Friedrich Michael: Dank ans Theater

Zehn Jahre nach seiner Entstehung ist dieser kaum mehr als zwanzig Seiten lange Text erstmals in gedruckter Form erschienen, 1952 als Sonderdruck des Insel-Verlags Wiesbaden zum sechzigsten Geburtstag von Friedrich Michael. Erst der Sammelband „So ernst wie heiter“ des Jan Thorbecke Verlags Siegmaringen nimmt ihn 1983 wieder auf. An seinem heutigen Todestag, Michael starb am 22. Juni 1986 gut vier Monate vor seinem 94. Geburtstag, mag es passend sein, auf diese rundum wunderschönen Erinnerungen des Mannes wenigstens hinzuweisen. Ganze elfeinhalb Zeilen hat der Autor des in diesem Jahr mit großer Verspätung erschienenen Büchleins „Das literarische Ilmenau“ dem am 30. Oktober 1892 in Ilmenau geborenen Michael gewidmet. Dabei ist die Zuordnung unter die Überschrift „Ilmenau in der Heimatliteratur“, die Detlef Ignasiak vornimmt, gerade in diesem Fall arg problematisch. Wenig präzise die Aussage, der 1932 erschienene Roman „Die gut empfohlene Frau“ sei in der NS-Zeit verboten gewesen, der Titel kam, wie Michael später selbst sagte, wohl versehentlich auf die Liste der zu verbrennenden Bücher und dies blieb für ihn auch ohne weitere Folgen. Auch der von Ignasiak vermittelte Eindruck, Michaels handliche „Geschichte des deutschen Theaters“ sei ein weithin bekanntes Standardwerk, führt eher in die Irre.

Im großen Sammelwerk „Ilmenau. Beiträge zur Geschichte einer Stadt“ sucht man selbst in der zweiten, überarbeiteten Auflage von 1998 im Personenregister vergebens den Namen Friedrich Michael, findet aber in Bernd Frankenbergers Darstellung „Ilmenauer Originale“ immerhin die einzige Erwähnung des „Lindentheaters“ im gesamten Buch und dort eine mundartliche Anekdote, die, Überraschung, auch Friedrich Michael erzählt hat und zwar eben in seinem schon 1942 entstandenen „Dank ans Theater“. Eine Darstellung der Ilmenauer Theater-Geschichte gar etwa in der Art, wie sie der inzwischen verstorbene Lehrer Rolf Stangenberger als Ruheständler nach akribischen Studien und Archivarbeiten in gleich drei Broschüren für Arnstadt vorgelegt hat, fehlt für Ilmenau und schiene doch keineswegs ein völlig aussichtsloses Unterfangen zu sein. Man lese die liebevollen Erinnerungen Michaels in „Dank ans Theater“, selbst die Manebacher Masken finden ihre Würdigung in diesem Zusammenhang und, für Michaels Biographie durchaus wesentlich: er sieht rückblickend den Grund für seine Theater-Liebe in Ilmenau gelegt. Er verließ seine Geburtsstadt endgültig erst nach dem Ersten Weltkrieg, eine Festhalle gab es da noch nicht. So waren seine Theaterorte das „Lindentheater“ und die freie Natur, er erwähnt die „Ascherofenwiese“.

Die Ilmenauer Vorliebe für Maskenfeste und Mummenschanz bringt Friedrich Michael mit den Schülern des Technikums in Verbindung, deren Umzugswagen seien „ein ferner Abglanz der großen Festwagen, des Kölner und Münchner Faschings“ gewesen. Ein Dresdner Maskenkatalog habe ihn einst inspiriert und so schildert er mit Humor seine kindlichen Versuche, mit den ausgeschnittenen Figuren eigene Dramen zu spielen. Dass ihm dabei Goethe und seine Puppenspielereien in Frankfurt zwanglos einfallen, liegt auf der Hand, schließlich ist Friedrich Michael auch ein profunder Goethekenner und weiß sich in Übereinstimmung mit dem Großen, weil auch der nie die ganzen Stücke spielte, sondern vorzüglich die fünften Akte, in denen der Tod seine tragödische Ernte hielt. „Während üblicherweise das Theaterspiel in den Städten der Wintersaison zugehört, hatte Bad Ilmenau sein sommerliches Kurtheater. Soweit es sich in dem Theatersaal der Lindenstraße abspielte, mag es recht und schlecht gewesen sein, wie mans von Sommerbühnen in kleinen Badeorten erwarten kann.“ Hier sah Friedrich Michael des Drama „Kean“, verfasst vom hochberühmten älteren Alexandre Dumas (Pariser Premiere am 31. August 1836). Das später Jean-Paul Sartre als Vorlage für seinen eigenen Fünf-Akter „Kean“ nahm.

