Erich Weinert 125

Was schreibt man über Erich Weinert? Muss man überhaupt über ihn schreiben, nur weil sein 125. Geburtstag ist am 4. August 2015? Man muss keineswegs über ihn schreiben, entschied Johannes R. Becher am 4. August 1950, stattdessen: „Regengüsse und Wellensturm. Mich den Wellen gestellt, schon um fünf Uhr morgens, dann im Regenwald, der mich noch zusätzlich mit seinem Wipfelregen überschüttete. Um Mittag herum ebenso stürmische Aufheiterung. Auf der hohen Düne – mit gleichzeitigem Blick zum Bodden und Meer, beinahe eine Gebirgswanderung, in sicherer Balance zwischen zwei blauen Wasserfernen, die sich in Himmelsfernen verwandelnd und sich so abwechselnd umträumen lassen.“ An diesem Freitag meldeten sich, wie Becher ebenfalls festhält, zwei Gedichte bei ihm: „Eines davon, als misslungen, abgebrochen. Solche Fehlgeburten ereignen sich bei mir gewöhnlich in sehr fruchtbaren Perioden.“ Das mag ihm schön vorgekommen sein, Trefferquote fünfzig Prozent, Periode fruchtbar, anders als bei Frauen. Hätte Becher in dieser Zeit ein echtes Tagebuch geschrieben und nicht eines für den baldigen Druck im Aufbau-Verlag, hätte da vielleicht gestanden: „Weinert 60. Der Kerl lebt immer noch.“

Es ist eben nicht belanglos, wenn der Kultur- und Literatur-Obere der jungen Deutschen Demokratischen Republik am sechzigsten Geburtstag seines Genossen und Emigrationsgefährten Erich Weinert nicht eine Sekunde an ihn denkt. Oder dies demonstrativ (vor allem sich selbst) vorführt. Denn zehn Jahre vorher, 1940, da hat Becher sogar eine Rede gehalten für Weinert, eine Rede freilich, die als Rückübersetzung aus dem Russischen erst lange nach dem Tod Bechers im Druck erschien. Wer sich die Mühe macht, die vier dicken Bände Publizistik von Becher zu durchforsten, der findet wenig, der findet aber vor allem in jenem Zeitraum, der die letzten Lebensjahre von Erich Weinert in der DDR umfasst, nichts. Was das über Becher aussagt, hat Hans Mayer in seinem Buch „Der Turm von Babel. Erinnerung an eine Deutsche Demokratische Republik“ in eine bündige Form gefasst: „Becher hatte Todfeinde unter den Moskauer Emigranten: wohl nicht unverschuldet. Erich Weinert, der vorzügliche Lyriker einer politischen Agitation im Kampf gegen das Dritte Reich und gegen Kriegsende der Präsident eines Nationalkomitees Freies Deutschland, hat den Mitemigranten Becher bis zum Schluss trotz aller Parteimitgliedschaft und gemeinsamen Prominenz inbrünstig gehasst.“

Um keinen falschen Eindruck entstehen zu lassen: Hans Mayer zählt nicht zum schreibenden Fanblock von Erich Weinert. Eher im Gegenteil. In Mayers wahrlich umfangreicher Selbstdarstellung „Ein Deutscher auf Widerruf“ fällt der Name Weinert kein einziges Mal und in den sorgsam edierten Briefen Mayers geht es lediglich einmal um die Abstellung eines Mitarbeiters seines Leipziger Instituts für die Erich-Weinert-Ausgabe. Der Brief vom 2. Januar 1961 ist an Stephan Hermlin gerichtet. Das andere Mal ist Willi Bredel der Adressat. Am 15. Februar 1951, also noch zu Lebzeiten Weinerts, geht es eigentlich auch nicht um ihn selbst, sondern um Kurt Tucholsky in einer Textsammlung, die Walther Victor veranstalten wollte. Hans Mayer steht mit diesem seinem Umgang mit dem berühmten „Sprechdichter“, dem „Tribunen“, wie er gern genannt wurde, dem Mann, der angeblich in den Schützengräben vor Stalingrad mit dem Lautsprecher in der Hand vielen deutschen Soldaten das Leben rettete, nicht allein. Das vorrangige Phänomen, auf das man stößt, wenn man unvermittelt versucht, sich der scheinbar fixen Größe Weinert zu nähern, ist das Phänomen der Abwesenheit. Zwei umfangreiche Briefbände von Anna Seghers, nach dem Ende der DDR ediert, haben ein einziges Mal in allen Jahren, die dokumentiert sind, immerhin von 1924 bis 1983, den Namen Weinert.

