Max Mell: Aufblick zum Genius
Max Mell war ein Schnellstarter. Natürlich nur im Jahr 1955, als das Wiener Burgtheater die staatliche Schillerfeier auf den 5. Mai legte und damit vor all die anderen Feiern landauf, landab im deutschen Sprachraum, die den einhundertfünfzigsten Todestag als willkommenen Anlass nutzten, Schillers fortwährende Popularität zu suggerieren, obwohl eben diese gerade auf einem Tiefpunkt angelangt war, wie Walther Muschg in seiner Rede an anderem Ort unmissverständlich festhielt. Max Mell trug seine Schiller-Rede nicht selbst vor, Ewald Balser tat es für ihn, der berühmte Burgschauspieler, der 1919 in Elberfeld als Odoardo in Lessings „Emilia Galotti“ debütiert hatte und schon mit knapp 26 Jahren als Faust am Düsseldorfer Stadttheater große Aufmerksamkeit erregte. Als Darsteller von Heldenrollen und im Film von etlichen bedeutenden Persönlichkeiten war er wohl besonders prädestiniert für gerade diese Rede.
Sie endet nämlich mit einer sehr speziellen Forderung: „Es gibt eine Wissenschaft, die ist in so hohem Sinn Lebenshilfe als nur eine, und sie müsste in höherem Maß und bewusster als bisher in Aufnahme kommen. Das ist die Wissenschaft von den großen Menschen.“ Schiller ist für den 1882 in Marburg an der Drau (heute Maribor) geborenen Max Mell natürlich ein großer Mensch und somit automatisch Gegenstand dieser Wissenschaft: „Die großen Männer sind der Trost in der Geschichte.“ Hier wäre ein Streitpunkt zwanglos benannt. Man muss dazu nicht eigens einer mehr oder minder orthodoxen marxistischen Theorie anhängen, um der Lehre von den großen Männern in der Geschichte mit Skepsis zu begegnen. So sicher gilt, dass ihr Wirken von Bedeutung ist, so sicher ist auch, das große Verläufe ihren historischen Verlauf auch dann nehmen, wenn bestimmte Personen ihr ihren Stempel nicht aufprägen.
Dennoch wäre es eine alberne Versuchsanordnung, sich etwa die deutsche Klassik ohne Goethe und Schiller vorzustellen. Weil eben Literaturgeschichte nicht dem Verlaufsschema der allgemeinen, der politischen, der sozialen Geschichte strukturanalog folgt, wohl aber dort Bedingungen vorfindet, die ihr relatives Eigenleben mehr oder minder deutlich bestimmen. 1955 jedoch hatte Max Mell ziemlich sicher nicht die Absicht, eine geschichtsphilosophische Debatte in eben diese Richtung anzustoßen. Schon der Einstieg gibt vor, worum es ging: „Freiheit – der Name Friedrich Schillers schwingt von ihrem Atem, ihr Atem durchweht den Glanz seiner Verse, durchweht das Bühnenhaus, in dem sich die Gebilde seiner Phantasie verwirklichen, vom ersten Wort an und lässt uns Lauschende mitatmen, schnell in Bann geschlagen, bald hingerissen und zuletzt erhoben.“ Da ist ein Ton angeschlagen, der heute eher abschreckt. Und nicht nur, weil jedermann weiß, dass im Bühnenhaus keineswegs sich die Gebilde von Schillers Phantasie verwirklichen, schon zu Schillers Lebzeiten hießen die Verwirklicher eher Dalberg oder Iffland und was heute bisweilen als Schiller verkauft wird, ist bestenfalls nach Schiller, man muss das verbrauchte Schreckwort Regie-Theater gar nicht an die Wände malen.
Max Mell aber, der wie überliefert ist, sogar einmal einen Antrag stellte, Mitglied der NSDAP zu werden, wollte in eine bestimmte Richtung: „Er rief die Freiheit auf, rief sie auf in den Menschen, er ist damit, sprechen wir es ruhig aus, ein politischer Dichter.“ Das bleibt festzuhalten: 1955 war ein kurzes Stocken vor der streng genommen ja wenig sagenden Charakteristik politischer Dichter vorzeigbar. Und natürlich fühlt sich der Autor Mell verpflichtet, nähere Erklärungen abzugeben: „Politischer Dichter – und der größten und stärksten einer, die Europa noch hatte. … er gebrauchte nicht die Mittel der Kunst zum Vortrag einer Lehre, sondern er wahrte die Würde der Kunst darin, dass er aus den Ansprüchen der Zeitthesen und der Meinungskämpfe das der Menschenwürde Giltige ins Gebilde hob.“ Diese Verteidigung hatte Schiller dann doch nicht nötig, denn dem Vortrag einer Lehre in seiner Kunst war er keineswegs zutiefst abgeneigt, nur wäre ihm sicher nie die Idee gekommen, das in jener unsäglichen Plattheit zu tun, deren Zeuge Max Mell ja in gleich mehreren Ausformungen in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts wurde.
