Wilhelm von Humboldt 250
Die Vorstellung ist reizvoll: Alexander Georg von Humboldt stellt seinem aus Weimar mit Herzog Carl August dienstlich nach Berlin gereisten Gast Johann Wolfgang Goethe im Schloss Tegel seine beiden Söhne Wilhelm und Alexander vor. Wilhelm, der Ältere, ist an diesem 20. Mai 1778, Goethe muss auf seinen eigenen Adelstitel noch vier Jahre warten, ein Knabe kurz vor seinem elften Geburtstag, Alexander, der Jüngere, hat noch gute vier Monate bis zu seinem neunten Geburtstag. Es gibt zu dieser Visite keine aussagekräftigen Quellen, nicht einmal das Datum ist definitiv gesichert. Da aber die Gesamtdauer des Aufenthalts Goethes in Berlin und etliche Punkte seines privaten wie offiziellen Programms aus Tagebuch-Notizen und Briefen erschlossen werden können, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass dieser Besuch kurz vor der Abreise gen Potsdam und der damit beginnenden Rückkehr nach Weimar gemacht wurde. Der letzte Brief, den Goethe Tage vor seinem Tod 1832 diktierte, war an Wilhelm von Humboldt gerichtet und wir wissen nicht, ob der Greis dabei an seinen einzigen Besuch in Berlin dachte, zu dem Reinickendorf damals ja noch nicht einmal gehörte. Immerhin: Reinickendorf, jetzt Berlin, hat für 2017 ein ganzes buntes Programm zusammengestellt, um den heutigen 250. Geburtstag Wilhelm von Humboldts würdig zu begehen.
Der TAGESSPIEGEL hat damit in seiner Ausgabe Nummer 23.033 am 19. Februar die gesamte Seite 29 gefüllt (man muss der Redaktion überhaupt ein Kompliment machen: diesem Humboldt wird löblich viel Platz eingeräumt). Man sieht oben recht ein sehr kleines Schloss Tegel im heutigen Zustand, größer links daneben ein Stich aus der Zeit um 1850, da war Wilhelm von Humboldt schon tot, weshalb der Mann mit Hund im Vordergrund Alexander von Humboldt ist. Am 2. Mai gab es die Eröffnung einer Veranstaltungsreihe mit Festvortrag von Dr. Manfred Geier. Dieser hat 2009 mit der Doppelbiographie „Die Brüder Humboldt“ (Rowohlt) sich einschlägig auffällig gemacht, wobei Feuilletons sich die boulevardeske Eskapade leisteten, mit Sonder-Eifer auf den Umstand hinzuweisen, dass Geier als erster wagte, den sexuellen Präferenzen des Brüderpaares, sprich: vor allem die bis dato allenfalls dezent angedeuteten homoerotische Vorlieben Alexanders, klar zu benennen. Von Wilhelm wissen wir seither, dass er sogar Prostituierte aufsuchte. Ob das deshalb Meilenstein der Humboldt-Biografik genannt werden darf, würde ich nur sehr ungern erörtern. Immerhin: um Goethes sexuelle Vorlieben schleicht noch heute die Ü 70-Gemeinde der Altfans, vor allem, wenn sie als Gesellschaft organisiert ist, wie die Katze um einen gar nicht vorhandenen Brei.
