Reinhard Johannes Sorge: Der Jüngling
Ablaincourt war ein winziges Dorf in der Picardie im Departement Somme. Im Juli 1916 lag in unmittelbarer Nähe die zweite Grabenlinie der Deutschen. Die hatten im Herbst 1914 begonnen, ihre Stellung mit betonierten Unterständen für Maschinengewehre zu sichern und waren damit bis zum Beginn der verheerenden Schlacht an der Somme zum Abschluss gekommen. Die erste Linie zog sich westlich des Dorfes Vermandovillers hin. Dort hatte es schon am 24. September 1914 ein Gefecht gegeben, eine Schlacht mit dem Namen des Dorfes folgte vom 4. bis 9. September 1916. Da war Reinhard Johannes Sorge bereits tot, nach schwerster Verwundung auf dem Verbandsplatz Ablaincourt gestorben, beerdigt in einem Gemeinschaftsgrab auf dem Soldatenfriedhof Vermandovillers, den später der Volksbund deutscher Kriegsgräberfürsorge übernahm und ausbaute für jetzt 22.632 Kriegstote. Dort liegt auch ein anderer deutscher Dichter, Alfred Lichtenstein, Opfer des ersten Gefechts am 25. September 1914. Der in Rixdorf (heute Neu-Kölln) geborene Sorge, der erst seit seiner Konversion zum katholischen Glauben den zweiten Vornamen Johannes trug, steht in Literaturgeschichten als Begründer der expressionistischen Dramatik, ist sonst aber vergessen.
Sorge gehörte der sechsten Kompanie des Reserve-Infanterie-Regiments 69 an, es unterstand der 15. Reserve-Division, deren Kommandeur seit dem 1. Dezember 1914 ein Oberst Buchholz war. Während Wikipedia mitteilt, er habe sich als Kriegsfreiwilliger gemeldet, sei aber zurückgestellt worden und erst der regulären Einberufung 1915 gefolgt, vermittelt Detlef Schöttker (Killy Literaturlexikon) den Eindruck, als hätte Sorge eigentlich gerade Priester werden wollen, die Einberufung habe ihn daran gehindert. Als verheirateter Mann und Vater eines Kindes hätte es ihm ohnehin gewisse Schwierigkeiten bereitet, die katholischen Weihen zu bekommen. Wie auch immer, als Dichter ist Reinhard Sorge von Interesse, wenngleich schon ein erster grober Überblick über sein Wirken und Nachwirken zweierlei zeigt. Erstens beschränkt sich die Rezeption mit klarem Übergewicht auf sein Drama „Der Bettler“, es finden sich von ausführlichen Theaterkritiken namhafter Autoren bis zu Darstellungen in diversen Überblickswerken nicht wenige Druckseiten, die sogar eine neue wissenschaftliche Hinwendung ermöglichen würden. Zweitens weicht Sorges Selbstbild stark von dem ab, was Mit- und Nachwelt von ihm denken, wie sie ihn sehen oder sahen.
„Der Bettler“ sei hier trotzdem ausgeklammert (einem späteren Zeitpunkt vorbehalten) zugunsten des frühen Einakters „Der Jüngling“. Ob und inwiefern der auch schon dem Expressionismus zuzuschlagen ist, ist eine müßige Debatte, einem Dichter, der nur 24 Jahre alt geworden ist, muss man nicht auch noch frühe oder spätere Phasen andichten. Allein die einander abwechselnden größeren und kleineren Hausgötter zeigen, dass Sorge bis zum frühen Tod auf der Suche war, dass auch das vermeintlich Gefundene von vermeintlich dauerndem Wert durchaus schon Monate später in die zweite Reihe rücken konnte oder verworfen wurde. Die Annahme von Vorbildern, auch das ein sehr jugendlicher Zug, folgte keineswegs souveräner Werkkenntnis oder tiefem Verständnis für eine begeistert aufgenommene Gedankenwelt. Jugend adaptiert auffallend selektiv und vor allem Zufällen folgend. Wobei der Zeitgeist natürlich immer im Hintergrund Wirkungen zeigt, also ein Friedrich Nietzsche liegt in bestimmten Jahren gewissermaßen in der Atemluft, so hat eben auch Sorge ihn zur Dramenfigur gemacht und wenig später eine Antischrift gegen ihn verfasst. Die Suche nach einer Orientierung ist wichtiger als das Festhalten an ersten Fixpunkten.
