Mit Kurt Pinthus im Theater

Die älteste (und einzige) Beiträgerin zur Anthologie „Menschheitsdämmerung“ könnte problemlos die Mutter der jüngsten Beiträger gewesen sein. Zwischen den Geburtsjahrgängen 1869 (Else Lasker-Schüler) und 1891 (Johannes R. Becher, Yvan Goll, Kurt Heynicke) liegen zweiundzwanzig Jahre, der Begriff Generation für alle zusammen wäre bereits deutlich überstrapaziert. Auch August Stramm (1874) und Theodor Däubler (1876) fallen aus dem Zeitrahmen, der freilich für den Herausgeber Kurt Pinthus eben nicht das Maß war. Erst später, als alles, was zum Begriff Expressionismus mehr oder minder präzise unter einen Hut passte, wie ein abgeschlossenes Sammelgebiet zu betrachten war, konnten auch Generationsfragen sinnvoll gestellt werden. Wobei sich wie immer darüber streiten ließe, welchen Erkenntnisgewinn Einschluss oder Ausschluss einzelner Personen brächte. Immerhin: Kurt Pinthus, der Herausgeber der bisweilen als berühmteste deutsche Lyrik-Anthologie des zwanzigsten Jahrhunderts gesehenen „Menschheitsdämmerung“, ist tatsächlich vor allem in seiner eigenen Generation fündig geworden.

Als Angehörige seines Jahrgangs 1886 stehen da Gottfried Benn und Albert Ehrenstein, ein Jahr jünger sind Jakob van Hoddis, Georg Heym, Georg Trakl. 1890 ist neben den engen Freunden Walter Hasenclever und Franz Werfel auch Ernst Wilhelm Lotz geboren. Nur ein einziger Lyriker von den 22 der „Menschheitsdämmerung“ (plus Else Lasker-Schüler eben) hat den Herausgeber Kurt Pinthus überlebt. Das war Kurt Heynicke. Als Pinthus am 11. Juli 1975 in Marbach am Neckar starb in seinem neunzigsten Lebensjahr, war er längst seltener Zeitzeuge und Denkmal einer verflossenen Zeit und eines ließ sich nicht mehr kaschieren: Das Interesse an ihm war erloschen. Noch zum 85. Geburtstag am 29. April 1971 publizierte der Gründungsdirektor des Deutschen Literaturarchivs Marbach Bernhard Zeller ( 19. September 1919 bis 7. September 2008) den feinen Sammelband „Der Zeitgenosse“ und wollte ihn als „Vorläufer künftiger Sammelwerke“ verstanden wissen. Doch mehr als diese schmale Auswahl aus den laut Zeller knapp zehntausend Texten, die Pinthus schrieb, ist bis heute nicht zusammen gekommen. Nur in Leipzig befasste man sich noch intensiver mit ihm im Zusammenhang mit dem Kurt Wolff Verlag.

Dabei geben die jeweiligen Kapitel, mit denen Zeller eine Gliederung vornahm, keineswegs nur vorläufige Geschmacksproben dessen, was Pinthus leistete, „zu manchen Zeiten bis zu drei Artikel am Tage“, wie der Herausgeber offenbar leicht irritiert festhält. Pinthus hat mit seiner Besprechung des italienischen Stummfilms „Quo vadis?“ 1912 „die erste programmatische deutsche Filmkritik“ verfasst, wie Thomas Diecks für Neue Deutsche Biographie (NDB) festhält. In „Das Kinobuch“ versammelte Pinthus 1914 unveröffentlichte Film-Szenarien von Autoren, die später auch in der „Menschheitsdämmerung“ wieder erscheinen (Lasker-Schüler, Hasenclever, Paul Zech, Ludwig Rubiner, Albert Ehrenstein). Von Beginn an aber beschäftigte ihn das Theater und so geben die 15 ausgewählten Theaterkritiken eine gute Vorstellung davon, warum Pinthus später im Exil in den USA als Dozent für Theaterwissenschaften arbeitete, immer wieder theatergeschichtliche Vorträge und Vorlesungen hielt. Die kurze Assistenzzeit bei Max Reinhardt in Berlin allein kann es nicht gewesen sein, die seinen Kompetenznachweis lieferte. Die Kritiken lesen sich gut und ergänzen vieles, was man aus anderen, umfangreicheren Kritikensammlungen der Kollegen kennt.