Am 22. Januar 1939 bat sie Rudolf Olden (14. Januar 1885 bis 18. September 1940) in dessen Eigenschaft als Sekretär des Internationalen PEN um Hilfe in Sachen Weinert. Der war mit den Resten der Internationalen Brigaden im Lager bei Barcelona und wollte nach Frankreich, um von dort in die Sowjetunion zu gelangen: „Der Mann hat Frau und Kind in Moskau, und die Sowjet-Botschaft hat auch hier für ihn schon das Visum.“ Weinert benötige ein englisches Permit (Reiseerlaubnis), um nach Frankreich zu gelangen. Ansonsten: weder zu den runden Geburtstagen noch bei anderen Gelegenheiten eine einzige Zeile, an niemanden. Auch jene Widmung, die Anna Seghers für den toten Weinert schrieb, veröffentlicht im Heft 3/4 von „Sinn und Form“ 1953, enthält nicht die Spur einer persönlichen Erinnerung. Sie bemüht eine ältere Buchhändlerin, um einen menschlichen Ton in die Lexikon-Sätze zu tragen, die auch sie benutzt. Traf man sich nicht gelegentlich im Schriftstellerverband, in der Akademie der Künste, deren Gründungsmitglied Weinert ja immerhin war? In der Zeitschrift der Akademie, eben in „Sinn und Form“, ist der Vizepräsident Weinert nur ein einziges Mal selbst zu Wort gekommen, zu Stalins Tod.

Was auffällt, sind bestimmte stehende Formeln. Sie sind einem früher, ich rede von mir, so nicht aufgefallen. Immer wieder, auch bei Anna Seghers, ist wie selbstverständlich vom „besten Teil“ des Volkes die Rede. Die Rede impliziert, dass es schlechtere und gar einfach nur schlechte Teile des Volkes gibt. Kann oder muss man, darf man sofort fragen, mit diesen Teilen eines Volkes anders umgehen als mit dem besten Teil, wenn man für sich selbst in Anspruch nimmt, von der Geschichte mit der führenden Rolle beauftragt worden zu sein, also Gesetze zu vollziehen? Die Frage ist keineswegs rhetorisch. Auch im Leben von Erich Weinert spielte es eine nicht unerhebliche Rolle, dass die KPD gegen Kriegsende die lange gepflegte Zwei-Deutschländer-Theorie zu den Akten legte und sich eine Kollektiv-Schuld-These verordnete. Das offensichtliche Grundphänomen kommunistischen Denkens, das Wunschdenken, die Klassiker nannten es beschönigend „Verkürzung der revolutionären Perspektive“, hat Männern wie Erich Weinert böse Fallen gestellt. Die Praxis als Kriterium der Wahrheit, sie stand wohl in den Lehrbüchern, selbst in dem berüchtigten „Kurzen Lehrgang“, mit dem Stalin den dialektischen und historischen Materialismus fast bis zur Unkenntlichkeit vulgarisierte. Nur ernst nehmen wollte das niemand.

Man begegnet, um den Streifzug fortzusetzen, frappierenden Fehlstellen in Sachen Weinert. Die Emigrantin Hedda Zinner beispielsweise beginnt in ihrem Buch „Auf dem roten Teppich“ den Abschnitt „Alte Freunde und Gefährten“ mit dem Satz: „Junge Menschen sprechen ihre Namen wie Klassiker aus, wie etwas weit Zurückliegendes.“ Die längere Reihe der Namen, die sie dann aufzählt, führt Erich Weinert an vorletzter Stelle, nach Turek (Ludwig Turek, 28. August 1898 bis 9. November 1975) und vor Wolf (Friedrich Wolf, 23. Dezember 1888 bis 5. Oktober 1953). Ich bin mir nicht sicher, ob jemals irgendein Mensch, ob jung oder alt, auf die absurde Idee gekommen ist, Ludwig Turek einen Klassiker zu nennen. Bei Friedrich Wolf könnte man in die Diskussion über die These eintreten. Hedda Zinner trägt immerhin eigene Erinnerungen an Weinert vor, sie hat ihn als junge Schauspielerin selbst kennen gelernt. Und einmal, ein einziges Mal, Gedichte von ihm vorgetragen, als er Sprechverbot in Preußen hatte, jenes Sprechverbot, dass nicht nur zu DDR-Zeiten mit einer so genannten „Lex Weinert“ in Zusammengebracht wurde. Vor allen will Hedda Zinner aber davon erzählen, dass und was Erich Weinert im Vorwort zu ihrem ersten eigenen Gedichtband schrieb. Man kann ihr diese späte Eitelkeit verzeihen.