Die Ehe Wilhelm von Humboldts mit Caroline, geborene von Dacheröden, gilt als modern oder wird mindestens auf ihre heutigen Vorstellungen entgegen kommende Modernität gern befragt. Hazel Rosenstrauch (Jahrgang 1945), die ein Buch über die Beziehung Wilhelm-Caroline verfasste („Wahlverwandt und ebenbürtig. Caroline und Wilhelm von Humboldt“, Eichborn Verlag, 2009 in zweiter und dritter Auflage), scheint nicht auf Vortragstour zu sein. In seinem allerersten Brief an Charlotte Diede, datiert mit: Wien, 3. November 1814, teilte Humboldt seinem Bad Pyrmonter Jugendschwarm mit: „Ich bin, wie man Ihnen gesagt hat, verheiratet, ich heiratete drei Jahre, nachdem ich Sie sah, und habe jetzt fünf Kinder; drei habe ich verloren. Ich heiratete bloß und rein aus innerer Neigung, und es ist vielleicht nie ein Mann in seiner Verbindung so glücklich gewesen.“ Charlotte Diede hatte sich in einer Notlage an Humboldt erinnert, er antwortete ihr aus Wien, wo er der preußischen Abordnung beim Wiener Kongress angehörte, auf dem die nachnapoleonische Ordnung Europas ausgehandelt wurde. Es entwickelte sich aus dem Erstkontakt die bis 1835 dauernde intensive Korrespondenz, die unter dem Titel „Briefe an eine Freundin“ ab 1847 zum vielgelesenen Buch wurde, Joachim Lindner gab eine Auswahl 1986 im Verlag der Nation heraus.
Der letzte Brief Humboldts beginnt mit den Sätzen: „Ich erfahre immer bloß durch Sie, liebe Charlotte, was man in den Zeitungen von mir sagt. Diesmal enthält es bloß Wahrheit, insofern es von meiner Gesundheit handelt.“ Die war stärker angegriffen, als Freunde und Bekannte sich wohl eingestehen mochten. Ich zitiere, weil an ihn heute natürlich kein Mensch mehr denkt, den Humboldt-Biografen Herbert Scurla: „Humboldt hatte nach Carolines Tod Reisen nur noch zu seiner Erholung unternommen. Bis zum Jahre 1833 suchte er in Gastein und Norderney Linderung der Altersbeschwerden, vor allem eines Rückenleidens, das ihn im Sommer 1829 befallen hatte, aber seine geistige Frische und Schaffensfreudigkeit kaum verminderte. Die allgemeine Nervenschwäche, die gebückte Haltung und besonders das Zittern am ganzen Körper nahmen während des Winters 1834 auf 1835 sehr zu. Doch wurde sein Befinden dadurch nicht wesentlich beeinträchtigt, wie Alexander von Humboldt berichtet.“ Wilhelm von Humboldt starb am 8. April 1835, nachdem er sich, fast ein Treppenwitz einer Ehegeschichte, ausgerechnet beim Besuch des Grabs seiner Frau eine Erkältung geholt hatte, die nach dem erneuten Besuch dort am 26. März, Carolines Todestag, in ihre letale Phase eintrat. Er starb, „als eben die Sonne unterging“ (Scurla).
August Boeckh, Alterstumsforscher und klassischer Philologe (24. November 1785 – 3. August 1867, sein 150. Todestag in ein paar Wochen wird wohl kaum zum öffentlichen Ereignis werden), sprach am 9. Juli 1835 in der Preußischen Akademie der Wissenschaften die Gedenkrede. Danach, ich zitiere letztmals Herbert Scurla (21. April 1905 – 7. April 1981), der auch eine Biographie Alexander von Humboldts schrieb und im Kontext wichtige und lesbare „Begegnungen mit Rahel“, „wurde es still um den Gründer der Universität Berlin und Reformator des preußischen Bildungswesens, den Staatsmann, Gelehrten und Schriftsteller.“ Tatsächlich waren es die „Briefe an eine Freundin“, die 1850 schon ihre vierte Auflage erlebten, die den Namen Wilhelm von Humboldts wieder in ein breiteres Bewusstsein hoben. Enthalten und erhalten sind nur seine Briefe, Charlotte Diede hielt die ihren nicht nur für unwert neben seinen, sie sorgte auch für Vernichtung der Originale. Joachim Lindner schrieb für seine DDR-Leser: „Seine Briefe sind vorwiegend Betrachtungen eines Mannes, der sich im Wissen um seine Bedeutung und seine Fähigkeiten mit einem zurückgezogenen Gelehrtendasein begnügt, der aber nicht resigniert, sondern Welt und Leben ruhig und gelassen zu verurteilen vermag.“ Kluge Sätze bietet schon der erste Brief.
