Gustav von Wangenheim: Helden im Keller
Wo anfangen? Das Lexikon „Schriftsteller der DDR“, Ausgabe 1975, hatte den am 18. Februar 1895 Geborenen noch unter den Lebenden. Nannte ihn Dramatiker, Filmautor, Regisseur und Schauspieler. Er war Sohn Eduard von Wintersteins, Schüler Max Reinhardts, gehörte zum Kreis um Franz Pfemfert. Er spielte in Darmstadt, Hamburg und Berlin. Seit 1922 Mitglied der KPD, vorher USPD, 1933 bis 1945 Exil in der Sowjetunion. Dieser Blick ins Lexikon offenbart zwei seltsame Fehlstellen: das Schauspielengagement am Wiener Burgtheater, andernorts sogar zuerst vermerkt, weil natürlich die bedeutendste Station, die ein deutschsprachiger Schauspieler überhaupt erreichen kann, zumindest nach dem Urteil nicht unverständiger Leute. Die zweite Fehlstelle: die erste Exilstation hieß Paris, was sofort die Frage aufwirft, wieso erst die zweite die Sowjetunion wurde. Den Einakter „Helden im Keller“ von 1934 hat das Lexikon des VEB Bibliographisches Institut Leipzig nur im Kleingedruckten. Hansjörg Schneider, Herausgeber der Sammlung „Stücke aus dem Exil“, fand es dagegen so wichtig, dass er es an den Anfang stellte, vor Toller, Renn, Csokor, Bruckner, Hochwälder und die anderen.
Die Lektüre des Stückes macht ratlos. Der Kommunist von Wangenheim, über Jahre erfahren mit proletarischem Agitproptheater, siedelt seine Spielhandlung in einem SA-Sturmlokal an, in dessen Keller gefoltert wird mit Knüppeln und Stahlruten. Er meint, ein typisches Panorama der SA-Soziologie aufgestellt zu haben. Das Stück spielt im Sommer 1933, die KPD war seit der Reichtstagsbrandverordnung vom 28. Februar 1933 und nach Einziehung ihres Vermögens Ende Mai nicht nur de facto verboten, sie war auch in ihrer Handlungsfähigkeit extrem eingeschränkt, nicht zuletzt, weil sehr viele Mitglieder verhaftet, ermordet, und auch schon ins Ausland gegangen waren. Unter diesen Umständen in einem Stück den Anschein zu erwecken, als hätten ein halbes Jahr nach der so genannten Machtergreifung die Schlägertruppen der SA ständig eine kaum zu unterdrückende Angst vor „der Kommune“ gehabt, als hätte es gar spontane Demonstrationen der Kommunisten in Berlin gegeben, gegen die in den Sturmlokalen Alarm ausgelöst werden musste, zeugt im günstigen Falle von Wunschdenken, sonst aber sicher von sehr starkem Realitätsverlust bereits nach kurzer Exil-Zeit. Ein Nichtkommunist wie Klaus Mann hat sehr zeitig genau davor gewarnt. Und deshalb auf authentische Stimmen wie Irmgard Keun aufmerksam gemacht.
Das kurze Stück mündet in ein chorisches Finale, in dem voller Pathos die SA-Leute zur KPD überlaufen. Der Autor sieht dafür folgende Szenerie vor: „Die hier auftretenden SA-Leute tragen schwarze Hemden im Gegensatz zu den gelben der SA des Spiels. Das Kostüm soll neutral sein, um sich dem monumentalen surrealistischen Charakter des Songs anzugleichen und die Verwandlung der Faschisten in Kommunarden optisch zu vereinfachen. Die Hakenkreuzarmbinden müssen so angebracht sein, daß sie leicht, mit einem Griff, weggeworfen werden können. Am besten benutzt man Druckknöpfe.“ Wer aber würde schwarze (die trug ja die SS), statt gelber „Braunhemden“ als neutral ansehen können, wenn er auch nur einen Funken Kenntnis von Deutschland unter Hitler hatte? Selbst der Begriff Kommunarden ist eher irreführend als symbolisch. Der surrealistische Chor endet mit den Zeilen: „Wenn alle Köpfe brennen, // Ist Brand und Krieg vorbei, // Dann wird im letzten Feuer // Die ganze Menschheit frei // Durch die Partei // Der Kommune!“ Machte man sich so im Exil selbst Mut, war Kunst dort primär autotherapeutisch? Ein Stück wie dieses hatte in Moskau und der ganzen Sowjetunion ja nicht die geringste Chance, auf ein Publikum zu treffen, das zu überzeugen war von etwas, wovon es vorher nicht überzeugt war.