Auch Hedda Zinner fühlte sich verpflichtet, Weinert gegen Kritiker zu verteidigen. Wie im Chor tun das alle, die sich überhaupt dem Thema zuwenden. Seltsam nur, dass nie einer dieser Kritiker genannt wird. Wohl aber die immer neu variierte Grundaussage, dass die Abwesenheit von Kunst bei Weinert eben genau seine Kunst gewesen sei. „Ja, sie sind gradlinig und einfach, aber nie primitiv, und bei vielen seiner Kritiker sprach der Neid über seine große, von keinem erreichte Popularität mit.“ Das mag so gewesen sein. Man kann, an den Anfang zurückkehrend, noch einmal Becher heranziehen. Da gibt es, aus dem Jahr 1932, eine überraschende Polemik gegen Sergej Tretjakow, nur wenige Jahre später Stalin-Opfer. Der Russe hatte etwas arg euphorisch behauptet: „Wie die Gedichte Weinerts, die Lieder Hanns Eislers kennt in Deutschland jeder (!) Arbeiter, jeder Jungkommunist, jeder Pionier die Montagen Heartfields.“ Und niemand Johannes R. Becher, muss wohl ergänzt werden. Hedda Zinner jedenfalls zeigt sich in den Fakten nachlässig oder unwillig, ihre Aussagen zu verifizieren. Für sie war Weinert „im Ausland“, als die SA ihn im Barnayweg suchte, wo auch das Ehepaar Fritz Erpenbeck und Hedda Zinner wohnte. „Er emigrierte wie wir in die Sowjetunion.“

Genau das tat er eben nicht. Er blieb in der Schweiz, wo er sich befand, und ging nach Frankreich, als ihm die Schweiz seinen Aufenthalt nicht verlängerte. Werner Mittenzweis „Exil in der Schweiz“ trägt ausführlich die Geschichte der Ausweisung vor, bei der auch die Einschaltung des Schweizer Schriftstellers Jakob Bührer (8. November 1882 bis 22. November 1975) nichts bewirkte. Nicht annähernd so kritisch wird das Exil Weinerts in der Sowjetunion in der gleichen Exil-Reihe des Leipziger Reclam-Verlages behandelt. Obwohl es da fast die größeren Probleme gab. Denn als Erich Weinert nach seiner Teilnahme an den Kämpfen um das Saar-Plebiszit in die Sowjetunion emigrieren wollte, hatte sich die Politik dort gegenüber der ersten Zeit nach dem 30. Januar 1933 radikal geändert. Der Mord an Kirow Ende 1934, der die Periode der Schauprozesse und Massenverfolgungen in der Sowjetunion einleitete oder auslöste, hatte alle Einreisen radikal erschwert. Hätte sich nicht Willi Bredel für Weinert in die Bresche gehauen, wäre Weinert dort wohl nie angekommen. Bredel und Weinert hat das endgültig zusammengeschweißt, wie es scheint, während man sonst bei näherem Studium des sowjetischen Exils für deutsche Kommunisten eher den Grundeindruck gewinnt, es habe die einzelnen Genossen, der Kalauer sei verziehen, auseinander geschweißt. Und als 1937 in Moskau entschieden wurde, wer zum Internationalen Schriftstellerkongress nach Madrid fährt, hatte einer das Nachsehen: Becher.

Auf der Suche nach Gründen, woher die tiefe Abneigung Johannes R. Bechers gegen Erich Weinert und eben auch gegen Willi Bredel stammt, hat man hier den wohl entscheidenden Grund gefunden. Nicht die Popularität ist es, darüber setzt man sich dann doch eher leicht hinweg, indem man, wie es Becher sogar öffentlich tat, Weinert nachredet, er kenne Hölderlin nicht, indem man ihn einen „tyrtäischen Sänger“ im Sinne Goethes nennt, in der Annahme, Weinert wisse nicht, was da gemeint sein könnte. Nein, die Delegierung von Willi Bredel und Erich Weinert nach Madrid, beide blieben anschließend dort und nahmen an den Kämpfen der Interbrigaden gegen Franco teil, hat ihn zutiefst getroffen. Es wird sogar eine explizite Aussage Bechers kolportiert, derzufolge er gesagt haben soll, es seien „die Falschen“ nach Spanien geschickt worden. Dahinter aber steckt die natürlich in keiner Darstellung während der DDR-Zeit mögliche und gewollte Horror-Situation, dass die deutschen Kommunisten in diesen Jahren unter Stalin buchstäblich ständig Angst haben mussten, verhaftet zu werden. Hedda Zinner war noch in ihrer späten „Selbstbefragung“ nicht in der Lage, wirklich ehrlich mit der dort erlebten Zeit umzugehen, sie schrieb immer nur von den Verhaftungen, nie von den anschließenden Erschießungen.