An Details erinnert sich Michael nicht, eines aber erlebte er prägend: „Theater auf dem Theater, diese wirkungsvollste Wendung eines Schauspiels, feierte hier mit der Einbeziehung des Zuschauerraumes ihren höchsten Triumph – was Wunder, dass sich diese Vorgänge unauslöschlich eingeprägt haben.“ Was heute bisweilen noch immer als sehr modern daher kommen will, konnte man also schon vor hundert und mehr Jahren in Ilmenau erleben, das wahrlich keinen Platz in der Theatergeschichte beansprucht. Das Spektakelstück des Franzosen, merkt Michael an, vermittelte im Nebeneffekt auch die erste Begegnung mit Shakespeare: „Aber wir können uns unsere Erzieher selten aussuchen, auch nicht die Lehrmeister auf dem Weg der Erziehung zum Theater.“ Der „echte“ Shakespeare folgte bald und den Weg zu ihm machte das 1903 von Ernst Wachler (1871 bis 1945) nahe Thale gegründete Harzer Bergtheater frei. Der völkisch-antisemitische Autor Wachler nannte sein Theater „Grüne Bühne“ und solche gab es bald vielerorts in Deutschland. „Auch die Kräfte des Ilmenauer Sommertheaters versuchten sich nun in dieser Kunst, und es kamen einige Aufführungen zustande, die sich wirklich sehen lassen konnten.“ Friedrich Michael nennt zwei Beispiele: Shakespeares „Sommernachtstraum“ und Gerhart Hauptmanns „Die versunkene Glocke“.

„Die Verzauberung war vollkommen. Und diese Wirkung ergab sich nicht zum kleinsten Teil daraus, dass die Aufführungen nahezu improvisiert erschienen: dieser Spielplatz war noch nicht das, was man später eine Waldbühne nannte, es war kaum etwas am natürlichen Wuchs der Bäume, an der naturgegebenen Unebenheit des Wiesen- und Waldbodens verändert, und umso ursprünglicher, freier und beglückender wirkte daher das Spiel.“ Weniger die Darsteller als die Spielplätze sind dem späteren Theaterhistoriker und Verlagsleiter Michael im Gedächtnis haften geblieben. Ein weiterer solcher Spielort war ein sonst verschlossener Garten am Fuß der Sturmheide, wo der Rechtsbeistand der Direktion des Sommertheaters zu einem Gartenfest lud. Gespielt wurde die einaktige Tragikomödie „Die Hasenpfote“ von Hans Brennert, dem Mitbegründer des Verbandes deutscher Bühnenschriftsteller und Bühnenkomponisten (1870 bis 1942). Auch blieb nur die Erinnerung an den Ort und die bunte Gästeschar, an ein Tempelchen im Garten mit besonderer Schall-Leitung. Jahre später bietet der hundertste Todestag Goethes mit den Feierlichkeiten rundherum ein drittes Ilmenauer Spielort-Erlebnis für Friedrich Michael. Es ist verbunden mit einem Gastspiel des Reußischen Theaters Gera, bei dem Goethes „Stella“ aufgeführt wurde und zwar zweifach.

Michael erinnert sich des Zusammensitzens nach der ersten Aufführung im „Löwen“, vor allem aber der zweiten Aufführung am folgenden Tag „im Hauptsaal des alten Jagdschlosses Gabelbach für den kleinen Kreis der Waldgemeinde dieses Hauses“, sprich für die Gabelbach-Gemeinde, deren Geschichte August Trinius (1851 bis 1919) aufgezeichnet hat. Der von Michael Hauptsaal genannte Raum wird rasch einschränkend „als ein mäßig großes Zimmer, das keine hundert Menschen fassen könnte“, bezeichnet. „Und nun saßen nicht nur wir Zuschauer hier, es wurde auch in diesem Raum gespielt, unmittelbar vor unseren Füßen, ohne Kulissen, ohne alles das, was für viele recht eigentlich Theater heißt und was sich doch als null und nichtig, als ganz entbehrlich erweist, wenn eine große Dichtung von guten Schauspielern dargestellt wird. Erstmals fällt nun auch ein Name: Maria Pierenkämper, die die Stella spielte. Sie ist die Mutter des am 15. Juni vorigen Jahres verstorbenen Harry Rowohlt, geboren als Harry Rupp, sein Vater der Verleger Ernst Rowohlt. Er wurde 1957 vierter Ehemann der Schauspielerin, als der Sohn schon zwölf Jahre alt war, starb aber bereits 1960. Die „hohe Bewährungsprobe“ im Jagdhaus gelang und vermittelte, dass Theater nicht nur als Kunst, „sondern als gesellschaftliches Erlebnis, als ein Stück des Lebens“ zu gelten hat.