Dass Sorge selbst nach einer Art von Erweckungserlebnis auf Norderney sich mehr und mehr berufen fühlte, das Christentum zu leben und zu predigen, sein Übertritt zum katholischen Glauben, zunächst in Jena und dann in Rom vollzogen, schließlich sein Schreiben fast ausschließlich bestimmte, ist eine unbestreitbare Tatsache. Auf diesem Weg verlor er auch seinen Verleger Samuel Fischer, der ihm zunächst sehr zugetan war. Auch der Kleist-Preis 1912, ihm gemeinsam mit Hermann Burte von Richard Dehmel zugesprochen, löste zwar eine Euphorie aus, vom gewählten und aktiv beschrittenen Weg aber war der junge Dichter nicht mehr abzubringen. Befasst man sich mit seiner Lebensgeschichte bis zum Dezember 1910, als „Der Jüngling“ entstand, stößt man auf den Namen Johannes Auerbach, Sohn von Käthe Auerbach, die in Jena so etwas wie eine Mentorin für den jungen Sorge war, als der noch mit seiner Mutter in der Weinbergstraße 3 wohnte. Das nahe liegende Zuckerkandl Haus ist erst viele Jahr später gebaut worden. Auf diesen erst neun Jahre alten Johannes fixierte sich Sorge derart stark, dass die Vermutung nicht von der Hand zu weisen ist, es habe eine homoerotische Neigung dabei eine mindestens unterbewusste Rolle gespielt.
„Der Jüngling“ führt, wenn man denn bereit ist, überhaupt von einer Art Handlung zu sprechen, in eine symbolische Felsen- und Bergwelt ohne Frauen oder Mädchen. Dafür aber gibt es eine starke Beziehung des Jünglings zu einem, zu dem Knaben, eine größere Zahl weiterer Jünglinge folgen einem Alten, der wie ein Hohepriester zu agieren scheint und Opferrituale anordnet und vollzieht. Diesen Alten tötet der Jüngling am Ende des Spieles. Während der Widerschein der Beziehung zu Johannes Auerbach für Sorges Märchen „Vom Schmetterling und seiner Wunderblume“ als gegeben vorausgesetzt wird, ist im Zusammenhang mit dem „Jüngling“, wenn von dem überhaupt irgendwo die Rede ist, gerade nicht die Rede. Nur Hans Schumacher ist überhaupt ausführlicher auf den frühen Einakter eingegangen. Selbst Hans Gerd Rötzer, der Herausgeber der dreibändigen Sorge-Ausgabe der Verlags Glock und Lutz, hält einen einsamen Satz in seiner Einführung für hinreichend: „In dem Einakter „Der Jüngling“ verband er Georges Diktion mit den Gedanken Nietzsches.“ Das hilft dem heutigen Leser nicht viel, denn allein die Gedanken Nietzsches sind vielfältig und Georges Diktion hat wohl immer wieder ihre Jünger, ist aber keineswegs allbekannt.
Von Nietzsche, ist überliefert, hat Reinhard Sorge vor allem „Also sprach Zarathustra“ und „Menschliches-Allzumenschliches“ rezipiert, er hat ihn gefeiert und sich mit Aufwand von ihm verabschiedet. In seinen Anmerkungen zu den Werken des ersten der drei Sorge-Bände hat Rötzer dann doch noch Details geliefert. Demnach gehen Szenenbild, Personen und Gedanken des Werkes bis ins Detail eben auf „Zarathustra“ zurück, „aber der Jüngling, Sorge selbst, der sich gegen das endlose Weiterschreiten von Sehnsucht zu Sehnsucht, wie es der fremde Wanderer kündet, aufbäumt, dieser Jüngling will ein Ende seiner Sehnsucht und sein Selbst in einem geistdurchfluteten All auflösen.“ Diese Formulierung zeigt schon mehr als deutlich, vor welche Schwierigkeiten der Text seine Leser stellt. Sorge bewegt sich in einem abstrakt-symbolischen Raum, nach Herbert Lehnert „probiert Sorge den symbolistischen Stil“, für Hans Schumacher „ist die ganze kurze Handlung in eine symbolische Seelenlandschaft“ verlegt. Nimmt man Sorges briefliches Zeugnis hinzu, dem Freund Reinhold Straßmann offenbart, wird man kaum klüger: „Im Jüngling wirst du nicht ein geistiges, sondern seelisches mich sehr bewegendes Erlebnis finden.“
