zu erzeugen. Als der sehr umfangreiche Nachlass-Roman „Blanche oder Das Atelier im Garten“ 1998 neu aufgelegt wurde nach der Erstausgabe 1957, gab es manche begeisterte Stimme, die von Peter Härtling und Siegfried Lenz hat der Verlag Schöffling & Co. seinerzeit gleich mit auf den Schutzumschlag gedruckt, aber es gab auch den am Text belegten Vorwurf der Nähe zum Kitsch. Man muss ohnehin vorsichtig sein, wenn große Namen zu Werbeträgern gemacht werden. Auch Hermann Hesse hatte dem Kornfeld-Marketing zu dienen und bei dem findet sich, wenn man sich die Mühe macht, das Original nachzulesen, eigentlich nur das Bekenntnis, Paul Kornfeld habe ihn dazu gebracht, überhaupt wieder einmal ein Drama zu lesen, wobei Hesse ausgerechnet die Formlosigkeit des Dramas als Grund nennt, der ihn seine Hemmschwelle überwinden ließ. Hesse selbst hat nie ein Drama geschrieben und nicht zuletzt deshalb auch ungern welche gelesen. So jedenfalls erklärt er es sich selbst und seinen Lesern.
Unzweifelhaft war Paul Kornfeld für einige Jahre ein exemplarischer Dramatiker in Deutschland, nach 1920 wechselte er zur Komödie. Alle namhaften Kritiker der Zeit haben sich zu ihm geäußert, einige auch aus ihrer Unsicherheit kein Geheimnis gemacht. Es würde hier entschieden zu weit führen, von Jacobsohn bis Polgar, von Alfred Döblin bis Herbert Ihering. Emil Faktor, Fritz Engel, Ernst Heilborn, Bernhard Diebold, Kasimir Edschmid alles nachzuvollziehen, Ludwig Marcuse nicht zu vergessen und natürlich Alfred Kerr. Immerhin: Diebold hat Paul Kornfeld in seinem heute fast vergessenen Standardwerk „Anarchie im Drama“ ein ganzes Kapitel gewidmet und im Personenverzeichnis taucht kaum ein Name öfter auf als der Kornfelds. Kasimir Edschmid hat in „Lebendiger Expressionismus“ festgehalten, wie Paul Kornfelds Frau Fritta Brod auf ihn wirkte in „Die Verführung“ und wie er sie später hingerissen als Maria Stuart mit der Gegenspielerin Gerda Müller als Elisabeth sah. „Die Brod war von einer poetischen Abstraktheit, die genau der abstrakten Dramatik Kornfelds entsprach, deren Handlung oft lächerlich war und deren innerer Gehalt sich in endlosen Dialogen abwickelte...“. Als Andeutung mag dies genügen. Döblin hat sich amüsiert in „Palme oder Die Gekränkte“, das war schon 1924 im März.
Auch ich habe mich, ich will es nicht verhehlen, durchaus angeregt gefühlt, als ich vor fast zehn Jahren zuerst „Legende“ las, das deutlich schmalere der beiden Neubücher im Schöffling-Verlag. Meine am 28. August 2005 geschriebenen Notizen zu den vier unterschiedlichen, vor allem auch unterschiedlich langen Kapiteln, verraten keinen Unmut, sie halten die Zeitsprünge innerhalb von Sätzen fest, die irritierten. Sie sahen im dritten Kapitel „Der Kampf“ ein komplett theatralisches Kapitel, das gespielt eine Grotesk-Szene, Slapstick ergäbe. Auch schien mir die Idee, Jahre vergehen zu lassen, ohne dass die Menschen in dem isolierten Ort der Handlung altern, ganz nett, zumal die Ausnahme davon die Bärte der Männer machten, die immer länger wurden, so dass Kinder sich auf sie setzen und sich ziehen lassen konnten. Ich gebe freilich zu, mir gern lebhafte Vorstellungen zu machen von dem, was ich lese. Die kleinen Ironien, die für Kornfeld mitten in all seinem Ernst behauptet worden sind, sie lassen sich in der Tat mühelos finden, wie sollte sich auch der von Rowohlt beschriebene Mann vollkommen haben verleugnen können. Seine wütenden Attacken gegen den Naturalismus sollen hier ausgeklammert bleiben, auf seine, so weit ich sie bisher las, höchst interessanten Essays, gesammelt in „Revolution mit Flötenmusik und andere Kritische Prosa“ will ich nachdrücklich hinweisen. Als Einstieg empfohlen: Paul Kornfelds Umgang mit Hemingways „Fiesta“ und dessen deutschsprachigen Kritikern. Köstlich. Klug.