Und nun endlich kommt Ilmenaus „Haupthaus“ ins Blickfeld: „Unser Lindentheater, so genannt nach der vorteilhaften Lage in der schönen breiten Straße, die zu beiden Seiten von großen alten Linden gesäumt wird, war ein einfacher Saal mit einem Balkon, den immerhin zu jeder Seite der Bühne eine Loge zierte.“ „Die Bühne war ein ganz simples Spielfeld mit bescheidensten dekorativen Mitteln, aber zur Genugtuung des jugendlichen Theaterenthusiasten mit einer ordentlichen Versenkung, die denn auch benutzt wurde; ich glaube, es war im „Hund von Baskerville“, wo man im Verlauf der spannenden Moritat einen geknebelten Menschen in die Tiefe des Bühnenloches jäh verschwinden ließ.“ Der Theaterenthusiast sah den Tischler Mämpel hinter den Kulissen, den kleinen buckligen Friseur, „der einem von Zeit zu Zeit die Haare schnitt“. Und nun folgt die Anekdote vom Metzgermeister, dessen Laden dem Theater direkt gegenüber lag, dessen Vater der „Lindendachs“ genannt wurde, sein Name: Kuhn. Er knallte den „Hungerleidern“, als die er die Schauspieler ansah, einen dicken Schwartenmagen auf den Tisch. Was er dabei sagte, überliefert Friedrich Michael nicht, man kann es bei Bernd Frankenberger nachlesen. Der Gastwirt jedenfalls nahm offenbar keinen Anstoß, der Metzger dafür aber seinen Frühschoppen.

Da es in Ilmenau kein Gymnasium gab, musste der Arztsohn Michael nach Schleusingen, um zum Abitur zu kommen. Von dort aus gab es Theaterfahrten nach Meiningen, es gab Gastspiele in Hildburghausen und, Freunde von Arbeitsteilungen in der Theaterlandschaft werden das aufhorchend vermerken, aus Coburg kam die Oper, aus Meiningen das Schauspiel. „Denn was ist Theater? Kunst?“ fragt sich der Autor 1942 und antwortet sich selbst: „Ach, das kommt viel später! Theater, das ist das Ungewöhnliche, die Verwirklichung des Traumes, das ist Rausch mitten im nüchternen Alltag, das ist Aufflug ins hohe Reich der Ideen.“ In Ernst von Wildenbruchs Schauspiel „Väter und Söhne“ stand der Gymnasiast erstmals selbst auf der Bühne, spielte einen greisen Dorfschullehrer. Und auch hier kommt ihm Goethe in den Sinn, jener Goethe, der die Vorteile rühmte, wenn Männer Frauenrollen spielen. „Wir in Deutschland sind eher geneigt, den schönen Schein des Theaters mit der Wirklichkeit zu verwechseln. Natürlichkeit zu fordern, wo wir uns an einem Spiel erfreuen sollten.“ Wie nebenbei formuliert Michael so seine theaterhistorischen Grundsätze und kommt zur Hosenrolle in der Oper und zur Uraufführung des „Rosenkavalier“ 1911 in Dresden. Er begeistert sich für Richard Strauß und den Text von Hofmannsthal.

Von jeder entmündigenden Didaktik frei, aber um so tiefer in seiner klaren Aussagekraft ist seine Erklärung unterschiedlichen Umgehens mit Klassik und Zeitgenössischem, die Passage verdient in voller Länge zitiert zu werden: „Und das Vollkommenere nicht nur ehrfürchtig zu bewundern, sondern auch in seinem menschlichen Wert für uns zu erkennen, bedarf es der Reife, der Erfahrung vieler Jahre und des Wissens um die Mittel der Kunst aller Zeiten. Dem zeitgenössischen Werk begegnen wir freier, mit Neugier, Neigung oder Kritik; seine Schönheit wird uns selbst zum Spiegel, und noch seine Schlacken können wir lieben, weil wir sie als Rest unseres eigenen Feuers empfinden. Und wer selbst den Drang zur schöpferischen Arbeit spürt, der nimmt den Maßstab für seine Leistung aus solchem Werk der Zeitgenossen, und Gelingen wie Misslingen, die er dort zu erkennen glaubt, ermutigen ihn gleicherweise.“ Ist das nicht eine überzeugende und fast auch erschöpfende Erklärung für auffällige Phänomene der Literaturgeschichte wie die teilweise Ununterscheidbarkeit expressionistischer Gedichte, wo zahlreiche Autoren in einem begrenzten Zeitraum sich gegenseitig zu kopieren scheinen? Die Poetenbewegung der DDR, dafür früh, böse und eben ohne Verständnis kritisiert von Andreas Reimann, zeigte ähnliche Verwechselbarkeiten.

