Johann Christoph Gottsched 250 †
Warnhinweis: Es wird für einen kurzen Moment drastisch. Jetzt: Man stelle sich vor, ein frühreifer und überdurchschnittlich intelligenter Jungstudent stehe neben seinem Professor Rüdiger Safranski am Instituts-Urinal, beobachte unfreiwillig, wie letzterer beim offenbar vorzeitigen Abschütteln sich die gute graue Anzughose auf dem rechten Oberschenkel fleckig pinkelt und präge sich das derart ein, dass er sich nach fünfzig Jahren noch an dieses Bild erinnert, während ihm sonst der verehrte Philosoph radikal aus dem Gedächtnis entwichen ist. Nun schreibt der ehemalige Jungstudent seine Memoiren, etwa unter dem Titel „Aus meinem Dagewesensein. Wichtung und Klarheit“ und siehe, der Blick auf die herrliche Studienzeit mit ihren Amouren und Mouramen steigt aus den Tiefen: Safranski pinkelte sich ans eigene Bein. Etliche Seiten später packt den Memoristen dann ein winzig bisschen das schlechte Gewissen und er teilt der Welt noch mit, dass also besagter Safranski auch keineswegs unlesbare Bücher geschrieben hat. Ein Titel wird hingestreut und basta. Wir gehen zum Normaltext über. Rüdiger Safranski hat in seiner lesbaren, aber sonst durchaus überflüssigen Goethe-Biographie getan, was ihm für seine eigene Person wohl ein Klagegrund gewesen wäre: Er hat dem siebzehnjährigen Schnösel Goethe ohne Not und vor allem ohne Kommentar erneut das Wort erteilt in Sachen Johann Christoph Gottsched. Und Goethe machte Gottsched lächerlich.
Als Gottsched am 12. Dezember 1766 starb, war sein Ruhm verblichen, er hatte sich, wie es so unschön heißt, selbst überlebt. Seit er am 26. Juni 1762 seine Frau Louise Adelgunde Victoria verloren hatte, die 13 Jahre jünger als er gewesen, er hatte sie seit ihrem 16. Lebensjahr gekannt, war ihm ein Gutteil seines Lebensmutes abhanden gekommen, eine zweite Ehe war kein Neuanfang geworden. Er hatte den vor allem in der Akademiker-Nachwelt berühmten „Zürcher Literaturstreit“ beschadet überstanden, dessen noch berühmtere Variante zwischen Emil Staiger und Max Frisch 1966 damit gar nichts zu tun hat. Er hatte auch die Attacke beschädigt überstanden, die Gotthold Ephraim Lessing am 16. Februar 1759 im siebzehnten der „Briefe, die neueste Literatur betreffend“ gegen ihn geritten hatte, eine brillant-bösartige Attacke, die man gern liest, deren Opfer man aber nie sein möchte, zumal sie jegliche Verdienste ihres Objektes ganz einfach ausklammert. Wen aber Lessing und Goethe auf ihre jeweilige Weise der Lächerlichkeit preisgeben, der hat es in einer servilen Nachfolgezeit schwer, je wieder oder überhaupt erst in ein gerechtes Licht gerückt zu werden. Den ersten Versuch dazu wagte Theodor Wilhelm Danzel (4. Februar 1818 – 9. Mai 1850), durchschlagende Erfolge sehen anders aus. Bei Gottsched dachte man an den kahlköpfigen Riesen im Ankleidezimmer, der seinem Diener eine Maulschelle verabreicht mit Perücke in der Hand.
