Etwas zu Fritz Erpenbeck

Die Reihe „Literatur der Deutschen Demokratischen Republik. Einzeldarstellungen“, erschienen im Berliner Verlag Volk und Wissen (Band 1: 1974, Band 2: 1979, Band 3: 1987) hat um Fritz Erpenbeck einen Bogen gemacht. Das wäre nur dann kein Problem, wenn nicht Autoren von zweifelsfrei geringerer Bedeutung aufgenommen worden wären. Wer sich, leichtsinnig wie ich, nur weil der 7. Januar 2015 im Arbeitskalender als 40. Todestag von Erpenbeck notiert ist, daran macht, ein paar Sätze über den am 6. April 1897 in Mainz Geborenen zu notieren, wird in kürzester Zeit in fast alle Grundfragen der deutschen Geschichte verwickelt und findet alles, nur keine rasch in eine Zitatensammlung zu packenden unstrittigen Aussagen. Meyers Taschenlexikon „Schriftsteller der DDR“ führt ihn, Aktualität war keine Kerneigenschaft von Printprodukten des kleineren deutschen Staates, auch in der 2. Auflage von 1975 noch unter den Lebenden, es war ein unveränderter Nachdruck der ersten Auflage von 1974. Was in den biografischen Angaben dort fehlt, lässt sich dem zweibändigen Biographien-Lexikon „Wer war wer in der DDR?“ (Ch. Links Verlag Berlin) zum Glück leicht entnehmen. Vor allem die schier unendliche Zahl von Funktionen und Tätigkeiten ist dort dokumentiert, aber auch das Kürzel „Freiw.“ bei der Angabe zum Militärdienst als Kanonier von 1915 bis 1918. Diese Freiwilligkeit fiel in mittleren DDR-Jahren wohl unter die Rubrik der peinlichen Details und wurde sicher nicht gegen den Willen Erpenbecks folglich verschwiegen.

Doch soll es hier auf gar keinen Fall um das Schwingen einer posthumen Moralkeule gehen, im ersten Weltkrieg sind nicht nur junge Mainzer mit Schlosser-Ausbildung freiwillig ins Feld marschiert. Es geht um das bezeichnende Detail einer bestimmten Biographik. Erpenbeck besuchte, während er nach der Heimkehr aus dem Krieg seine Schlosser-Ausbildung fortsetzte, eine Schauspielschule in Osnabrück und war danach in mehreren Städten engagiert. Es ist überliefert, dass er mit seinen jungen Jahren immer wieder Rollen zu spielen hatte, die normalerweise mit älteren Darstellern besetzt werden. Auch das soll hier nur insofern Erwähnung finden, als es eine Basis dokumentiert, ohne die fast alles, was später im Zusammenhang mit dem Theater als Kunstform zu tun hatte, darunter insbesondere seine Tätigkeit als Theaterkritiker und Chefredakteur von „Theater der Zeit“, nicht zu erklären ist. Worum es geht, wird sehr schnell sehr deutlich, wenn man sich mit jener berühmten Debatte aus der Gründungszeit der DDR beschäftigt, die sich an der Inszenierung von Brechts „Mutter Courage und ihre Kinder“ entzündete, die Premiere war am 11. Januar 1949, sie jährt sich folglich am kommenden Sonntag zum 65. Male. Wieder ist eine Auslassung sehr bezeichnend. Die großformatige und üppig bebilderte Dokumentation von Dieter Kranz „Berliner Theater. 100 Aufführungen aus drei Jahrzehnten“ (Henschel Verlag 1990) beginnt keineswegs zufällig mit ihr, sondern eben wegen der großen Bedeutung dieser Inszenierung, bei der Brecht selbst gemeinsam mit Erich Enel Regie führte. Der als Beitext gegebene ist ein Interview mit Manfred Wekwerth aus dem Jahr 1984.

Wekwerth ließ sich zitieren mit den Sätzen: „Die Kritik lehnte es mit ganz wenigen Ausnahmen als pazifistisch und depressiv ab und bemängelte, daß kein Ausweg gezeigt werde. Man war, wie viele heute noch, der Vorbild-Ästhetik verhaftet. Ich sah Brecht sehr vergnügt in diesen Streitigkeiten. Freilich schossen sie oft bösartig übers Ziel hinaus, wenn man etwa Brecht als spätbürgerlichen dekadenten Schriftsteller bezeichnete.“ Man muss gar nicht erst an Wekwerths peinlich lange Arbeitsbeziehung zum MfS der DDR (als KM, als GI, als GMS „Manfred“ seit 1955) erinnern, um dieser außerordentlich hinterhältigen und ihrerseits bösartigen Aussage fassungslos zu begegnen. Die insgesamt 405 Aufführungen bis zum 4. April 1961 belegen zwar deutlicher als alles, was sich schließlich durchsetzte. Wekwerth aber verschweigt den Namen des Hauptkritikers, weil bei Nennung natürlich sofort und außerdem sehr leicht nachweisbar gewesen wäre, dass er falsches Zeugnis ablegte. Der Hauptkritiker aber hieß Fritz Erpenbeck. Er war es, der prinzipiell Theorie und Praxis des „Epischen Theaters“ ablehnte, wie sie Brecht vertrat und praktizierte. Unter zeitgenössischen Brechtianern wie auch späteren Hagiographen Brechts machte sich Erpenbeck damit potentiell und bisweilen auch ganz handfest zur Unperson.