Johannes R. Becher hat mitten in einer Atmosphäre des Rufmordes, des Dauer-Misstrauens der Kommunisten untereinander die vermutlich panische Angst gehabt, man traue nun auch ihm nicht und das konnte, was Becher sicher besser als alle wusste, das Ende bedeuten. Es gibt glücklicherweise jenes Protokoll einer geschlossenen Parteiversammlung in Moskau 1936, an der alles teilnahm, was Rang und Namen hatte unter den emigrierten Kommunisten vor allem Deutschlands, Österreichs, aber auch Ungarns. Erich Weinert meldete sich spät zu Wort. Und vielleicht ist die Atmosphäre nie deutlicher und erschütternder beschrieben worden.: „ … ich muss sagen, dass einen solchen Misthaufen von Cliquenbildung, von Verleumdung und Klatsch ich mir nicht hätte träumen lassen.“ Auch hier gebietet es die Ehrlichkeit zu sagen, dass Erich Weinert sich dennoch als Teil dessen betätigt hat, in einem Fall wohl sogar mit schlimmen Folgen. In David Pikes Darstellung des Exils in der Sowjetunion findet sich der Fall Gles bereits, Pike hat aber offenbar zur Person Gles nicht weiter recherchiert. Dieser S. Gles hieß ausgeschrieben Sally Gles und das wiederum ist das Pseudonym eines deutsch-jüdischen Schriftstellers namens Samuel Glesel (10. Juni 1910 bis 5. November 1937). Den hatte Erich Weinert in unfassbar bösartiger Weise kritisiert und öffentlich beschimpft, es folgte der Ausschluss Glesels aus dem Schriftstellerverband.

David Pike: „Wann und unter welchen Umständen Gles sein Ende gefunden hat, ist nicht bekannt, aber man hörte nie wieder von ihm.“ Inzwischen weiß man: Am 4. September 1937 wurde er verhaftet, am 29. Oktober zum Tode verurteilt und am 5. November im Zuge der „Deutschen Operation“ erschossen. Geradezu beängstigend ist übrigens, wie sich in dieser Parteiversammlung, als die Diskussion mit Erich Weinert ablief, nach der es eine Pause gab, Gustav von Wangenheim gebärdete. Weinert musste sich rechtfertigen, wieso er noch Kontakt habe zu einem Mann, der aus der Partei ausgeschlossen wurde. Wangenheim fragte allen Erstes: „Kann man das, was ein parteiloser Arbeiter sagt, zur Kenntnis nehmen?“ Die unfassbare Selbstüberhebung solcher Kommunisten, die sich nach außen hin als die Vorhut, die organisierte Vorhut der Arbeiterklasse ausgaben und in interner Versammlung den parteilosen Arbeiter nicht einmal zur Kenntnis nehmen wollen, geschweige denn ernst, die will verarbeitet sein. So war der „beste Teil“ des deutschen Volkes? Weinert schilderte, wie extrem die Wohnungsfrage die Exilschriftsteller belastete und wie fast in gleichem Maße die Unzahl endloser Versammlungen: „Es gibt viele Genossen, die, wenn fünf Genossen das Richtige gesagt haben, zum sechsten Male nochmals das Richtige in anderer Form und noch länger sagen müssen.“ Das scheint ein allgemeines Partei-Phänomen zu sein, was die Versammlungen, die Weinert erlebte, nicht besser macht.