Schon 1912 sprach Pinthus über den aus Lemberg kommenden Schauspieler Jizchak Löwy, dessen jiddisches Volkstheater ihn so stark beeindruckte, dass er darüber ein Buch schreiben wollte. Eine gewisse Vorstellung davon, was ihn daran wie faszinierte, darf man seiner Besprechung des Gastspiels des staatlich-jüdischen Theaters Moskau aus dem Jahr 1928 entnehmen. Dort erinnert er an den Trauerzug für Abraham Goldfaden 1908 in New York, der so lang war, dass für zwei Stunden aller Verkehr stockte. Er nennt das jiddische „das erste wirklich internationale Theater“, es entgeht ihm allerdings auch nicht das, was er den neurussischen Einfluss nennt, es behagt ihm lesbar weniger. Dabei ist er ein Kritiker mit dem erkennbaren Willen, auch dann, wenn er einen mehr oder minder missratenen Theaterabend erlebte, dagegen sprechende Aspekte nicht des Effektes wegen auszuklammern. Man liest das, wenn er über Carl Zuckmayers „Katharina Knie“ schreibt, in solchen Worten: „Ein schwebendes Stück, wirklich ein Seiltänzerstück hätte es werden müssen. Aber noch einmal und zum letzten Mal: wie eine Gänseleber erstarrt dieser Stoff in dickem Schmalz; das Schmalz gerät ins Rinnen und riecht nicht immer ganz frisch.“ Es habe ihm eine schlaflose Nacht verursacht, wie das Stück mit einem bestrickend-hübschen Beginn ins Misslingen führt: „Und Zuckmayer, ein strammer und erfahrener Zecher, muss wissen, dass ein allzu öliger Wein schon kein Wein mehr ist.“

Pinthus erlebte die berühmte „Räuber“-Inszenierung von Erwin Piscator, die Aufsehen erregte und Debatten auslöste wie selten eine neuere Klassiker-Aufführung. „Es bedeutete eine Probe aufs Exempel für jeden, der fordert, das Theater unserer Zeit dürfe nicht von dem Häuflein Gebildeter als Atavismus, als kostümierter Kadaver mit Klage- und Preisgesängen hinter unserer Zeit hergeschleift werden.“ Damals war die Kostümfrage noch eine essentielle: „Deshalb ist es ein selbstverständliches Erfordernis, dass ein altes Stück, im Gegenwartsstil gespielt, mit einem neutralen, vereinfachenden, der Gegenwart angenäherten Kostüm, entsprechend der Elastizität unserer Tage dargestellt werden muss.“ Etliche Streichungen toleriert Pinthus, die bei den Monologen der Brüder Moor dagegen beklagt er ausdrücklich. „Alle Geschehnisse stürmten, nach kurzem pointierenden Verweilen bei Spiegelbergs Putschanzettelung, der ersten großen Räuberszene zu, die als zukunftweisendes Meisterstück exakten Ineinanderspiels beherrschter Massen und aufspritzender Soli in der Theatergeschichte aufbewahrt werden muss.“ Immerhin:„Peitschender Rhythmus einer Jazzmusik, durchschrien von der Internationale, jagt die Räuber durch einen Graben auf die Bühne.“