Macht man sich die längst aufwandarme Mühe, der Existenz deutscher Kommunisten im sowjetischen Exil nachzuforschen, die Quellenlage ist mittlerweile ja bestens, stößt man fortgesetzt auf zwei Grundphänomene. Die einen waren Opfer des Stalinismus, die anderen überlebten. Von den Opfern weiß man inzwischen sehr viel, nicht zuletzt, dass viele bis an ihr traurig-tragisches Ende meinten, Stalin wisse von all den Verbrechen gegen die eigenen Leute nichts. Von den Überlebenden weiß man, dass sie, soweit sie nicht überlebende Opfer waren, auf seltsame Weise von ihrer Geschichte eingeholt wurden oder werden können. So wie die Sowjetunion Stalins ihre Rotarmisten und Zwangsarbeiter, soweit sie das Kriegsende in Deutschland erlebten, unter Generalverdacht der Kollaboration stellte, so kann man die Exilanten, die das Terrorregime unbeschadet überstanden, unter Generalverdacht der Kollaboration stellen. Ein noch heute in jeder Hinsicht erschütterndes Dokument wie das Protokoll der 1936 in Moskau abgehaltenen geschlossenen Parteiversammlung deutscher Exilschriftsteller, bei rororo Aktuell unter dem Titel DIE SÄUBERUNG 1991 erschienen, führt vor menschliche Abgründe.
Mittendrin auch Gustav von Wangenheim. Vorn im Buch, wo die Teilnehmer vorgestellt werden, wird sein 1951 verfasster Lebenslauf zitiert. Er atmet ungebrochen den Geist der Schauprozesse, den Geist der Selbstkasteiung, eine einzige kompakte Peinlichkeit. Man kann sich anhand des sorgfältigen Personenregisters von Stelle zu Stelle voranlesen, an der jeweils Wangenheim ins Gespräch eingriff. Sein Hauptauftritt war am 8. September 1936. Die krude Selbstdarstellung seines Vorlebens als Adliger, die kleinen Signale, die er setzt, wenn er andeutet, von Franz Pfemfert sexuell attackiert, vielleicht gar missbraucht worden zu sein, Eigenlob mit Selbstkritik vermischt, immer Seitenhiebe, darunter auch gegen Johannes R. Becher, alles wirft die Frage auf: ist das Zeugnis zitternder Feigheit, ist das vollkommene Abwesenheit von Charakter oder ist es womöglich die tatsächliche Überzeugung des Diskussionsteilnehmers Wangenheim? Wie schon bei Willi Bredel auffällig, wiederholt sich nun bei Gustav von Wangenheim: Johannes R. Becher schwieg seine Kontrahenten aus dem Exil später, wo immer es ging, tot, seine Art Rache.
1989 veröffentlichte der Buchverlag Der Morgen Berlin ein schmales Buch mit dem Titel „Selbstbefragung“. Geschrieben hatte es Hedda Zinner, es ergänzte in gewisser Weise ihr deutlich umfangreicheres Erinnerungsbuch „Auf dem roten Teppich“, es war, mehr als bescheiden, ein winziger Beitrag im Sinne dessen, was seit Gorbatschow in der Sowjetunion Glasnost hieß. Während das erste Buch ein ausführliches Register enthält, anhand dessen man zielgerichtet nach Aussagen zu bestimmten Personen suchen kann, enthält das spätere, in dem genau dieses Suchen viel interessanter ist, keinerlei Register. Es liegt nahe, nach Spuren von Berufskollegen zu suchen, also bei der einstigen Schauspielerin Hedda Zinner und bei Fritz Erpenbeck, ihrem Ehemann und ebenfalls einstigen Schauspieler, Spuren, die Gustav von Wangenheim hinterlassen hat. „Auf dem roten Teppich“ hat einige rein lapidare Aussagen, die „Selbstbefragung“ über die Zeit des langen sowjetischen Exils, enthält eine einzige Stelle über Gustav und Inge von Wangenheim. Sie werden genannt als Mitbewohner einer Gemeinschaftswohnung, in der fünf Familien fünf Zimmer haben, Küche und Bad gemeinsam. „Wangenheims hatten außer dem Zimmer einen kleinen lichtlosen Vorraum, in dem Inges Mutter schlief.“
Verwundert über diese wahrhaft stiefmütterliche Behandlung einer wichtigen Figur des deutschen kommunistischen Exils in der Sowjetunion muss man freilich nicht sein. Es genügt zu wissen, dass die Erpenbecks mit den Bechers sehr eng befreundet waren und auch sonst beste Kontakte in die allerhöchsten Kreise der Moskauer Komintern pflegen durften. So zeigt sich: die ach so selbstlosen, ach so vom Ich absehenden, nur den großen Zielen der Partei und sonst gar nichts verpflichteten Kommunisten waren Menschen wie du und ich. Sie waren neidisch, rachsüchtig, eifersüchtig, böswillig verleumderisch, nachtragend, kunglerisch, was das Herz begehrt an kleinen und größeren Charakterschwächen. Wer Hedda Zinners Buch aufmerksam studiert, es lohnt tatsächlich das Studium und zwar nicht, weil es sonderlich gut geschrieben wäre, das gerade nicht, erlebt die bis zum Ende des sozialistischen Weltsystem anhaltende Scheu, wirklich offen über Erlebtes zu sprechen und zu schreiben. Kann man Gustav von Wangenheims peinlichen Lebenslauf für die Parteiakten problemlos der Hoch-Zeit des späten Stalinismus in der DDR zuordnen, kann man die eben auch peinliche Zurückhaltung bei Hedda Zinner nicht verstehen. Das kann doch keine Parteidisziplin mehr gewesen sein. Diese Selbstbefragung ist noch immer kräftiger Selbstbetrug. Immer ist nur die Rede von Verhaftungen, nie von dem, was sehr oft folgte: Hinrichtungen.