Mehr und das eben ist das wirklich Ärgerliche, hat Goethe nicht überliefert. Es gibt noch ein seltsames Gedicht von ihm in einem Brief an Johann Jacob Riese (28. Oktober 1746 – 21. September 1827), das auch Rüdiger Safranski kennt, aber mitnichten in irgendeiner Weise auswertet, ihm genügt die Auffrischung der Anekdote, weiterer Aufwand wird vermieden wie eben leider zu oft in seinen neueren Büchern, mit der überschätzten Schiller-Biographie beginnend. Es lässt sich mühelos nachprüfen, dass der Goethe des Jahres 1811, als er die ersten Bücher von „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“ zu Papier brachte, nachschlagen musste, was dieser Gottsched denn so geschrieben habe, er schlug ein einziges Werk nach: am 12. Oktober 1811 die „Critische Dichtkunst“. Brief und Gedicht an Riese sind recht ausführlich und lesbar kommentiert in einem Buch mit dem Titel „Goethe und die Rhetorik“, Verfasser Olaf Kramer, de Gruyter 2010. Für die nichtssagende Notiz im siebenten Buch seiner Autobiographie musste der Meister freilich nicht wirklich mehr Aufwand treiben, darüber hinaus ist es ihm gleich mehrfach nur wichtig, die Wohngemeinschaft von Gottsched und Verleger Breitkopf sen. zu erwähnen. Vergleicht man mit anderen von Goethe genannten Autoren, unbedeutenderen und vor allem wirkungsärmeren, dann gilt: Lessing und Goethe haben der Nachwelt die falsche Gottsched-Perspektive aufgezwungen.
Nimmt man die kritischen Reaktionen von 2007 auf den Beginn der großen, auf 25 Bände berechneten Historisch-Kritischen Ausgabe der Briefe Gottscheds, die zu großen Teilen Briefe an ihn, viel weniger von ihm enthalten wird (und schon enthält), einbezogen sind die Briefe an seine und von seiner Frau Louise Adelgunde, dann ist man fast erschrocken und auch sogleich beruhigt und tiefenentspannt, wie viel Normalität da inzwischen herrscht. Den auf fast nichts reduzierten Gottsched, den gibt es offenbar nicht mehr. Man versucht, Gottsched und die Gottschedin, wie sie gern genannt wird (bei Bedarf hier nachzulesen mein Text zu ihrem 300. Geburtstag am 11. April 2013), aus ihrer Zeit heraus zu verstehen (welch revolutionäre Sichtweise, möchte man lauthals lachen). Als vor Jahren der zweihundertste Todestag von Melchior Grimm zu begehen war, waren dessen Briefe an Gottsched noch Dokument einer eher dürftigen neueren Rezeption. Grimms einziges Bühnenwerk, „Banise“ zuerst gedruckt im vierten Teil von Gottscheds „Die Deutsche Schaubühne“ bleibt für immer Dokument einer Förderung, die der junge Regensburger, der später viele Höfe mit seinen Korrespondenzen aus Paris belieferte, von seinem Professor in Leipzig erfuhr. Gottsched seinerseits hat in seiner Vorrede zum vierten Teil keinen der Autoren so ausführlich und wohlwollend bedacht wie eben diesen Grimm, der freilich dennoch kein Dramatiker wurde.
Mit noch nicht 30 Jahren hielt Gottsched in der Leipziger Vertrauten Rednergesellschaft eine Rede mit dem zeitüblich seltsamen Titel „Die Schauspiele und besonders die Tragödien sind aus einer wohlbestellten Republik nicht zu verbannen“. Zu dieser Gesellschaft sei als Lektüre empfohlen „Gottsched und die vertraute deutsche Rednergesellschaft“ von Rüdiger Otto im Jahrbuch 2012 des Leipziger Geschichtsvereins. Auf mehr als fünfzig Druckseiten gibt es dort auch zahlreiche weiter führende Verweise für alle, die sich tiefer mit der Thematik befassen wollen. Hier soll Gottscheds Rede von 1729 unter dem Gesichtspunkt betrachtet sein, dass sie möglicherweise in einer bisher nicht berücksichtigten Weise Einfluss auf zwei für sich berühmte theoretische Werke von Friedrich Schiller ausgeübt hat: auf seine eigene frühe Rede „Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet“ aus dem Jahr 1784, aber auch auf „Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen“ von 1791. Mild überrascht lesen wir bei Gottsched: „Die Tragödie belustiget, indem sie erschrecket und betrübet. Sie lehret und warnet in fremden Exempeln, sie erbauet, indem sie vergnüget, und schicket ihre Zuschauer allezeit klüger, vorsichtiger und standhafter nach Hause.“ Allein diese knappen Sätze zeigen, wie extrem verkürzt Gottsched gesehen ist, wenn er nur aus dem Blickwinkel Lessings gesehen wird, dem Gottsched kaum etwas gebessert, viel verschlimmert hat.