Wer auf der Suche nach einer nicht DDR-gefärbten knappen Vorstellung Erich Weinerts das ZEIT-Literaturlexikon zur Hand nimmt, findet dort im vierten Band den Beitrag von Alexander Reck. Mit dem Satz, an dem man hängen bleibt: „Anfang der 30er Jahre wurde W. unter anderem wegen „Aufreizung zum Klassenhass“ angeklagt und durfte in der Folge des Prozesses mehrere Monate lang in Preußen seine Gedichte nicht mehr vortragen; möglich wurde dies durch ein nur für ihn ausgeklügeltes Gesetz, das als „Lex Weinert“ in die Justizgeschichte einging.“ Das macht neugierig. Schon die erste Recherche aber ergibt, das hier zwei Dinge miteinander vermischt sind. Die Anklage wegen „Aufreizung zum Klassenhass“ basiert auf einem keineswegs für Weinert eigens erklügelten Gesetz. Es ist eine Anklage nach Paragraph 130 des Reichsstrafgesetzbuches, welches wiederum eine wörtliche Übernahme des Strafgesetzbuches des Norddeutschen Bundes vom 30. Mai 1870 war, vom Kaiser des neu begründeten Reiches dazu erhoben. Der kurze Paragraph 130 hat folgenden Wortlaut: „Wer in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise verschiedene Klassen der Bevölkerung zu Gewaltthätigkeiten gegen einander öffentlich anreizt, wird mit Geldstrafe bis zu zweihundert Thalern oder mit Gefängniß bis zu zwei Jahren bestraft.“ Dass hier nicht der marxistisch-leninistische Klassenbegriff gemeint ist, liegt auf der Hand.

Nicht ohne Interesse ist freilich, dass auf der Basis dieses Paragraphen noch unter dem Kaiser Anklage gegen extreme Antisemiten erhoben wurde und in der frühen Weimarer Republik gegen die „Blutschwester Pia“ genannte glühende Hitler-Anhängerin Eleonore Bauer, die später Menschenversuchen im KZ beiwohnte und sich dagegen aussprach, dass bestimmte Versuche unter Narkose und nicht bei vollem Bewusstsein ausgeführt wurden. Die „Lex Weinert“ dagegen ist nie schriftlich fixiert, geschweige denn zum Gesetz erhoben worden. Sie war eine Verordnung auf dem Befehlswege, so weit ermittelbar ist und konnte schon deshalb nicht in die Justizgeschichte eingehen. Genau diese Behauptung aber hat Alexander Reck von Werner Preuß übernommen, ohne das erkennbar zu machen. Preuß wiederum ist der Verfasser von „Erich Weinert. Leben und Werk“ in der DDR-Reihe „Schriftsteller der Gegenwart“, auch Verfasser einer Bild-Biographie zu Weinert aus dem Jahr 1970. Ihm war die eigene justizgeschichtliche Behauptung nicht einmal wichtig genug, sie als Faktum in seine Zeittafel zur Biographie aufzunehmen. Es klang einfach gut im laufenden Text.

Bei David Pike lässt sich gut dokumentiert nachlesen, wie weit von der Realität eine Darstellung wie „Erich Weinert vor Stalingrad“ aus der Feder von Gerhard Zirke, von dem keine näheren Daten zu ermitteln waren, entfernt ist, veröffentlicht im August 1960 aus Anlass des siebzigsten Geburtstages von Weinert. Verkürzt zusammengefasst: die Lautsprecher-Ansprachen wurden von den deutschen Soldaten rein akustisch gar nicht verstanden, die Millionen (?!) Flugblätter, die über der Front abgeworfen, Massendesertionen auslösen sollten, landeten meist weit hinter den vorderen Reihen, wo niemand desertieren konnte. Immer aber war die Angst vor der sowjetischen Gefangenschaft größer als die Angst vor dem Tod im Kampf, es gab nur extrem wenige Ausnahmen. Selbst die in den Flugblättern gemachten Versprechungen waren falsch, denn weder war gute und ausreichende Verpflegung garantiert, noch die sofortige Rückkehr bei Kriegsende oder der Verbleib im europäischen Teil und nicht etwa der Transport nach Sibirien. Es ist ausgerechnet worden, dass die Todesquote unter denen, die in Gefangenschaft gingen, keineswegs geringer war als die derer, die bis zum bitteren Ende kämpften. Genau deshalb soll diese Arbeit mit einem Bild enden, das Willi Bredel von Weinert überliefert hat, als die Schlacht um Stalingrad beendet war: Weinert sei tränenüberströmt zwischen ausgebrannten Panzern und gefrorenen Leichen herumgegangen, habe mit 18-19-jährigen Toten geredet. Er hat Stalin nur um wenige Wochen überlebt, ihn, dem er ganze Gedichtanthologien widmete.


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