Die Vorliebe der Erfahrenen und Kenntnisreichen für das Vollkommenere, sie zeigt also, wenn wir Friedrich Michael folgen, nicht zuerst eine unüberbrückbare Kluft zwischen Generationen, sondern eben eine Entwicklungsfolge auf: man darf hoffen, dass alle, die jetzt nur neben sich schauen, später auch nach „oben“ oder „hinten“ schauen, also Dimensionen gewinnen, denen sie sich zunächst verschließen. Seine große Theaterzeit aber verbindet Michael mit München: „München 1911! Das war eine Stadt, die es nicht mehr gibt.“ Ohne seinen Namen zu nennen, macht er sich über Erich Mühsam lustig, der mit ideologischem Großaufwand und viel Rhetorik ein recht profanes Ziel verfocht. Ging es, fragt Michael, um Freiheit? Nein, antwortet er: „Gegen die polizeiliche Anordnung, dass die Gastwirtschaften nachts drei Uhr schließen müssten.“ Das Münchner Theater erlebt Michael vor allem auf Stehplätzen, Opern teilweise auf Galerietreppen ohne Akustik. Und dennoch ist er für diese Erlebnisse dankbar, er sah die Größen der Zeit von Max Halbe bis Frank Wedekind. „Im übrigen mussten wir den Eindruck gewinnen, dass es die Aufgabe des Theaters sei, den Menschen vor den Schrecken einer bürgerlichen Ehe zu bewahren.“ Um August Strindberg vor allem geht es und den Schauspieler Albert Steinrück und seine faszinierende Darstellungskunst.

Nach Strindberg aber kam Nestroy und wieder überrascht Friedrich Michael. Diesmal mit einem beinahe überschwänglichen Lob der Posse. „Eine Posse – was ist das schon! Aber wer kann eine schreiben? Wir sind immer geneigt, das bedeutende nur im Ernst zu sehen, in der großen Idee, im tragischen Geschehen, und wir sind ebenso bereit, Mängel der Technik, Mängel der Dramaturgie um dieser Idee, um des tragischen Vorwurfs, um der Gesinnung willen zu entschuldigen. Die Komödie aber und vielleicht noch mehr die Posse fordern ein vollendetes Handwerk, die vollkommene Beherrschung der dramaturgischen Mittel – darum ist diese Kunst so selten.“ Mir fallen sofort Namen ein, denen ich das hinter den Spiegel stecken würde. Der Autor setzt noch einen drauf für alle Begriffsstutzigen: „Ach, es kann einer Himmel und Hölle beschwören, ohne dass er uns bewegt, und mit einem Scherzwort kann uns die Tragik eines ganzen Lebens anrühren.“ Seinen „Dank ans Theater“ schließt Friedrich Michael mit einer fast hymnischen Würdigung Albert Kösters (1862 bis 1924). Köster las als Professor Theatergeschichte (nicht nur) und demonstrierte sie an Bühnen-Modellen, die er bis ins kleinste Detail selbst baute wie ein besessener Hobby-Bastler. Ein Glanzstück war der Weinmarkt von Luzern, der das große Osterspiel 1583 erlebte.

„Da donnerte unser Beifall durch den Hörsaal, da erlebten wir Theater, und niemals hat uns Albert Kösters Antlitz so gestrahlt wie in diesem Augenblick ...“. Es ist der Augenblick, da der Stern von Bethlehem am Bindfaden zuckelnd sich bewegt. Auf einem Säulchen saß der Hahn, der kräht, wenn Petrus den Herrn verrät. Nie wird eine wie auch immer gestaltete Powerpoint-Vorlesung, will ich mir einreden, solche Wirkungen erzielen können. „Dank ans Theater – das ist ein unvollendetes Kapitel aus einem ungeschriebenen Buch des Dankes an die Dinge des Lebens.“ In seinem 25 Jahre später, nämlich 1967, geschriebenen „Lebensbericht“ hat Friedrich Michael neben manchem auch einen gewissen Galgenhumor gegen das Vergessenwerden entwickelt. Seine Bilanz: „Sicher hat der Primaner von 1910 höher hinauf gezielt. Aber auch Schiller-Preisträger werden vergessen.“ Ein bisher noch nicht genannter Lehrer war Georg Witkowski (1863 bis 1939), bei dem Michael ein Jahr zur Untermiete wohnte in Leipzig: „Er verwuchs ganz mit unserem Hause, spielte mit den Kindern und half mir viel bei meinen Arbeiten.“ Und zitierte 1942 Lessing: „Ein Titel muss kein Küchenzettel sein. Je weniger er von dem Inhalt verrät, desto besser ist er.“ In diesem Sinne ist „Dank ans Theater“ zweifelsfrei ein sehr guter Titel gewesen.


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