Ich weiß nicht, wie Gustav von Wangenheim sein Leben später gesehen hat, er starb am 5. August 1975 in Berlin. Hatte er noch Freunde aus alten Zeiten, wenn ja, wen? Für Ernst Ottwalt, einen derjenigen, die in der Parteiversammlung am heftigsten angegriffen wurde, folgten später Verhaftung und Todesurteil. Die Namensliste der Opfer ist lang. Auch die Liste derer, das kann man bei Hedda Zinner immerhin angedeutet finden, die die Sowjetunion an Hitler-Deutschland auslieferte und damit dem ziemlich sicheren Tod. Auch das abgelatschte Argument, man dürfe dem Klassenfeind keine Munition liefern, hat 1989 ja jeden realen Gehalt verloren. Es gibt aber einen denkbaren Grund für die verbreitete Zurückhaltung derer, die der Partei das bewahrt hatten, was sie Treue nannten, die nicht Renegaten wurden: ein tief innen sitzendes Schuldgefühl. Nur das hat andauernde Wirkkraft, selbst wenn es gar keine direkte Schuld betrifft, kein Denunziantentum, kein falsches Zeugnis wieder den Nächsten. Es ist das ewige Schuldgefühl der Überlebenden gegenüber den Opfern, zuerst natürlich denen, die sich tatsächlich geopfert haben.
In von Wangenheims „Helden im Keller“ findet man kaum verbrämte Intellektuellenfeindlichkeit. Sowohl der Sturmführer Albert, „der Typ des verkrachten Studenten“, als auch Inge, das Mädchen aus der SA-Sanitätskolonne, gehören der kleinbürgerlichen Schicht an, die für das Publikum nicht nur eine Hornbrille tragen muss, das klassische US-amerikanische Egg-Head-Klischee hat also deutsche kommunistische Vorfahren und Parallelen, nur hier scharf ins Politische gewendet. Als Sponsoren der SA treten ausgerechnet Exil-Russen auf, vielleicht ist das das Zugeständnis an das einzig erwartbare Publikum in der Sowjetunion, ansonsten dürfte Derartiges wohl kaum die marxistisch-leninistische Forderung nach dem „Typischen“ erfüllt haben. Die berufliche Charakteristik der SA-Leute ist vage gehalten oder klischeehaft bis zum Unerträglichen, Ernst etwa ist „Fleischer von Beruf, ist der lumpenproletarischste von allen, ein brutaler Schläger.“ Die Begriffsbildung des Lumpenproletariats stammt zwar nicht von Gustav von Wangenheim, hat aber genau den ideologischen Zweck, das Bild der Arbeiterklasse rein zu halten, was angesichts der späteren Millionenmitgliedschaft in der NSDAP schlichte Geschichtsfälschung darstellt. Auch beim Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus rannte ja zuerst die Arbeiterklasse zu den Bananen, während unzuverlässige Intellektuelle noch heute zuverlässig bei der Stange sind.
Auch die mehrfache Erwähnung von Nietzsche und Wagner bedient eher bestimmte Parteilinien als die Realität. Ein Dialog stellvertretend: STURMFÜHRER: „Nietzsche! Wer ist Nietzsche? Weißt Du überhaupt, wer das ist? Du Hund?“ SA-Mann KARL: „Nietzsche ist ein italienischer Professor.“ Der Sturmführer hat auch Karl May im Munde, man ahnt, warum dessen Name in der DDR wenig gelitten war: Wenn den die Sturmführer mochten! SA-Mann Ernst lobt die ungebrochene Tapferkeit der Kommunisten angesichts der Stahlruten. Und als im Lokal Musik gemacht werden muss, um die Schreie der Gefolterten im Keller zu übertönen (wer eigentlich soll diese Schreie nicht hören, andere Menschen sind gar nicht da?) betont der Autor: „Die Musik hat jeglichen sympathischen Charakter zu vermeiden, darf auf keinen Fall Selbstzweck werden, sondern muß die Stimmung der grausamen, sadistischen Quälerei konzentriert bewahren.“ Bald grölen alle das Schwertmotiv aus Richard Wagners Nibelungenlied. Einer der Gründe, warum die SA später zu den Kommunisten überläuft, ist für den Einakter übrigens die massive Armut. Die Schläger können sich nicht einmal die Fünfzig-Pfennig-Suppen des eben eingeführten Eintopf-Tages leisten. Mehr geht nicht.