W. Somerset Maugham: Lord Mountdrago

Wie viele Geschichten gibt es, in denen ein leibhaftiger Außenminister des British Empire, eine literarische, keine historische Hauptfigur ist? Die Frage ist rhetorisch: ich weiß es nicht. In dieser Geschichte von William Somerset Maugham aber ist Lord Mountdrago Außenminister. Und der Griff des Autors zu einer solchen Figur, so seltsam es klingen mag, durchaus nahe liegend. Maughams einzige Tochter aus seiner wenig glücklichen Ehe mit der geschiedenen Maud Gwendolen Syrie Barnardo, Elizabeth (1915 - 1998), heiratete einen Parlamentarischen Staatssekretär im britischen Außenministerium, der sogar Vizekönig in Indien gewesen war. Maugham selbst hatte einen älteren Bruder, der unter Chamberlain Lordkanzler wurde, und er war mit keinem geringeren als Winston Churchill befreundet. Genealogen fanden nach einschlägigen Recherchen heraus, dass die Maughams sich als direkte Nachfahren des englischen Königs Eduard I. (1274 – 1307) ansehen dürfen. Dies nennt man Vorbelastung und man muss gar nicht erst ein erfolgreicher Autor werden, um mit solchem Familienhintergrund Neid zu erregen. Just dieser William Somerset Maugham war als Autor von zahlreichen Theaterstücken, Novellen, Romanen und Essays sogar extrem erfolgreich. Der stets hammerhart recherchierende SPIEGEL bezifferte seinen Verdienst 1949 mit 750.000 Pfund und wiederholte diese Zahl 1956 unverändert in der Hoffnung, niemand merke, dass sieben lange Jahre einem Bestsellerautor natürlich weitere Pfunde eingebracht haben müssen.

Wie auch immer: Lord Mountdrago kommt zu Beginn dieser Geschichte nicht pünktlich zur Sprechstunde mit seinem Psychiater Dr. Audlin. Er kommt, das sei verraten, nicht nur nicht pünktlich, er kommt gar nicht, weil er tot ist. Er hat sich das Leben genommen, weil er dem Rat seines Arztes, wie er seine Alpträume ein für allemal loswerden könnte, nicht zu folgen vermochte. Während der Arzt wartet, lässt er die Geschichte ihres Arzt-Patient-Verhältnisses Revue passieren, der Erzähler Maugham charakterisiert beide Männer ohne Umschweife. Des Arztes Ruf ist enorm, fast der eines Wunderheilers, dem es unheimlich wird beim Blick auf das, was er für andere darstellt. Maugham selbst hat ein Medizinstudium bis zum Abschluss gebracht und den Satz hinterlassen: „Ich kenne keine bessere Schule für einen Schriftsteller als die, einige Jahre den medizinischen Beruf auszuüben.“ Das hätten ihm auch deutsche Autoren wie Gottfried Benn oder Alfred Döblin nicht auszureden versucht. Alle Selbstzweifel halten Dr. Audlin nicht davon ab, dem Außenminister mit Autorität und starkem Selbstbewusstsein zu begegnen. Es zeigt sich nach anfänglichen Machtgebärden des Lords, dass dieser tatsächlich leidet, tatsächlich hilfebedürftig ist. Seine scheinbar harmlosen Träume, von denen er drei in unmittelbarer Folge erzählt, belasten ihn so, dass er fürchten muss, seine verantwortungsvolle Tätigkeit nicht seinem eigenen Ethos gemäß ausüben zu können, die Pflicht geht ihm über alles.

Was sind es für Träume? Es sind durchweg Träume, in denen Lord Mountdrago eine lächerliche Figur abgibt, mal hat er keine Hose an bei einem großen Empfang, mal singt er statt zu reden im Parlament, mal wird er mit einer Prostituierten auf dem Schoß in einer sehr zweifelhaften Kneipe erwischt. Das alles wäre nicht weiter schlimm wahrscheinlich, würde es nicht in allen Träumen einen gewissen Owen Griffith geben, der all die lächerlichen Szenen nicht nur beobachtet, sondern auch mit Häme darauf reagiert. Just dieser Griffith ist im Parlament ein durchaus redegewandter Mann der Opposition, den der Lord aus tiefstem Herzen als Emporkömmling aus der Arbeiterklasse verachtet. „Kaltschnäuzig fertigte er das sozial unter ihm stehende Volk ab“, heißt es über Mountdrago und: „In seiner maßlosen Selbstsucht nahm er jeden Dienst ohne Dankbarkeit hin als natürlichen Tribut an seine Geburt und Intelligenz.“ Kaltschnäuzig, selbstsüchtig, maßlos – kann unter dieser Oberfläche Verletzlichkeit stecken, gar existentielle Unsicherheit? Es dauert, bis Dr. Audlin seinem Patienten gegen dessen Widerstand entlockt hat, dass es keineswegs zufällig ist, wenn dieser Owen Griffith und nicht irgendein anderer Mann aus welcher Sphäre auch immer Zeuge der Lächerlichkeiten in diesen Träumen ist. Lord Mountdrago hat diesen auch körperlich kleinen Mann seinerseits lächerlich gemacht und das in Gegenwart von dessen Eltern. Nassforsch bekennt der Lord: „Die vernichtendste Waffe im Unterhaus ist Lächerlichkeit, und ich verspottete ihn, ich nahm ihn hoch, ich brillierte, und das Haus bebte vor Gelächter“, sogar Fraktionskollegen des Opfers konnten sich das Lachen nicht verbeißen.

