Alfred Polgar

Wer um seinen Geburtstag ein Geheimnis breitet, darf sich nicht wundern, wenn ihn Glückwünsche zur falschen Zeit erreichen. Alfred Polgar, am 17. Oktober 1873 zu Wien geboren, hatte genau deshalb seinen Fünfzigsten schon eine solide Weile hinter sich, als ihn 1925 Kurt Tucholskys gedruckte Freundlichkeiten erreichten. Um das Maß voll zu machen, schrieb Tucho auch noch von einer Torte mit 51 Kerzen, alles tapfer unter der Überschrift „Zum Fünfzigsten“. Er schrieb aus Toulouse, dessen Hässlichkeit er mit der von Stettin verglich, weshalb beiderorts vermutlich die Tourismus-Information ungern auf ihn verweist. „Erlauben Sie mir, lieber Alfred Polgar, Ihnen zum Fünfzigsten keine warmen Strümpfe zu schenken, sondern Verehrung.“ Das ist ohne Haltbarkeitsdatum gesagt. Mit dem heutigen sechzigsten Todestag Polgars ist dagegen keine Krämerei zu veranstalten, sein Hingang in einem Züricher Hotel ist urkundlich belegt für den 24. April 1955. Der Ex-Emigrant Polgar war nicht wieder heimisch geworden in Europa.

„Sie haben die Millesimalwaage der Kritik erfunden. Mit Ausnahme des alten Fontane weiß ich keinen Theaterkritiker deutscher Sprache, der so aufs Augenhärchen genau sagen kann, was er sagen will.“ Diese Kunst sollte wieder höhere Schätzung erfahren und es brauchte keineswegs auf die deutsche Sprache beschränkt bleiben. Etwas früher hatte sich Tucholsky Polgars Monographie über den Schauspieler Max Pallenberg hergenommen, auch da schon ein Lob ähnlicher Tendenz: „Es ist mir kein zweiter Fall von so tiefer Blutsverwandtschaft bekannt. Es ist, als ob der Bruder vom Bruder aussagt, wie er beschaffen ist.“ Das hat später mit Marlene Dietrich nicht mehr so gut geklappt. Behaupten die Kritiker, die zu Anfang diesen Jahres in üblich dichter Folge die überraschende Publikation eines bisher unbekannten Polgar-Manuskripts zu besprechen hatten. Es wird wohl dennoch ein paar Käufer gefunden haben, denn ganz vergessen war Alfred Polgar doch noch nicht, auch wenn sein Name zuvor eher in seltsamen Zusammenhängen eine Rolle spielte.

2004 überraschte der SPIEGEL seine Leser mit einem Verlagsskandälchen. Der als Fernsehbartzausel hinlänglich berühmte und in einschlägigen Leserkreisen noch hinlänglicher noch berühmtere Autor und Übersetzer Harry Rowohlt hatte dankbar und vermutlich auch gegen ein geringes Entgelt die Aufgabe übernommen, eine Auswahl mit Texten Alfred Polgars vorzulegen. Das wiederum verärgerte die beiden Herausgeber einer sechsbändigen Polgar-Ausgabe im Rowohlt-Verlag, deren einer immerhin Marcel Reich-Ranicki hieß. Die seltsame Editionsgeschichte dieser Ausgabe ist ihrem äußeren Erscheinungsbild abzulesen, es gab drei Ansätze, muss aber hier nicht weiter ausgebreitet werden. Polgar selbst spielte im SPIEGEL damals keine Rolle mehr, auf den konzentrierte sich dann nur vier Monate später die SÜDDEUTSCHE, allein der Abstand beider Texte zeigt an, wie unwichtig dem Betrieb Polgar längst geworden war. Denn alles, was gepuscht werden muss, wird innerhalb weniger Tage gepuscht.

