Leo Perutz: Der Feldwebel Schramek
Leo Perutz war, als Roland und Christa Links sich der Aufgabe stellten, die von Fritz J. Raddatz begonnene und wegen dessen Abgangs gen Westen verwaiste Tucholsky-Ausgabe des Verlags Volk und Welt Berlin zu einem noch respektablen Ergebnis zu führen, weitgehend vergessen, zumal in der damaligen DDR. So nimmt es nicht wunder, dass die sechs Bände, die mit einem bis heute vorbildlich informativen Register ausgestattet wurden, den Namen des am 2. November 1882 in Prag geborenen österreichischen Juden Perutz nicht ein einziges Mal nachweisen. Der Name fehlt auch in der separaten DDR-Sammlung „Mit 5 PS durch die Literatur“. Erst die wie die ersten sechs Bände aufgemachte Sammlung „Briefe. Auswahl 1913 bis 1935“ von 1983 hat den Namen an einer Stelle in einem Brief Tucholskys an Hans Erich Blaich (19. Januar 1874 – 29. Oktober 1945), bekannter als Dr. Owlglass, dem Simplizissimus-Dichter. Die dem Vorbild und der Vorleistung des Wiener Paul Zsolnay Verlages wie des Rowohlt Taschenbuch Verlages folgende Renaissance des einstigen Erfolgsautors Leo Perutz in der bb-Reihe des Aufbau-Verlages Berlin und Weimar kam spät, aber nicht zu spät: Band 524 „Der Meister des Jüngsten Tages“, Band 566 „Nachts unter der steinernen Brücke“, Band 590 „Der Marques de Bolibar“ und Band 632 „Sankt-Petri-Schnee“.
Wer nach Perutz in der siebenbändigen Darstellung des Leipziger Reclam-Verlages „Kunst und Literatur im antifaschistischen Exil 1933 – 1945“ sucht, wird dort, wo er fündig werden müsste, im dem Exilland Palästina gewidmeten Finale des Bandes 5, Verfasser Rudolf Hirsch unter Mithilfe von Ursula Behse, enttäuscht. Leo Perutz war den Autoren keinerlei Erwähnung wert. Was einfach damit zu tun hatte, dass Exil der Jahre 1933 bis 1945 eben nicht nur ein „antifaschistisches“ war, dass manche, und keineswegs nur die unbedeutendsten Exilanten, an den vielfältigen Aktivitäten vieler anderer Kollegen einfach nicht teilnehmen wollten aus keineswegs nur unehrenhaften Gründen. Perutz war einer der tatsächlich seltenen Fälle, da ein namhafter Autor sich der Mitarbeit an den Exilzeitschriften selbst mit rein belletristischen, nicht politischen, Beiträgen verweigerte und auch am geselligen Leben vor Ort nicht teilnahm. Kontakte in Palästina hatte er, selten genug, zu Arnold Zweig und Max Brod. Brod resümierte Jahre später: „Es war schwer, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Die Vorbedingungen seiner Weltanschauung waren so verschieden zu denen, die wir erarbeitet hatten, dass man den Eindruck hatte, man müsse einen Urwald ausroden, ehe man mit ihm, dem völlig Einsamen, zusammentraf. Aber er war stets liebenswürdig, sehr kultiviert, hörte an, gab Auskunft – auch dies ist ja eine Art, sich hinter tausend Mauern zu verstecken.“
Ein Brief von Arnold Zweig an Lion Feuchtwanger, geschrieben nur sechs Wochen vor Feuchtwangers Tod am 21. Dezember 1958, belegt, dass Zweig der Name Perutz zwar vollkommen gegenwärtig war, nicht aber der aktuelle Stand an Informationen. Denn Perutz war nicht, wie Zweig meinte, vor ein paar Jahren in Tel Aviv gestorben, sondern am 25. August 1957, heute vor sechzig Jahren, in Bad Ischl. In Zweigs Briefwechsel mit Louis Fürnberg, einem Exil-Gefährten aus den Palästina-Jahren, spielt Leo Perutz wieder gar keine Rolle. Bei Hans-Harald Müller, dem zweifellos besten Perutz-Kenner der vergangenen vierzig Jahre, er unternahm auch den eigentlich unmöglichen Versuch einer Biographie im Umfeld des 50. Todestages 2007, kann man nachlesen, dass Perutz die Exiljahre nur einen einzigen wirklichen Erfolg als Schriftsteller brachten: er etablierte sich mit Erfolg via Argentinien im lateinamerikanischen Buchmarkt, Jorge Luis Borges spielte dabei keine geringe Rolle, aber auch Freunde des Autors, Anna und Hugo Lifczis, die ihn vor Ort als Agenten vertraten. Ansonsten arbeitete Perutz als Versicherungsmathematiker, das war sein alter Beruf, seine Firma zu Hause die, bei der einst auch Franz Kafka sein Brot verdiente. Als Perutz starb, war seine Erzählung „Der Feldwebel Schramek“ fast genau ein halbes Jahrhundert alt, ein Frühwerk also.