Nimmt man sich beispielsweise die von Ernst Schumacher geschriebene Biographie „Leben Brechts“ her und vergleicht mit der zweibändigen Brechtbiographie von Werner Mittenzwei, wird man auf radikale Art mit Pseudosachlichkeit hier und wissenschaftlicher Seriosität da als kaum überbrückbarer Gegensatz konfrontiert. Schumacher, der viele Jahre eine quasi letztinstanzliche Rolle bei der Beurteilung des (Ost-)Berliner Theatergeschehens spielte, nachlesbar in seiner insgesamt dreibändigen Kritikensammlung im Henschel Verlag Berlin, lässt Fritz Erpenbeck fast im Vorbeigehen wie einen unbelehrbaren Deppen erscheinen, der sich dem Neuen verweigerte. Bei Werner Mittenzwei aber, der sich mindestens so intensiv und langjährig mit Brecht beschäftigte wie Schumacher, finden wir eine wohltuend abgewogene, Argumente und Gegenargumente bedenkende und bewertende Darstellung jener Unglücksdebatte, die unter doppeltem Unstern stand, nämlich unter dem der unsäglichen Verlautbarungen des sowjetischen Hardcore-Stalinisten Shdanow, die natürlich dackeltreu von den zuständigen DDR-Stalinisten „übernommen“ wurden und unter dem Theorie-Diktat von Georg Lukacs, der zweifellos einen deutlich größeren Einfluss auf Erpenbeck hatte als der bald vergessene Ideologe aus Moskau. Brecht und Lukacs waren schon lange Antipoden in Theorie und Debatte, es reichte weit in die Exiljahre zurück.

Um so überraschter darf man sein, wenn man die klobige zweibändige Dokumentation  „Dramaturgie in der DDR (1945 – 1990)“, Universitätsverlag C. Winter Heidelberg, heranzieht, ein allein wegen des Materialreichtums kaum verzichtbares Buch zum Thema. Dort ist die Debatte um „Mutter Courage und ihre Kinder“ sehr ausführlich vertreten. Die Folge der Texte beginnt allerdings einem Artikel von Max Schroeder aus NEUES DEUTSCHLAD vom 16. Januar 1949, erst danach folgt der Erpenbeck-Beitrag aus DIE WELTBÜHNE, dessen Erstveröffentlichung erstaunlich unpräzise angegeben ist, philologisches Arbeitsethos klebt sonst immer an der Historisch-Kritischen Gesamtausgabe oder dem nächst unzugänglichen Druck, hier aber ziehen die Herausgeber eine westdeutsche Quelle für eine ostdeutsche Debatte heran, die Dokumentation „Brechts „Mutter Courage und ihre Kinder“ als suhrkamp taschenbuch dokumentation 2016, Herausgeber Klaus-Detlef Müller. Auch dort kannte man offenbar Fritz Erpenbecks Buch „Lebendiges Theater“ nicht (Verlag Bruno Henschel und Sohn Berlin 1949), das nicht nur eine dem Beitrag in der WELTBÜHNE vorangehende Kritik der Premiere vom 11. Januar enthält, sondern auch eine Kritik zu Brechts „Furcht und Elend des Dritten Reiches“, Datum 30. Januar 1948, in der Erpenbeck seiner großen Freude Ausdruck gab, dass sich Brecht von seiner eigenen Theorie und Praxis des epischen zugunsten eines wieder oder neu dramatischen Theaters entfernte. Das sollte man eigentlich kennen, wenn man nicht in falsche Polemiken verfallen will oder noch falschere Pauschalverurteilungen.

