Als Jörg Fauser starb
Gibt man bei GOOGLE ohne Sprachbegrenzung als Suchbegriff „H. M. Soik“ ein, erscheint als erster Treffer „Gesichtsmaske, Unreine Haut“, auf Platz 4: „Die zerbrochene Balalaika. Gedichte“, die tatsächlich H. M. Soik geschrieben hat. Er selbst taucht nirgends auf. Man darf deshalb Jörg Fauser das freilich leicht fragwürdige Verdienst zusprechen, auf diesen 1914 geborenen und wann immer gestorbenen Dichter hingewiesen zu haben: im Berliner Stadtmagazin Tip. Das es immer noch gibt, und zwar in Ausgabe 2/1980. Chefredakteur war damals Werner Mathes, der später beim STERN landete. Tip wählt seit 1999 einmal im Jahr die hundert peinlichsten Berliner. Mario Barth hat es bisher als einziger geschafft, zweimal Platz 1 zu ergattern: 2008 und 2016. Ob es irgendwo eine Liste gibt, wer den unbekanntesten Dichter in den höchsten Tönen lobte und damit keinerlei Wirkung erzielte? Für 1980 dürfte Jörg Fauser größte Siegchancen gehabt haben. Er hat damals sicherheitshalber vorgebeugt: „So fremd uns manchmal Soiks Sprache sein mag, seine Gefühle können uns nicht fremd sein“, und dann ein paar Zeilen zitiert: „Warum, Herr / lässt du mich allein mit diesem verzweifelten / Brüllen des Schlachtviehs / allein mit diesem Lied der Gezeichneten / über den Dächern des Hangars?“ Schwer zu erraten, warum der Herr dem lyrischen Ich die Antwort schuldig blieb, vielleicht wusste er nicht, was ein Hangar ist, die gab‘s am siebten Tag noch nicht.
Jörg Fauser, da wiederhole ich mich in all meiner geringen Gesamtwerk-Kenntnis gern, bietet Stoff für Leser, die davon gehört haben, dass es jenseits des Romans noch andere Formen von Prosa gibt, hochprozentigen Stoff, will ich aus nahe liegenden Gründen voll Absicht schreiben. Dass man unter den Stimmen über ihn nicht die üblichen Verdächtigen findet, dass er selbst in nicht wenigen Büchern, die Überschau vorgeben, sich gar nicht findet, hat mit der Rache des Kanalarbeiters zu tun: wer mich genüsslich und ausdauernd öffentlich in die Pfanne haut, den würdige ich keines Blickes. Fauser hat werbewirksam und effektbewusst die größten Namen unter seinen Mitlebenden attackiert: Grass, Walser, Böll, Handke und er war, der seltene Fall sei so benannt, dabei nicht der Mops, der sein krummes Beinchen an der Eiche hebt. Die Eichen und ihr Tross im Feuilleton haben zurückgeschlagen mit Schweigen. Ich kenne Humoristen, die am Schweigen ihrer Heimatzeitung schon fast zerbrechen, bei Fauser unterstelle ich solche Traumatisierung nicht, wenngleich der Griff zur Droge in jeglicher Form natürlich Deutungen erlaubt. Ich erfreue mich eher daran, mit welcher Inbrunst der Säufer Fauser Säufer-Sätze anderer schreibender Säufer zitiert. Eine Stelle bei Ernest Hemingway hat ihm gar Tränen entlockt, wie in seiner Besprechung der ausgewählten Briefe des Nobelpreisträgers von 1954 nachgelesen werden kann. Der weinende Rezensent: was für ein Bild.