In seiner Rede steht eingangs auch dies: „Tief eingewurzelte Vorurteile sind sehr schwer auszurotten. Die allerbündigsten Vernunftschlüsse sind bei den meisten nicht kräftig genug, eine so erwünschte Wirkung zu tun. Die Beredsamkeit selbst würde zuweilen alle ihre Kräfte vergebens anwenden, mancher vorgefassten Meinung zu steuern, zumal wenn sie sich durch die wahrscheinlichsten Scheingründe zu unterstützen weiß.“ Mehr sagt der Rat der Sprachschlaumeier zum Wort des Jahres substantiell auch nicht. Er agiert, indem er für neu sieht, was gar nicht neu ist, sondern eine sehr lange Ideen- und praktische Geschichte hat, selbst postfaktisch, welch ein Spaß! Gottsched, der im Jahr nach dieser Rede Professor für Poesie wurde, war keineswegs weltblind oder purer Rationalist: „Die meisten Gemüter sind viel zu sinnlich gewöhnt, als dass sie einen Beweis, der aus bloßen Vernunftschlüssen besteht, sollten was gelten lassen, wenn ihre Leidenschaften demselben zuwider sind.“ Dennoch trifft man bis heute auf tapfere Menschen, die meinen, mit Vernunftschlüssen allein lasse sich Handeln antreiben. Nur vor Weihnachten setzen selbst die argumentationsstärksten „Helfergruppen“, wie sie heute genannt werden, auf Bilder zum Mitweinen. Das wusste der Theaterreformator Johann Christoph Gottsched, der aus Königsberg kam, in Danzig heiratete und seit 1724 in Leipzig lebte, nun wirklich sehr genau.
Wenn man so will, hat er 1729 sogar in aller Kürze vorweggenommen, was gegen Ende der DDR Christoph Hein von der überforderten Literatur sagte, in dem er sie eine Ersatzöffentlichkeit nannte. Bei Gottsched liest sich das so: „Die Musen allein erkühnen sich's, euch auf euren Thronen zu lehren, wenn sich euer ganzes Hofgesinde in Schmeichler verwandelt hat. Die Wahrheit, welche in ihrer natürlichen Gestalt durch eure Leibwachten und Trabanten nicht durchdringen kann, sieht sich genötiget, von der göttlichen Melpomene ihr tragisches Kleid zu erborgen.“ Die Dame ist, falls es einem Leser/einer Leserin rein zufällig entfallen sein sollte, eine der neun Musen, die Muse der tragischen Dichtung und des Trauergesanges. Ganz erfrischend liest sich, was der nicht ganz orthodoxe Marxist Franz Mehring in seiner „Lessing-Legende“ von Gottsched (unter anderem mehr) sagt: „Man sage nicht, Gottscheds Interesse für die Bühne sei nur eine Folge seiner Bewunderung für die höfische Dramatik der Franzosen gewesen. Denn er arbeitete nicht für Hofbühnen, sondern er machte verrufene Proletarier, wandernde Truppe, wie die Neuberin und ihre Gesellschaft, zu Sendboten seiner dramatischen Bestrebungen, was in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts für eine akademische Perücke ein ganz achtungswertes Stück gesellschaftlicher Revolution war.“ Lessing schrieb für Gebildete, Gottsched wollte mehr Menschen erreichen.
Am 1. Mai 1727 erschien das erste Blatt von Gottscheds zweiter moralischer Wochenschrift. Die erste aus den Jahren 1725/26 trug den wiederum seltsamen Titel „Die vernünfftigen Tadlerinnen“, diese neue nun hieß „Der Biedermann“. Wer ein Sammler von Insel-Büchern war (oder ist) hat ziemlich automatisch die als Band 855 1966 (zum 200. Todestag) erschienene Auswahl mit immerhin 146 Druckseiten und einem Nachwort von Marianne Wehr. Sie schrieb auch das lange Vorwort zur 1974 erschienenen Leipziger Reclam-Auswahl „Reden, Vorreden, Schriften“, das leider das persönliche Leben Gottscheds, den Menschen Gottsched, fast völlig ausklammerte, damit der herrschenden Denkweise widerspruchslos folgend, die alles Verhältnissen, (fast) nichts einer Biographie und einer Persönlichkeit zuschrieb. Gottsched war mit „Der Biedermann“ so etwas wie der Erfinder der Frauenquote: „Dem löblichen Frauenzimmer zu gefallen soll auch öffters was mit einfließen.“ Sein jeweils drittes Blatt will er ihnen widmen, mit Freiheit natürlich: „Wiewohl ich mich an keine gewisse Ordnung zu binden verspreche.“ Wer angelegentlich, wenn irgendwo mal wieder Max Frischs „Biedermann und die Brandstifter“ gespielt wird, einen neuen Gesichtspunkt gewinnen möchte, kann sich mit Gewinn anschauen, wie Ernst Wahrlieb Biedermann, der vermeintliche Herausgeber, das Phänomen des Biedermannes, sich selbst also auch, sieht.