Dass drei Monologe gleichzeitig auf drei Spieletagen gesprochen wurden, fand dann auch Pinthus zu viel des Guten. Und er tröstete Maria Koppenhöfer: „Amalia wird immer so unmöglich bleiben, wie sie Schiller selbst empfand, als er ihr vorwarf, sie habe zu viel Klopstock gelesen.“ Die Amalia war eine der erste Rollen der 1901 in Stuttgart geborenen Schauspielerin, die sie am Preußischen Staatstheater spielte. Das Fazit des Kritikers: eine Aufführung, „deren Anfechtbarkeit immer noch hundertmal wertvoller ist als hundert geglücktere, rundere Aufführungen im traditionellen Schwerfälligkeitsstil.“ Sechs Jahre später sah Pinthus am Deutschen Theater einen „Prinz von Homburg“. „Der Kritiker aber hat seine Meinung dem Publikum zu sagen, auch wenn diese Meinung nicht die des Publikums ist.“ Er sah diesen Kleist von der Hand Max Reinhardts, bei dem er selbst kurzzeitig Dramaturg gewesen war. Und schrieb, wie er abschließend bekannte, „in ehrlicher Bestürztheit“ und dennoch „zeitlebens dankbar für tausend Herrlichkeiten Reinhardts, zeitlebens dankbar, weil er mir einst die Möglichkeit gab, an seiner Arbeit praktisch mitzuarbeiten“. Pinthus, was er „Rotter-Operette“ nannte: „Man sah ein großes Schaustück, barocken Pomp, pompöses Barock. Man sah die historisch getreuesten Kostüme, unter deren Last die Träger mehr schwitzten als unter der Bürde ihrer Rollen.“

Ebenfalls 1932 sah Pinthus im Berliner Komödienhaus „Kasimir und Karoline“ von Ödön von Horvath. „Horvath hat einen scharfen Blick, aber dieser Blick ist gefährlich; es ist darin etwas vom bösen Blick, sogar vom bitterbösen Blick. Der Humor, der in Horvaths Komödien üppig sprießt, ist sozusagen Unkraut. Horvaths Blick jätet die Herzen aus und findet Verlogenheit, Bösartigkeit oder Schwäche.“ Schwarzer Humor war zweifelsfrei nicht die Sache des Kritikers, warum er freilich den Begriff des Volksstückes vermied, der ja für Horvath konstitutiv ist, erschließt sich nicht. „Was Horvath am meisten fehlt, ist die Kunst der dramatischen Architektur; ein noch so befähigter Architekt, der nicht die Technik der Baukunst beherrscht, kann keine festen Häuser bauen.“ Von der Horvath-Renaissance hat Pinthus in seinem Alterssitz Marbach bis 1975 sicher nicht mehr viel mitbekommen, er hätte sich revidieren müssen, die Häuser waren durchweg fester als vermutet. Auch die von ihm erkannte „eigentliche Schwäche“ ist so schwach nicht: „Er kommt schwer weiter, er wiederholt sich nicht nur in seinen Stücken, sondern auch im gleichen Stück.“ Die Kritik, die Pinthus Horvaths Erstling „Die Bergbahn“ widmete, ist leider nicht aufgenommen, er zitiert sie nur ganz kurz: „Was Horvath am besten kann, ist: Menschen zeichnen, mit wenigen Strichen, mit wenigen Sätzen stehen die Leute da, insonderheit die Typen der Proletarier.“

Es wäre reizvoll zu lesen, wie Pinthus die Bühnenwerke seines Freundes Walter Hasenclever erlebte, von denen die frühen auf alle Fälle den meisten Prinzipien und Kriterien nicht entsprachen, die der Kritiker in seinen Darlegungen über die Stücke anderer entwickelte. Vielleicht aber hat er den Besuch dieser Schauspiel ja auch vermieden oder wenigstens das -gespräch nie auf sie gebracht. In „Walter Hasenclever, der Freund“ von 1925 lesen wir: „noch niemals hat es sicherlich eine literarische Freundschaft gegeben, in der innerhalb von 18 Jahren so wenig, wie zwischen uns, über Literatur gesprochen ward, am allerwenigsten über unsere eigenen Arbeiten.“ Dafür hat Pinthus Hasenclevers Freund Ernst Toller mit dem „Hinkemann“ sehr scharf hergenommen. „Die krassesten Geschehnisse reißen das Volk hin, und die Gefühlsschwelgerei findet stets in der nicht durch hohe Kunst geschulten Menge ein Echo. Ja, es besteht die Gefahr, dass durch diese Art wortschwelgerischer Stücke eine Art von Gefühlsverlogenheit im Volke gezüchtet wird.“ Für Pinthus war 1924 klar: „Toller wird entweder aufhören zu dichten oder er wird besser dichten.“ Aber ebenso: „Nur dass die Reinheit des Herzens nicht immer auch die Quelle eines wirklichen Kunstwerks ist.“ Das können auch Botschaften an Hasenclever gewesen sein.