Fauser zitiert: „Immer wenn es in meinem Leben mal richtig schlecht aussah, konnte ich etwas trinken und gleich sah es besser aus. Wenn man nichts trinken kann, ist das anders. Ich habe nie gedacht, dass man mir den Wein wegnehmen könnte. Aber man kann.“ Und Fauser kommentiert natürlich pro domo: „… es muss einer schon ein hartgesottener Blaukreuzler sein, wenn sich ihm nicht eine Träne ins Auge stiehlt bei dem Brief aus dem Jahr 1957 …“, der eben zu Wort kam. Es wird nur Ahnungslose überraschen, dass Fauser wie alle Autoren, die über Autoren schreiben, die sie lieben oder geliebt haben, pro domo spricht. Nicht das ist interessant, sondern der immer wieder auffällige Umstand, dass sie im und während des Pro-Domo-Sprechens doch regelmäßig sehr präzise auch ihren Gegenstand treffen. Denn sie befinden sich gewissermaßen in ihm, weil sie gar nicht anders können als in sich selbst zu sein. Da wären Literaturgeschichtler, Feuilletonisten und alle aus dem Betrieb, denen Fauser bei passender und unpassender Gelegenheit Hieb und Seitenhieb verpasst, tatsächlich von Hause in einer schlechteren Ausgangslage: sie kommen von außen. Weil ich einst just diese Hemingway-Briefausgabe auch besprach, geht mir der Nachsatz Fausers durchaus anders nahe Er nennt die Auswahl des Rowohlt-Verlages „eine gereinigte, akribisch entpolitisierte Briefauswahl; ein editorischer Skandal eigentlich“. Die DDR übernahm sie gern.
Einen hübschen Satz von Carl Weissner (19. Juni 1940 – 24. Januar 2012) hat sich Lutz Tantow für das KLG (Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur) herausgegriffen: „Wenn man sich darauf einigen will, dass alles, was die Schreibmaschinenseite rechts von der Mitte nicht ganz ausfüllt, ein Gedicht ist, dann hat Fauser hier welche geschrieben.“ Im Rahmen der „Jörg Fauser Edition“, die genannter Carl Weissner achtbändig herausgab, wird für die Gedichte ein ganzer Band 5 benötigt, die Bände 6 und 7 gelten den Essays, Reportagen und Kolumnen. Unter dem Titel „Der Strand der Städte. Gesammelte journalistische Arbeiten 1959 – 1987“ brachte der Berliner Alexander Verlag 2009 einen Wälzer von sage und schreibe 1594 Seiten Umfang heraus und die begeisterten Rezensenten haben den glücklicherweise mit Register ausgestatteten Band ziemlich sicher nicht komplett gelesen, um ihrer Begeisterung Ausdruck verleihen zu können. Das satteste Honorar käme sonst in Stundenlohn umgerechnet sicher in den Friseurinnen-Bereich. Ich zitiere Ronald Düker aus den selig dahin gegangenen LITERATUREN der Sigrid Löffler: „Wer so schimpft wie Fauser, macht sich verdächtig. Tönt hier der Neid eines erfolglosen Autors …?“ Klar, dass er nicht tönt, wer ist schon neidisch unter den erfolglosen Autoren und dass Fauser nicht erfolglos war, belegt Düker mit dem Hinweis auf Fausers luxuriöse Altbauwohnung in München.
Im Eifer seiner Begeisterung über die Ergiebigkeit des Registers macht Düker den guten Graham Greene gleich zum Amerikaner, vielleicht weil der auch einen Roman „Der stille Amerikaner“ geschrieben hat, Fauser hätte sich wohl vor Lachen an seinem Drink verschluckt beim Lesen. Verschluckt hätte ich mich beim Lesen seines Beitrags zu Erich Loest, falls ich dabei einen Schluck genommen hätte. Obwohl Fauser natürlich merkt, dass Loest in einer „anschaulichen, manchmal etwas flüchtigen Sprache“ schreibt, findet er ihn schon aus Kontrastgründen gut. Das handwerklich Perfekte der westdeutschen Groß-Literaten ist es ja gerade, das ihn aggressiv macht, weil es, seiner Lesart nach, Leere kaschiert, Leere in verschiedenen Dichtigkeitsgraden, wenn man eine solche Contradictio in adjecto ausnahmsweise einmal durchgehen lässt. So gehören zu seinen Favoriten aus Gründen der Provokation wie aus Gründen der Überzeugung Verfasser von Reißern in auffälliger Zahl, darunter solche, über die nicht nur klassische Elfenbeinturm-Insassen die Nasen rümpfen wie Mickey Spillane. Oder Karl May, wenn es gar nicht anders geht. Loest hat alles in allem nie etwas anderes geschrieben, als was die Bösen U-Literatur nennen und was Vorreiter wie VOLLTEXT und ZEIT neuerdings gern als heimliche Lektüren ihrer eigenen oder von Gastautoren der Heimlichkeit entreißen. Als könne man nicht Rilke mögen und Raymond Chandler zugleich.