Das Verhältnis von Schiller und Goethe erfährt am 5. Mai 1955 im Burgtheater Wien folgerichtig auch eine hohe Deutung: „Was in Schiller geläutert, Klarheit und Maß geworden, Goethe hat es nicht übersehen, und wie sein Bild in Schillers Geist stand, bewegte ihn. Der Augenblick, da Goethe und Schiller sich fanden, ist ein glückliches Ereignis, seine Bedeutung ist der Reinheit der Bezirke, in dem es sich abspielte, gemäß.“ Wir wissen, was hier so und nicht profaner beschrieben ist, hat mit Reinheit der Bezirke wenig zu tun. Auf beiden Seiten gab es massive und begründete Vorbehalte und der Umstand, dass es Goethe war, der zuerst in der Geschichte sein Verhältnis zu Schiller mit wachsendem Alter immer mehr verklärte und erhöhte, hat keine ausschließende Beweiskraft. Fest steht, beide haben voneinander profitiert, bei Max Mell liest sich das so: „Ein heilendes Gefühl ging für Schiller von der Nähe des Freundes aus. Zehn Jahren des abgenötigten Verzichts folgten zehn Jahre der Dichtung. Es ist die Zeit, da das deutsche Theater erschaffen wurde...“. Die umgekehrte Richtung des heilenden Gefühls klammert er weithin aus.
Auf der Suche nach einer symbolträchtigen Assoziation muss die Lage von Schillers Geburtshaus herhalten: „So hat Schiller ein Theater für sein Volk geschaffen: die Staaten des Abendlandes trugen ihm die Bilder ihrer Schicksalstage zu, und wer vor dem Haus in dem schwäbischen Städtchen Marbach steht, in dem Schiller geboren ist, dem mag es mit einem Mal ins Auge fallen, dass dort große Straßen auf den kleinen Fachwerkbau zugehn und sich dort kreuzen.“ Wer je in Marbach war, weiß, wie groß diese großen Straßen tatsächlich sind und sie sind seit Schillers Wegzug nicht schmaler gezogen worden. Der Pathetiker Schiller erlebt posthum die alles in allem aber milde Strafe, Pathos zu provozieren. Und hätte von einem Wiener sicher mit Heiterkeit vernommen, wie dieser seine großen Dramen sieht: „... es ist das Wissen von Weihe und Würde alter Kaiserherrlichkeit, wovon ein Abglanz schimmernd durch die großen Szenen seiner Trauerspiele geht.“
Verräterisch will heutigen Ohren klingen, was Max Mell zum „Wilhelm Tell“ vortragen ließ: „Schiller hat der Bewegung einen wahrhaften Dienst erwiesen, und von der vaterländischen Begeisterung jener Jahre blieb die Liebe zu ihm im Volke groß.“ Doch war es ihm wohl bewusst: „Er entging nicht dem Los der Popularität, bald gefeiert, bald entthront zu werden, und auch dem nicht, dass die Aufgeregten sein Wort bis in unsere Tage für zeitentsprungene Wünsche und Ziele in Anspruch nahmen.“ Es fragt sich, ob das Benutztwerden eine Frage der Popularität war oder ist, es fragt sich auch, ob es andere als zeitentsprungene Wünsche gibt für lebendige Menschen. Auch Zeitferne oder Zeitabgewandtheit entspringt der Zeit, in der sie kultiviert werden und wo sich eine eigene Theorie darum bilden will, wird das sogar besonders auffällig.
Schön aber und eine sehr spezielle Anspielung ist das Wort von den Aufgeregten. Denn es gibt das „politische Drama in fünf Aufzügen“ von Goethe, das haargenau den Titel „Die Aufgeregten“ trägt und meist vornehm umgangen wird, wenn von der Größe Goethes die Rede ist. Das fragmentarische Stück aus dem Jahr 1793 erhielt 1817 für die Gesamtausgabe von Goethe selbst die Bezeichnung „Ein politisches Drama“. Wer es in seiner Goethe-Ausgabe nicht findet, kann es innerhalb des Gutenberg-Projektes im Internet nachlesen. Die von Max Mell beschworene Wissenschaft von den großen Menschen hätte eine Unterdisziplin unbedingt zu berücksichtigen: Wo, wie und warum die großen Menschen klein werden und ob das eventuell dann doch gegen ihre Größe spricht. Max Mells Goethe-Rede trug übrigens den Titel „Aufblick zum Genius“. Ihre eigene Dimension ist so mit benannt. Mell starb am 12. Dezember 1971 in Wien.