Bekannt wurde sie jedoch nicht in der Fassung des Jahres 1907, gedruckt am 24. Dezember 1907 in der Weihnachtsbeilage der „Teplitzer Zeitung“, sondern in einer überarbeiteten und deutlich erweiterten mit dem Titel „Das Gasthaus zur Kartätsche“. Unter diesem Titel nahmen sie auch Wulf Kirsten und Konrad Paul in ihre 1981 erschienene, mir bis heute wichtige dreibändige Anthologie „Deutschsprachige Erzählungen 1900 – 1945“ auf, sie stand im zweiten Band mit dem Titel „Mars“ für die Jahre 1919 – 1932. Man kann, das ist allerdings schon eher etwas für über normale Maße hinaus interessierte Leser, die beiden Fassungen vergleichen. Das beginnt mit Namen: der Feldwebel Schramek wird zu Feldwebel Chwastek, sein Vorname Jindrich oder Heinrich bleibt. Seine Partnerin heißt 1907 nur einfach die „Frieda von unten“, später ist sie Frieda Hoschek, die aber immer noch „von unten“ kommt. Der Erzähler ist 1907 ein namenloser Einjähriger, später trägt er den Namen August Frieseck. In beiden Fassungen erkennt er auf einem Foto in der Wohnung des Feldwebels eine Angebetete seiner jungen Jahre, auch sie aber bekommt erst in der überarbeiteten Erzählung einen Namen: Ulrike, auch Molly genannt. Ein alter Hauptmann wird von Törkl zu Terkl, seine Funktion als Träger einer ganz bestimmten Lebenserfahrung bleibt identisch erhalten.
Worum geht es? Die Erzählung beginnt mit der Nachricht, dass und wie sich der Feldwebel Schramek/Chwastek erschossen hat. Das gleitet sanft in eine schwarze Groteske über, denn man liest vom seltsamen Weg der Kugel, die noch einen weiteren Mann verletzt und schließlich im Gehäuse einer Uhr landet. Natürlich will jeder Leser nach solch einem Beginn irgendwann wissen, warum der sich nun das Leben nahm, sein Tod ist alles andere als rasch und leicht. Als man recht zeitig erfährt, dass der Feldwebel schon einmal ein Leutnant war, aber seine Charge verlor und als einfacher Soldat Jahre in einem fremden Regiment dienen musste, wird man immer neugieriger: hier wartet eine Vergangenheit, ist man sicher. Da wartet auch eine, nur erzählt Leo Perutz die nicht. In der frühen Fassung fehlte noch eine Angabe zu den Jahren des untersten Dienstes, später sind es acht volle Jahre. In beiden Fassungen aber spielt das Gasthaus eine Rolle, das später sogar den Titel liefert. Es ist mitten in Prag in der Nähe des Hradschin ein Gasthaus, in dem es tagsüber so zugeht: „die Hühner stolzierten unter den feuchten Holzbänken des Schanksaales.“ Das klingt eher wie Dorf, keineswegs wie große Stadt. Abends aber kommen aus den umliegenden Kasernen die Soldaten mit ihren Freundinnen. Und was tun sie? Sie spielen verbotene Spiele und singen verbotene Lieder. In der späteren Fassung sind es gar streng verbotene Lieder mit genannten Titeln.