Wer wissen will, was Pinthus tatsächlich begeisterte (neben Elisabeth Bergner und manch anderen Darstellern und Darstellerinnen), lese seine Besprechung von George Bernard Shaws „Heiliger Johanna“: „... die klügsten, ironischsten, weisesten, hirn - und herzenthüllendsten Gespräche, die jemals auf einem Theater der Welt ertönten.“ Oder: „Schwerlich lässt sich eine Frage denken, die heute gedacht werden könnte, ohne dass sie in diesem weltlichen Mysterium diskutiert würde.“ Dass macht einem Regisseur die Arbeit nicht leichter und Max Reinhardt hat sie, so Pinthus, genial bewältigt. Auch, weil er diese Elisabeth Bergner hatte, „weil sie eine auf die Bühne verschlagene, in sich versunkene Dichterin ist. Aber sie muss sich kleine Unarten abgewöhnen, wie das allzu häufige ins Gesicht und in die Haare Greifen.“ In Ibsens „Gespenster“ sah Pinthus: „Eine bewunderungswürdige, einheitliche Leistung, die größte, die uns die selten gesehene Lucie Höflich in den letzten Jahren zeigte.“ In Georg Kaisers „Kolportage“: „Engels wirklich witzige Regie hätte witziger gewirkt, wenn sie weniger witzig gewesen wäre.“ Man kann solchen paradoxen Wendungen nachlauschen, sie werden nicht dümmer.

Dass übrigens nicht einmal die Arbeit an den Elementardaten des Lebens von Kurt Pinthus als abgeschlossen betrachtet werden kann, erhellt ein Blick auf die gedruckten Angaben zu seiner Vorgeschichte. Bei Hanne Knickmann steht, dass der Vater in Erfurt ein Kaufhaus führte. Bernhard Zeller nennt den Erfurter Friedrich-Wilhelm-Platz als den Geburtsort, ohne zu erwähnen, dass dieser (1971) längst Domplatz hieß. Im Internet findet sich als Zusammenhang mit dem Namen Pinthus ein Siegfried Pinthus (6. Januar 1870 bis 1937). Er soll als Betreiber eines Geschäfts nahe des genannten Platzes in der Kettenstraße entscheidend an der Begründung dessen beteiligt gewesen sein, was heute in Erfurt als „Anger 1“ steht und bis zur Arisierung in der Nazizeit zu Tietz gehörte. Der Vater von Siegfried Pinthus soll Louis geheißen haben, ist unter den Kindern jenes Louis nicht genannt, der der Vater von Kurt Pinthus war (Mutter Bertha Rosenthal). Gab es zwei verschiedene, verwandte oder nicht verwandte Pinthus-Familien in Erfurt oder liegt irgendwo ein möglicherweise einfacher Irrtum vor? Die Großeltern von Kurt Pinthus väterlicherseits waren Hermann Pinthus (26. Juni 1822 bis 4. Juni 1896) und Jeanette Isaac (1822 bis 1867). Seinen Großvater müsste Kurt Pinthus also noch gut gekannt haben. Seine Eltern schlossen 1885 ihren Ehebund knapp drei Wochen vor des Großvaters 63. Geburtstag.


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