Ich greife nur einen heraus: „Glauben Sie mir, wer in dem Augenblick suchen muss, wo er braucht, findet schwer.“ Das war nicht als Trostsatz für Kunden der Agentur für Arbeit gedacht, beschreibt deren Situation aber gar nicht so irrig. Und sein Gelehrtendasein? Womit füllte er es? Ich greife der Einfachheit halber zu meiner siebenbändigen Ausgabe „Sämtliche Werke“, herausgegeben von Wolfgang Stahl. Band 1 enthält dort „Schriften zur Anthropologie und Geschichte“, darin das fünfseitige Bruchstück „Theorie der Bildung des Menschen“, aber auch „Das achtzehnte Jahrhundert“, neunzig Seiten umfassend. Band 2 bringt „Schriften zur Altertumskunde und Übertragungen“. Letzteres sind Übertragungen von Oden Pindars, die umfangreichste Abhandlung gilt dem Agamemnon von Aeschylos mit achtzig Seiten. Band 3 versammelt „Reisebeschreibungen und Schriften zur Ästhetik“. Hier werden die Goethe- und Schillerfreunde fündig, 170 Seiten zu Goethes „Hermann und Dorothea“, deutlich weniger über „Schiller und den Gang seiner Geistesentwicklung“ sowie Goethes „Zweiten römischen Aufenthalt“. Humboldt kannte Rom selbst sehr gut, war er doch von 1803 bis Ende 1808 preußischer Ministerresident am Heiligen Stuhl in der Papststadt. Die Reisebeschreibung gilt seinem Besuch im Baskenland im Jahr 1801.
Die Bände 4 und 5 versammeln „Schriften zur Sprachphilosophie“, „Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaus“ (160 Seiten) und „Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts“ (280 Seiten) darunter. „Schriften zu Kultus und Unterricht“ finden sich im Band 6, „Schriften zu Politik und Verwaltung“ im Band 7. Die berühmte Jugendschrift „Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen“ aus dem Jahr 1792, die in der DDR als sorgsam edierte Einzelausgabe in Reclams Universal-Bibliothek erschien unter dem Titel „Individuum und Staatsgewalt“, und kombiniert war mit Tagebuchnotizen und Briefen sowie der kurzen Abhandlung „Ideen über Staatsverfassung, durch die neue französische Konstitution veranlasst“, findet sich im Band 1 der Werkausgabe, der Geschichte, nicht der Politik zugeordnet. Darüber wäre zu streiten. Wilhelm von Humboldt hat 1789 in Paris die gewissermaßen noch rauchenden Trümmer der gestürmten Bastille gesehen. Vom Herbst 1797 bis Sommer 1801 lebte er dauerhaft in Paris, nur die längeren Reisen nach Spanien (November 1799 bis April 1800) und ins Baskenland (Frühjahr 1801) unterbrachen den Aufenthalt. Im August 1801 war er wieder in Deutschland, ehe es nach Rom ging.
2011/12, auch schon wieder viele Buchmessen her, wurde eine Wilhelm-von-Humboldt-Biografie von Lothar Gall allüberall besprochen. Jacques Schuster begann für die LITERARISCHE WELT vom 17. Dezember 2011 seine groß dimensionierte Besprechung so: „Dieses Buch ist viel mehr als eine Biografie oder als Biografie so gelungen, dass sie in jeder Hinsicht befriedigt.“ Danach müssen, könnte man meinen, keine weiteren Biografien mehr über Humboldt geschrieben werden. Dies hängt aber, wie wir längst wissen, keineswegs von der Qualität der vorliegenden Biografien ab, sondern ausschließlich von der Kalkulation jener Verlage, die mit jubiläumsbedingten oder anderweitig anlassbasierten Umsätzen rechnen und wissen, dass die Biografien ab einer gewissen Dicke nicht mal von denen, die dann darüber schreiben, unter dem Gesichtspunkt gelesen werden, was sie im Vergleich mit den Vorgänger-Büchern bringen, wenn sie denn überhaupt komplett gelesen werden. Hendrik Werner etwa hinterließ, ebenfalls für die LITERARISCHE WELT, bei Gelegenheit der schon erwähnten Doppelbiografie von Manfred Geier den Eindruck, mal eben so vor sich hin geplaudert zu haben, der gedruckte Text jedenfalls setzte keinerlei Kenntnis des besprochenen Buches voraus. Was bei Jens Bisky oder Ludger Lütkehaus so ganz anders war.