Perfekt informiert war Fauser eben nicht, als er über Loests Roman „Es geht seinen Gang oder Mühen unserer Ebene“ behauptete: „Dieser Roman aus dem Alltag eines jungen Leipziger Ingenieurs ist noch heute in den DDR-Büchereien auf Jahre ausgebucht“, derselbe Fauser, der zuvor schrieb, dass er nie in Sachsen war, also in der DDR. Ich erinnere mich beispielsweise daran, dass IM Fischer sich bei seinem Führungsoffizier beklagte, weil es ihm nicht gelungen war, mich für den Loest-Roman zu interessieren, was ich selbstredend erst sehr viel später erfuhr, die hartnäckigen Gesprächsversuche waren mir aber gut im Ohr. Man soll nie literaturferne IM auf Leute ansetzen, die, nun ja, eine gewisse Ahnung von Literatur haben. Wäre die DDR weitergegangen, hätten ihre Spezialisten vielleicht mehr Experten an sich binden können, die sich mit mehr Erfolg geschlagen hätten. Warum schreibt Jörg Fauser aber: „Und für Loest konnte ein Abgang in den Westen keine Perspektive sein, das war der Staat, in dem die Nazis wieder oben saßen“? Saßen die Nazis für die Scharen, die trotzdem gingen, nicht oben? „Der Staat der Arbeiter und Bauern gegen die Schriftsteller der kleinen Leute: die Partie steht auch heute noch offen.“ Das stand 1982 in der Ausgabe 25 des Stadtmagazins Tip, damit keine Missverständnisse aufkommen. Man weiß, dass in Mittweida Geborene einen besonders unmissverständlichen Begriff von Missverständnis haben.
Dreißig Jahre ist Fauser nun also tot, der von seiner Lektüre des Nelson-Algren-Romans „Der Mann mit dem goldenen Arm“ schrieb: „… ich weiß noch, wie ich den Roman einen ganzen Herbst lang immer wieder las, während ich in einer Heidelberger Klinik die verschissenen Laken der Krebskranken wechselte, ihnen den Griesbrei in den Mund schob und die von viel zu vielen Nadeln zerstochenen Arme abputzte, als sie schon im Sterben lagen.“ Wobei es sicher schwieriger war, ein Laken mit einer Hand zu wechseln als den Brei zu füttern mit dem Buch in der anderen Hand. Von George Orwells „Mein Katalonien“ schrieb Fauser: „Das machte diesen Schriftsteller zum Rebellen, dass er Kunst als Lüge begriff, wo sie sich von der Wirklichkeit entfernte; und das machte den Rebellen zum Geschichtsschreiber, dass er den Sozialismus als Lüge entlarvte, wo er die Freiheit unterdrückte.“ Er sah Schriftsteller und Reporter als „die Historiker unseres Zeitalters“, was Historiker sicher bis heute nicht wirklich gern hören. Von Joseph Roth sagte er: „Vollkommen klarsehend, beging er Schluck für Schluck Selbstmord.“ Jörg Fausers Vorlieben kann man nachlieben, man muss es nicht. Im SPIEGEL schrieb er über Mickey Spillane, Len Deighton und William Kennedy. „Unser Lebensgefühl war von Amerika geprägt, ohne dass wir je dort waren oder hin wollten.“ Dazu passt Michael Rutschky: „Wie wir Amerikaner wurden“. Wer ist wir?