Fakt ist, und das muss unmissverständlich gesagt werden, dass Fritz Erpenbecks Positionen eben nicht aus einem hohlen Funktionärsbauch aufstiegen, der einfach nur auch eine schöne Formalismus-Debatte abwickeln wollte wie der „Große Bruder“, sondern aus intensiver und reicher Eigenkenntnis von Theaterpraxis, aus Erfahrung als Darsteller, Dramaturg, Regisseur. Allen, die geneigt sind, auch vierzig Jahre nach Erpenbecks Tod den Stab über ihn gebrochen zu halten, sei die Lektüre von Wolfgang Leonhards „Die Revolution entläßt ihre Kinder“ empfohlen. Leonhard war bis zum Ende in der DDR als Renegat weitestgehend Unperson, das genannte Buch erschien erst 1990, als es keiner eigenen DDR-Ausgabe mehr dringend bedurfte, im Leipziger Reclam-Verlag. Und es zeigt, wie souverän Leonhard, wie Fritz Erpenbeck 1945 Mitglied der Gruppe Ulbricht, mit dem einstigen Genossen umzugehen in der Lage war. Alle auf Fritz Erpenbeck bezogenen Stellen, es sind nicht sehr viele und über das Personenregister sehr leicht zu erschließen, zeichnen ein positives Bild. Umgekehrt erwähnt etwa Hedda Zinner, die Ehefrau Erpenbecks, in ihren Erinnerungen „Auf dem roten Teppich“, die mit der Rückkehr aus dem sowjetischen Exil nach Berlin einsetzen, mit keiner Silbe Wolfgang Leonhard, auch Wolfgang Harich natürlich nicht, der wiederum der aggressivste Kritiker Erpenbecks in der „Courage“-Debatte war. Noch die 1989 so etwas wie eine zarte Glasnost-Blüte der sterbenden DDR darstellende „Selbstbefragung“ von Hedda Zinner, die endlich auch bis dahin verschwiegene Exilerfahrungen zur Sprache brachte, ist eher ein Dokument der unendlichen Schwere des Abschieds von Selbstbetrug und Lebenslüge für Alt-Kommunisten.

Genau das soll man achten, muss man achten, wenn man nicht den billigen Fehler aller Mainstream-DDR-Bildnerei begehen will, gar nicht erst zu versuchen, diese Generation zu verstehen. Ich stieß auf der Suche nach Aussagen Hedda Zinners über ihren Mann Fritz auf die erschreckende und berührende Passage, wo sie schildert, wie sie mit der Tatsache sowjetischer Vergewaltigungen deutscher Frauen konfrontiert wird, wie sie fast verzweifelt nach kuriosen Erklärungen greift zwischen Prüderie und Kriegskommunismus, um das für sie natürlich unfassbare Phänomen, das es aber eben tatsächlich und nicht nur vereinzelt gab, irgendwie wenigstens hinnehmen zu können. Sehr erstaunt ist sie, als sie vernimmt, dass Fritz Erpenbeck diese Dinge bekannt waren, sie übernimmt fast erleichtert seine Argumente der Erklärung und erlebt dann, wie ein sowjetischer Offizier ihre Deutung zurückweist. Was bis heute verblüfft, ist der Umstand dieser freimütigen Passage, die ich freilich nur aus der Ausgabe im Rahmen der „Ausgewählten Werke in Einzelausgaben“ von 1986 kenne, welche Veränderungen diese Ausgabe über die in der Editionsnotiz am Ende genannten hinaus noch erlebte, falls überhaupt, kann ich nicht sagen, das Buch erschien im Umfang von 455 Seiten 1978 zuerst, 1979 folgte eine zweite Auflage.

Warum Fritz Erpenbeck schließlich 1964 dem weiten Feld des Theaters den Rücken kehrte, 1965 erschienen lediglich noch die Anekdoten und Geschichten „Vorhang auf!“, die jeder bb-Buch-Sammler natürlich kennt und besitzt, lässt sich ahnen. Er veröffentlichte danach noch genau fünf Kriminalromane: „Künstlerpension Boulanka“ 1964, „Tödliche Bilanz“ 1965, „Aus dem Hinterhalt“ 1967, „Nadel im Heu“ 1968 sowie abschließend „Der Fall Fatima“ 1969. Das ist eine anständige Serie in dieser kurzen Zeit. Mein zuverlässiges Register (vgl. „Register-Arie auf 1964“ in NÄHKÄSTCHEN) verrät mir, dass ich mein Lesejahr 1968 mit „Tödliche Bilanz“ begann, die „Künstlerpension Boulanka“ folgte im März 1968, im Juli „Aus dem Hinterhalt“. Mit „Der Fall Fatima“ hatte ich im Dezember 1969 meine letzte kriminalistische Erpenbeck-Begegnung, seine Romane „Emigranten“ (1937) und „Gründer“ (1940) las ich nie, seine Aufsätze und Kritiken aber sind mir regelmäßige Begleiter. Der Umweg über ihn führt mich nun auch wieder einmal zu Hedda Zinner in der Hoffnung, irgendwann zu erfahren, warum sie mal 1905 und mal 1907 geboren wurde, mal in Wien und mal in Lemberg. Als ich sie vor mittlerweile etwas mehr als 30 Jahren in Bad Saarow im Ferienheim der „Berliner Zeitung“ bei einer Lesung erlebte, beeindruckte sie und ich will mir einreden, dass ihr Sohn John Erpenbeck sie damals nach Hause abholte, dessen wunderbares Buch „Was kann Kunst“?“ mir Ende 1980 als eines der gescheitesten Bücher erschien, das ich bis dahin zur Thematik gelesen hatte. Abschließen will ich dieses Fragment mit dem Verweis auf die Briefe von Anna Seghers. Ihnen ist zu entnehmen, dass Fritz Erpenbeck einer der ersten war, der Details über das in Arbeit befindliche Buch „Das siebte Kreuz“ erfuhr, vielleicht der erste. Die Geburtsstadt Mainz verband wohl doch mehr als gute Kommunisten je zugeben würden.


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