Der Witz der Geschichte ist ein verrückter Umstand: Owen Griffith erweckt in den Augen des Außenministers die kaum abweisbare Vorstellung, er wisse nicht nur einfach von den Inhalten dieser Träume, als wären es tatsächliche Geschehnisse, es scheint, als träume er gar dieselben Träume. Ist Lächerlichkeit ein solches Thema, ein Trauma, wie es heute rasch heißt? Für William Somerset Maugham dürfen wir es begründet vermuten. Er war in jungen Jahren ein Stotterer, ist ausgelacht worden, hat fortan, wie damit gut begründet behauptet wurde, auf wenig mehr Wert gelegt als darauf, auch nur den geringsten Anlass zu vermeiden, der ihn in ein Licht der Lächerlichkeit hätte stellen können. Es muss nicht erörtert werden, ob unter erwachsenen Menschen in Mediengesellschaften, soweit sie Persönlichkeiten des öffentlichen Interesses sind, Angst vor eigener Lächerlichkeit ein guter Ratgeber sei. Maugham starb zwar am 16. Dezember 1965, doch waren sicher auch damals schon Massenblätter wenig zimperlich. Heute erscheint neben dem britischen Boulevard der deutsche immer noch wie von Rest-Anstand geschlagen, was er natürlich gar nicht ist. Aber es geht ja um eine fiktive Geschichte. Die uns Interesse abverlangen will und es schafft. Ein traumatisierter Außenminister ist in bewegten Zeiten noch weniger brauchbar als in ruhigen. Dr. Audlin rät, als er die Situation überschaut und gesehen hat, dass sonst nichts hilft, dazu, sich bei Owen Griffith zu entschuldigen.

Friedrich Dürrenmatt hat in seinem frühen Hörspiel „Der Doppelgänger“ den dort agierenden Regisseur zum Schriftsteller sagen lassen: „Im Traum ist alles erlaubt, auch das Ungerechte. In den Träumen ist das Gruseln legitim.“ Der Regisseur ist so etwas wie die Stimme der Praxis gegen den Schöpfer literarischer Fiktion. Nur insofern darf man den Schweizer mit dem Engländer konfrontieren, es ist eine Begegnung als Kopfgeburt. Auch für Maugham ist Literatur Gegenstand in seiner Geschichte. „Er lachte selten, er lächelte höchstens gelegentlich, wenn er zu seiner Entspannung einen Roman las. Hielten die Autoren ihre Figuren wirklich für Menschen aus Fleisch und Blut? Wenn sie ahnten, wieviel komplizierter und unberechenbarer eine Seele ist“, heißt es über den Psychiater Dr. Audlin. Weil er das weiß und berücksichtigt, gilt für ihn: „Ihn erschütterte nichts: er wusste nachgerade, dass der Mensch ein Lügner und seine Eitelkeit grenzenlos war, er wusste noch bedeutend Schlimmeres, aber er wusste auch, dass er nicht zu richten oder zu verdammen bestellt war.“ Auch hier ist der Autor wenig weit von seiner Figur entfernt. Als Maugham vorgeworfen wurde, ein Zyniker zu sein, entgegnete er: „Wenn es zynisch ist, die menschliche Natur so zu nehmen, wie sie ist, zu lächeln, wenn sie absurd, nicht übermäßig betrübt zu sein, wenn sie kläglich ist, dann bin ich wohl ein Zyniker.“ Und: „Meistens ist die menschliche Natur absurd und kläglich zugleich.“ Wer mag ihm guten Gewissens widersprechen?