Wer wie ich einen anderthalbjährigen Dienst in einer sich sozialistisch dünkenden Volksarmee hinter sich hat, fragt sich als Leser, was wohl gewesen wäre, hätte er sich, ich mich, so verhalten. Im alten Österreich gab es offenbar Verbote, sogar strenge, nur kümmerte sich niemand darum, selbst wenn er eine Uniform trug. In der jungen DDR gab es ganze Listen (in Berlin), welche Gaststätten verboten waren und verirrte man sich dennoch in eine, dann wurde man entweder angepöbelt oder schlicht nicht bedient, beides habe ich in meinen 18 Monaten erlebt. Plötzlich ist eine marode Monarchie an einem wichtigen Punkt der sich selbst als Zukunft der Menschheit sehenden Gesellschaft einfach überlegen. Man sitzt, die Überlegenheit reicht nicht in alle Ecken, im Gasthaus zur Kartätsche säuberlich getrennt. Wobei die Trennung vor allem eine ganz bestimmte Gattung trifft: 1907 sind es die Trainsoldaten, später werden sie durch die Pioniere ersetzt. 1907 wird die Isolierung in einer Ecke des Saales nicht näher charakterisiert, später aber in der Fassung, die 1920 separat gedruckt und 1930 in den Sammelband „Herr, erbarme dich meiner“ aufgenommen wurde, vergleicht der Erzähler die Isolierung mit der von Juden in ihrem Ghetto. Kann man der Verachtung der Trainsoldaten noch in gewissen Grenzen folgen, funktioniert das bei Pionieren nicht mehr.
Trainsoldaten sind traditionell Angehörige einer Gruppe, die man mit Nachschub, Nachtrab, mit Etappe in Verbindung bringt, jede Front braucht sie, aber sie stehen eben, vom berühmt-berüchtigten „Frontschwein“ so gesehen, im Warmen und Trockenen, man selbst in Dreck und Blut. Bei den Pionieren ist das anders, sie machen sehr oft den Weg erst frei für die kämpfende Truppe. Was der Wechsel der Truppengattung in den beiden Textfassungen tiefer bedeutet, kann hier nur vermutet werden: Perutz wollte keine nahe liegende Diskriminierung, er wollte eine, auf die man weder vorbereitet ist noch die man einfach so versteht. Das passt zu allem anderen eher, wenn man die Eigenheiten des Verfassers etwas besser kennt, wobei hier ja, man soll es nie vergessen, ein Erzähler agiert, der eben nicht mit Perutz gleichgesetzt werden darf. Der übrigens am 4. Juli 1916 selbst an der Ostfront durch einen Lungenschuss lebensgefährlich verletzt wurde und sehr lange für seine Genesung benötigte. Im Kriegspressequartier, wohin er danach versetzt wurde, hatte er sehr engen Umgang mit Egon Erwin Kisch. Der, obwohl fast ein Jahr jünger, neun Jahre früher starb als Perutz. Gerade seine Stimme vermisste Perutz, als sein Buch „Nachts unter der steinernen Brücke“ 1953 zuerst erschien, an dem er mehr als ein Vierteljahrhundert immer wieder gearbeitet hatte.