Das bestätigt allenfalls die für einen Dichter freilich wenig besagende Feststellung, Sorge sei kein philosophischer Kopf gewesen, er hätte sonst so unreflektiert nicht „geistig“ von „seelisch“ scheiden dürfen. „Symbole sind also hier keine Abbilder von Weltverhältnissen, so sehr sich Sorge auch mühen mag, in Nietzsches Sinn die Welt als Welt zur Sprache zu bringen. Die kosmischen Sinnbilder sind nicht mehr Abbilder, sondern Zeichen der Energie des Ichs, das über sich selbst hinaus will.“ Diese Formulierung Hans Schumachers zeigt eher Beschreibungsnot, man darf sich nicht tiefer hineindenken, will man aus dem Kopfschütteln gesund wieder herauskommen. Auch legen manche Formulierungen den Verdacht nahe, als habe der Betrachter an „Der Bettler“ gewonnene Einsichten einfach nach hinten projiziert. Zutreffend ist natürlich dies: „Der berühmte expressionistische Vatermord wird hier zum ersten Mal vorgeführt, aber auch sogleich relativiert.“ Ob diese Relativierung aber darin besteht: „Er ist nur Bild jenes Sollens, das das zu sich selbst entschlossene Ich immer wieder überwinden muss.“ wage ich zu bezweifeln. Eben weil der Vatermord im „Bettler“ dann doch in handfestere, nämlich klar biographische, Gefilde führt.
Vielleicht ist ein Bekenntnis, sich vor einem Text geschlagen zu geben, ehrlicher als jede kryptische Paraphrase. Sorge selbst hat ihm und anderen frühen Texten einen eigenen Stellenwert so zugeordnet: „Ich will keine meiner früheren Dichtungen auslöschen, denn zu jeder Läuterung, die mir wurde, und jeder Höhe, die mir noch wird, sind sie Vorbereitung und als solche mir wert.“ Der Jüngling sagt im Stück dies: „Wir gingen immer und suchten die seltenen Dinge.“ Und dies: „In dir stammelt es noch nicht zur Tat.“ Es gab in der tatsächlichen deutschen Geschichte einen Tat-Kreis, dessen politische Mythologie auf solche Abstrakta zurückging.“ Die „Tat an sich“ ist eben ein problematisches Ding, heute steht das „Zeichensetzen“ gar nicht so weit davon entfernt, ist symbolische Politik oder Aktion und seltsamerweise schon in seinen ideengeschichtlichen Anfängen mit einer Mordtat verbunden. Der Jüngling tötet den Alten, nachdem er zuvor schon davon sprach, ohne sein Opfer zu nennen. Der Knabe übrigens sagt im Stück Sätze, die vielleicht Johannes Auerbach seinem so viel älteren Freund Sorge ganz wörtlich auch sagte: „Du redest dunkel und verwirrt.“ Und: „Du sprichst wie ein Seher.“ Wie aber sprechen Seher? Orakelhaft?
Der Jüngling selbst sagt dem Knaben: „Und alles an mir ist Ekel.“ Nicht erst der Berlin-Besuch, der Besuch der Großstadt (Rixdorf war bei Sorges Geburt noch nicht eingemeindet) flößte den biographisch überlieferten Ekel ein, da war schon vorher ein Grundgefühl, eine spezifische Befindlichkeit, von der der Psychologe vielleicht sagen würde, sie werde voller Absicht von Zeit zu Zeit gesucht und aufgesucht. Der Wanderer aber im Stück, der will den Jüngling zur Erkenntnis führen: „Das Leben der Hohen ist Sehnsucht nach Leben.“ Und: „Des Lebens Wesen ist festes Gefüge, verfasertes Netzwerk und schwer zu zerreißen, zähes Geäder und tief ineinandergesaugt.“ Der mehr Klarheit bevorzugende Denker würde vielleicht sagen: „Leben ist Zusammenhang“ und hätte damit einen gewissen Hegel nicht völlig falsch verstanden. Nach der Mordtat nennt der wieder auftauchende Wanderer den Jüngling „der großen Gesunden einer“, der Jüngling nennt ihn durchaus missverständlich Vater. Damit endet das Stück, das erst posthum im Druck erschien. Und ich versuche mich an Flüelen zu erinnern, die Einfahrt mit dem uralten Raddampfer in den Hafen am Urner See. Dort hat Sorge mit seiner Frau gelebt eine Zeit. Er hat sich da wohl gefühlt, heißt es.