Als Maugham vor 50 Jahren starb, sollen zehn Millionen verkaufte Bücher in seiner Bilanz gestanden haben. Wikipedia lässt der Zahl den Satz folgen: „Trotzdem gelang ihm nicht, wonach er strebte: als ein brillanter Autor zu gelten.“ Das ist so formuliert schlicht falsch. Brillanz hat man ihm wohl zugestanden, das ist eine Eigenschaft von Literatur, die jenseits des Bereichs der Unterhaltung gar nicht existiert. Gemeint ist, was anders formuliert so klingt: „Er hat seine Massenerfolge mit seinem literarischen Ruf bezahlen müssen.“ Bei wem und in welcher Münze, sollte man fragen. Fakt ist, dass ein sich repräsentativ gebärdendes Nachschlagewerk wie das sechsbändige ZEIT-Literaturlexikon den Namen Maugham gar nicht mehr kennt. Der SPIEGEL hat ihm dagegen 1956 eine über neun Seiten laufende Titelstory mit vielen Fotos gewidmet, was brillanten Autoren selten bis nie geschehen ist. Und in den Jahren bis 1966 keine Gelegenheit ausgelassen, Klatsch-Nachrichten über ihn zu verbreiten wie nur irgendein Boulevard-Medium. 2005 gab es noch einmal diverse Versuche, neue Neugier auf den Mann zu fokussieren, der als einer der meistgelesenen englischsprachigen Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts zu gelten hat, sie blieben wenig erfolgreich. Auch wenn Neuauflagen bei Diogenes einen anderen Anschein erzeugten. Dem finalen Dünndruck folgt mit schöner Regelmäßigkeit das Vergessenwerden.

In „Lord Mountdrago“ liest man, als sei es 2015: „Eine gewisse Sentimentalität ist ja das Öl jeder politischen Debatte. Man regiert die Nationen entsprechend ihrem eigenen Vorteil, aber sie glauben lieber an uneigennützige Ziele, und ein Politiker tut gut daran, seine Wählerschaft mit schönen Worten und klingenden Phrasen davon zu überzeugen, dass ein harten Kampf um jeden Gewinn für sein Land eigentlich dem Wohle der Menschheit dient.“ Auf welche aktuelle Großdebatte lässt sich das nicht beziehen? William Somerset Maugham war 1962 nach 1928 George Bernard Shaw der zweite lebende Autor, der in Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett aufgenommen wurde, er ließ sich mit gewissem Genuss daneben fotografieren. Maugham gehörte zu den ersten Großautoren, deren Homosexualität in die breite Öffentlichkeit getragen wurde. Mit dem Wissen darum und um das Scheitern seiner Ehe liest sich anders, was der Lord zu seinem Psychiater sagt: „Ich muss Ihnen sagen, dass Sex in meinem Leben nie einen wichtigen Platz einnahm. Ich heiratete jung, weil es in meiner Situation wünschenswert ist, verheiratet zu sein, und weil die erotischen Probleme damit ein für allemal geregelt waren. Wie geplant wurden mir zwei Söhne geboren, und dann schloss ich das Kapitel ab.“ Der Erzähler Maugham hat noch im hohen Alter seinen persönlichen Sekretär adoptiert und einen deshalb angestrengten Prozess gegen seine leibliche Tochter verloren.

Maugham hätte sich nicht dagegen gewehrt, in seinen Werken gesucht zu werden: „Alle Charaktere, die wir erschaffen, sind nur Kopien unserer selbst.“ Willy Haas (7. Juni 1891 bis 4. September 1973), dessen Name noch immer Sonnabend für Sonnabend im Kopf der LITERARISCHEN WELT steht, die er begründete, verglich einst Maugham mit Maupassant und kam zu einem überraschend weitreichenden Urteil: „Und da sie so ungeheuer viel zu erzählen hatten, lag ihnen nicht so sehr viel an formalen Experimenten, nicht so viel wie den hochintellektuellen Experimentatoren der modernen Literatur.“ Der Umkehrschluss ist brutal: Wer nichts zu erzählen hat, experimentiert. Maugham selbst hat sich zur Sache prägnant ausgedrückt: „Ich habe nie viel Geduld mit Schriftstellern gehabt, die beanspruchen, dass sich der Leser bemühen müsse, den Sinn des Gelesenen zu verstehen.“ Der SPIEGEL hat, weil es so schön war, 1949 und 1956 die Tagebuch-Auswahl „Aus meinem Notizbuch“ identisch zitiert: „Wenn mein Nachruf schließlich in der TIMES erscheint und sie sagen werden: Ach, ich dachte, er sei schon vor Jahren gestorben, dann wird mein Geist leise lächeln.“ Maugham ist wenige Wochen vor seinem 92. Geburtstag an Lungen-Tuberkulose gestorben, die ihn schon früh in Sanatorien trieb und an der auch seine Mutter starb. Man könnte das eine verrückte Geschichte nennen. Die er auf alle Fälle erzählt hätte.


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