Reich-Ranicki aber war Polgar-Liebhaber. Das hieß: für den ersten und den sechsten Band verfasste er je ein Vorwort und vereinte beide später für seinen Sammelband „Die Anwälte der Literatur“ zu einem Porträt mit der Überschrift „Der leise Meister“. Viel mehr Lob als dort hatte der eher geräuschvollere Meister in seiner langen Kritiker-Laufbahn selten zu vergeben und er belehrte damit auch alle untermaßigen Meister im Nebeneffekt darüber, dass es keineswegs vorrangige oder gar ausschließliche Kritikerpassion sei, andere Autoren in Grund und Boden zu stampfen. Es wäre eine eigene Freude, die vielen treffenden Charakteristiken wenigstens in Auswahl zu zitieren, die MRR einfielen. Er formulierte sie fast durchgängig im Vergleich zu Tucholsky, zu Alfred Kerr und auch zu Karl Kraus. Das ist weder an den Haaren herbeigezogen noch sonst anrüchig. Lehrer Knösel könnte es für den Lehrsatz heranziehen, dass erst der Vergleich den Blick lenkt, unter Philosophen wäre vom universellen Zusammenhang zu reden und seinen definierenden Wirkungen.
Darüber aber hätte auf alle Fälle Alfred Polgar dann doch den Kopf geschüttelt.

Ein Zitat sei dann doch gewählt: „Polgar war zu höflich, um sich undeutlich oder unklar auszudrücken.“ Wegen der Höflichkeit. Und ein zweites auch: „Im Grunde müßte man wie Polgar schreiben können, um zu zeigen, wie er schreiben konnte.“ Nicht zuletzt deshalb greift auch MRR ins Füllhorn, im zweiten Vorwort noch stärker als im ersten, um einfach vorzuführen, wie dieser Ton klingt, Tucholsky war da weniger zurückhaltend, Beispiel: „Ich will lieber die Büste meines Briefträgers auf den Schreibtisch stellen als die des großen Napoleon.“ Auf eine solche Idee wäre Goethe nie gekommen, weshalb sich Polgar mit Egon Friedell zusammen ja auch den Spaß machte, den kleinen Einakter „Goethe“ zu verfassen, der leider oft nur mit Friedells Namen verbunden wird, weil der halt auch gleich noch den Goethe spielte bei entsprechenden Aufführungen. „Und welcher Beweis gilt? Jener, der schlauer geführt wird als sein Gegenbeweis.“ Alfred Polgar kannte sich aus. Weil sein Auskennen sich nicht bis hin zu Anerkennung der revolutionären Rolle des Proletariats und seiner führenden Partei erstreckte, musste er posthum milden Tadel einstecken von den Nachwort-Autoren, die DDR-Lesern den Österreicher vorstellten. Die Herren konnten einem aber den Lektüre-Spaß damit nicht verderben.

Es sei eigens vermerkt, dass anders als sonst der ersten großen Auswahl im Berliner Verlag Volk und Welt die zweite kleinere Auswahl im Eulenspiegel Verlag folgte und großen Wert darauf legte, keine Text-Dopplungen zu enthalten. Bei anderen Autoren hatte der DDR-Buchkäufer sehr oft wegen einiger bisher unveröffentlichter Texte etliche bereits zuvor veröffentlichte erneut zu kaufen, aber es war eben doch nicht alles gut in der DDR. Allein aus diesem Grund zitiere ich nicht aus meinen sechs Polgar-Bänden des Rowohlt-Verlages, auch nicht aus meiner geliebten einzigen Erstausgabe „An den Rand geschrieben“ von 1926, sondern aus der von Fritz Hofmann veranstalteten „Die Mission des Luftballons“. Dort steht gleich vorn: „Von Geldsorgen allein kann ein Mensch nicht sein ganzes Elend bestreiten.“ Und kurz vorher: „Ich glaube fast, eine Hand ohne Browning, aber zum Schuß entschlossen, ist eine bessere Waffe als ein Browning in zögernder Hand.“ Und noch vorher: „Sein Tod hätte mich sehr betrübt. Er hält mich für ein Genie.“ In der Sendung mit der Maus müsste hier folgen: Das war Selbstironie.


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