Im Gasthaus zur Kartätsche gibt sich der Feldwebel Schramek/ Chwastek als wilder Trinker, als Raufbold, aber auch als Sänger, als Musikant, er tanzt mit Frieda, er prügelt die Pioniere, wenn sie sich provozieren ließen. Unter der Überschrift „Erschütterungen der literarischen Formen“ ließ Siegfried Kracauer 1930 eine Kritik des damals noch als Novellen-Sammlung deklarierten Bandes „Herr, erbarme dich meiner“ erscheinen, in der er jene Passage „eine selten geglückte Stelle“ nennt, in der die Pioniere aus ihrem Saal-Ghetto herauskommen: „Kaum aber schlägt die Vergangenheit über dem Feldwebel zusammen, so vergeht ihm die Lust dazu, den Übermut der Pioniere zu bändigen. Diese flattern wie Fledermäuse hervor und beschlagnahmen Tische und Bänke.“ Das stand am 10. August 1930 im Literaturblatt der Frankfurter Zeitung. Es gibt von Kracauer auch eine lesenswerte Besprechung des Perutz-Romanes „Der Meister des jüngsten Tages“ vom 4. Oktober 1923, ebenfalls in der Frankfurter Zeitung. Welche Vergangenheit aber schlug über dem Feldwebel zusammen? Wäre die Antwort einfach, wäre Leo Perutz ein weniger bedeutender Autor. Denn weder erfährt der Erzähler noch der Leser irgendwelche klärenden Details, gar Geheimnisse. Es kommt ein Offizier in die Handlung, der mit Ulrike verheiratet ist, ein Oberleutnant, sie haben zwei Kinder zusammen. Das Paar erkennt den Feldwebel sofort und lädt ihn zu sich nach Hause ein.
Seinem Gast August Frieseck, 1907 noch ohne Namen, sagt der Feldwebel: „... kein Mensch steht dem andern nahe, merken Sie sich das! Auch die besten Freude stehen nur nebeneinander, in der derselben Landschaft. Und was Sie Freundschaft oder Liebe oder Ehe nennen, das ist auch nichts anderes, als dass wir unser Bild gewaltsam zu einem andern in den gleichen Rahmen pressen“. Der Schlüsselsatz für manchen Interpreten aber lautet: „Merken Sie sich das: Es gibt kein größeres Unglück für einen Menschen, als wenn er unversehens in seine eigene Vergangenheit hineingerät.“ Das ist dem Feldwebel Schramek/Chwastek zweifelsfrei passiert und es entzieht seinem Jetzt-Leben die Basis, auf der er es in der eigenen Wahrnehmung unabhängig von seinem Früher-Leben führen konnte. Der Erzähler ist, als er den Feldwebel erstmals nachdenklich erlebt, so verblüfft, dass er glaubt, nach Quellen Ausschau halten zu müssen, aus denen der andere seine Sprache, seine Gedanken holt. Das bedeutet aber nur, dass der Feldwebel seine selbst gewählte Rolle so gut spielt, dass sie als Rolle nicht mehr erkennbar wurde. Der Erzähler erkrankt an Typhus, als er wieder auf die Beine kommt, ist der Feldwebel tot. Die Fassung von 1920 hat eine allgemeine Charakteristik der böhmischen Soldaten auffallend verwandelt, das soll hier den offenen Schluss bilden.
„Denn diese böhmischen Soldaten, die lieben die verschlungenen Pfade der menschlichen Seele nicht. Sie haben wenig Sinn für die tieferen Leiden und Schmerzen eines Menschen, der nicht ihres Weges ist, für die seltsamen Gedanken eines Einsamen, der einen Tod stirbt, den sie nicht verstehen. Was sie lieben, das sind die einfachen und klaren und rührenden Liebesgeschichten mit ernsthaftem Ausgang, wie sie jeder von ihnen schon ein oder zweimal erlebt hat.“ Hieß es 1907. Und in der endgültigen, der späteren Fassung: „Abseitigen Wegen der menschlichen Seele nachzugehen, liegt nicht in der Art der tschechischen Soldaten. Was sie lieben, das sind die einfachen und klaren und rührenden Liebesromane mit ernsthaftem Ausgang, wie sie jeder von ihnen schon ein- oder zweimal erlebt hat.“ Zeitlich liegt das Ende der Donau-Monarchie dazwischen, die Tschechen haben nun ihren eigenen Staat. Zu dem gehört Prag als Hauptstadt, in der noch eine kleine Weile auch die deutschsprachige Literatur eine besondere Rolle spielte. Alfred Polgar schrieb am 2. Oktober 1924 in der „Weltbühne“: „Perutz ist kein Literat. Von den Verlogenheiten, Klebrigkeiten, Künsteleien, Schwindeleien des Metiers ist in seinen Büchern keine Spur.“ Und, ganz herrlich: „Der Inhalt dieser Bücher besteht, sozusagen, aus lauter Inhalt.“ Ja, doch.