Mit knapp zehn Monaten Verspätung übrigens widmete auch NEUES DEUTSCHLAND dem Buch von Lothar Gall ein Lob: „Gall hat ein fundiertes und leserfreundliches Buch vorgelegt. Auf wissenschaftliche Kontroversen geht er nur in einigen Anmerkungen ein.“ Dann gab es „Weltansichten. Wilhelm von Humboldts Sprachprojekt“ von Jürgen Trabant, es gab, nahezu untergegangen, von Inge Brose-Müller „Humboldt und Charlotte“, von Christoph Markschies „Was von Humboldt noch zu lernen ist“ und, noch einigermaßen frisch, von Michael Maurer: „Wilhelm von Humboldt: ein Leben als Werk“, von Dorothee Nolte „Wilhelm von Humboldt – Ein Lebensbild in Anekdoten“. Wie immer bei solchem Gelegenheit ist nur zu hoffen, dass auch da und dort noch jemand zu Humboldt selbst greift. Der hat zum Beispiel, jedes Erschrecken darüber ist berechtigt, auch mehr als tausend (!!) Sonette geschrieben, der späte Johannes R. Becher war dagegen ein Waisenknabe, und schon Schiller merkte, als er mit Humboldt-Texten konfrontiert war, dass es da Grenzen gab, die nicht nur akademischem Zeitstil geschuldet waren. Am 17. Juni konnte man sich übrigens unter den Fittichen der Geschichtswerkstatt Tegel mit dem Thema Maulbeere und Seidenraupe befassen: das Feld ist weit, auf dem die Furche zu ziehen ist mit Humboldt.
Schließen wir im Bewusstsein des noch nicht einmal Fragmentarischen dieser Zeilen mit dem Blick in Goethes letzten Brief. „Theilen Sie mir deshalb auch etwas von Ihren Arbeiten mit; Riemer ist, wie Sie wohl wissen, an die gleichen und ähnlichen Studien geheftet und unsere Abendgespräche führen oft auf die Gränzen dieses Faches.“ Der „würdige Freund“, als den Goethe ihn an diesem 17. März 1832, fünf Tage vor seinem Tode, anspricht, spielt streng genommen in diesem Brief gar keine Rolle. Goethe diktiert Gedanken, die ihn eben bewegen, er äußert sich zu „Faust“, nach dem sich Humboldt erkundigte, wohl wissend, dass Goethe schon, als Schiller noch lebte, immer gedrängt werden musste, mit etwas zu einem Ende zu kommen aus all dem, mit und an dem er tätig war. Immerhin, die berühmte, immer wieder zitierte Formulierung, die „Faust“, vor allem der Tragödie zweiten Teil, als „diese sehr ernsten Scherze“ bezeichnet, sie steht in diesem Brief und niemand hat sie eher gelesen als eben Wilhelm von Humboldt. Dem bei aller Verehrung, Achtung, ja Liebe, Schiller zu Lebzeiten und letztlich auch danach immer näher stand als Goethe. Ich empfehle, weil sie alt ist und wohl auch vergessen, die Abhandlung von Andreas Bruno Wachsmuth (30. November 1890 – 24. November 1981) mit dem Titel „Goethe und die Brüder von Humboldt“, nachzulesen im Band 55 der Beck'schen Schwarzen Reihe: „Goethe und seine großen Zeitgenossen“.