Von Gottscheds Bühnenwerken wird am häufigsten der „Sterbende Cato“ genannt, natürlich nicht zuletzt deshalb, weil der Muster-Tragödie trotz der bösen Kritik des Schweizers Johann Jakob Bodmer, sie sei mit Kleister und Schere entstanden, großer Erfolg beschieden war. Es trägt zur Debatte wenig bei, wenn festgestellt wird, dass die fünf Akte zu zirka neunzig Prozent übertragene Übernahmen aus dem Französischen und dem Englischen, von Deschamps und Thomas Addison seien. Die Art wie Shakespeare-Stücke auf Vorlagen fußen, die bekannt oder unbekannt sind, hat ein für allemal klargemacht, dass in Zeiten ohne Urheberrecht heutige Perspektiven einfach nicht gelten. Sinnvoll wäre allenfalls ein Vergleich mit den beiden Cato-Tragödien in Form und Substanz. Andere Spiele heißen „Agis, König zu Sparta“, „Atalanta oder Die bezwungene Sprödigkeit“, „Die parisische Bluthochzeit König Heinrichs von Navarra“. Gottsched ging es, die Vorrede zum schon genannten vierten Teil sagt es, um deutsche Originalstücke. Vor allem deshalb schrieb er seine eigenen Dramen als Musterstücke, er schrieb auch, um seine eigenen Theorien zu illustrieren. Dass deutsche Alexandriner Wirkung nicht erleichtern, war damals alles andere als Allgemeinwissen oder gar bühnenpraktische Erfahrung, die Nähe von Literatur und Bühne musste überhaupt erst hergestellt werden, Gottscheds Zeitbündnis mit Caroline Neuber war dazu ein höchst wichtiger Akt.
Unwesentlich veränderte Übersetzungen aus dem berühmten „Heptameron“ der Margarete von Navarra (11. April 1492 – 21. Dezember 1549) sind die Erzählungen „Der strenge Ehemann“ und „Die tugendhafte Charlotte“. Dennoch hat Werner Schubert sie bedenkenlos in seine Sammlung „Deutschsprachige Erzähler von Gottsched bis Nicolai“ aufgenommen und er hat damit natürlich recht getan. Gottsched und seine Frau Louise Adelgunde waren neben allem auch noch stets fleißige Übersetzer, Hauptwerke der französischen Frühaufklärung (Fontenelle, Bayle) kamen so nach Deutschland. Und so ist der strenge Ehemann, der zu Zeiten des Königs Karl VIII. seine ungetreue Gattin aus dem Schädel ihres Liebhabers trinken lässt, dennoch starker Toback. Auch „Die tugendhafte Charlotte“ ist in Frankreich angesiedelt, in der Touraine. Sie könnte auch woanders angesiedelt sein, denn es ging Gottsched immer nur um den Erweis, dass Geschichten, wo immer und wann immer sie spielen, Wirkung im Sinne seiner Theorien auf das deutsche Publikum erzielen können und sollen. In beiden Geschichten gibt es, was damals natürlich noch nicht Happy End hieß: Der strenge Ehemann wird großmütig und es folgt ein zweiter Ehefrühling, die tugendhafte Charlotte erhört einen Mann ihres Standes und behält das Wohlwollen ihres erfolglosen Verführers. Die Briefausgabe hält übrigens aktuell bei zehn von 25 Bänden, Gottsched hat doch Zukunft.