Helga Schütz: Festessen
Ein Nachsatz in Helga Schütz' erstem Buch „Vorgeschichten oder Schöne Gegend Probstein“ geht so: „Ich bin als Besucher nach Sokołowiec, früher Falkenhain, gereist. Ich bin dort geboren. Später hat sich meine Phantasie lange dort aufgehalten. Es geschieht mir, dass ich ein Gebirge besuche, das ich erfunden habe. Ich finde die Sandkörner meines ausgedachten Gebirges. Ich finde die ruhigen Wasser meiner fließenden Flüsse. Ich finde eine aufgehobene Landschaft.“ Das Debüt fügte sich in die neue Reihe des Aufbau-Verlages, die Geschichten und „Kleingeschichten“, Kurzgeschichten und „Vorgeschichten“, Reportagen und Porträts, Stücke, Gedichte und Essays versprach und sich „Edition Neue Texte“ (ENT) nannte. Auf der Rückseite des Erstlings konnte man lesen: „wurde 1937 in Falkenhain im Bober-Katzbach-Gebirge geboren“. Noch heute verblüfft mich die mir dreist vorkommende Unterstellung, man habe zu wissen, was und wo das Bober-Katzbach-Gebirge sei. Ich beispielsweise habe den Namen außer im Zusammenhang mit Helga Schütz nie gehört, was freilich wenig zu bedeuten hat. Meine Mutter stammt aus Pommern, nicht aus Schlesien, ich hätte Wurzeln zwischen Deutsch-Krone und Schneidemühl zu suchen, nicht nahe des Riesengebirges.
Immerhin: Mitten in der Erzählung „Festessen“, um die es hier fast allein gehen soll, hakt sich mir eine Stelle fest: „Hohe Schnürschuhe, muss sie leider vermerken. Wo leben wir denn? Sind wir vielleicht Pomeranzen?“ Sie hatten ihre Animositäten untereinander, diese Bewohner des damaligen Ostdeutschlands. Bei den Pomeranzen hieß es „Pierunje aus Gleiwitz, Kattowitz umsteigen“, Witze über „Kalludrigkeit“ aus dem ganz fernen Ostpreußen klingen mir noch im Ohr. Nie hörte ich von Stadt-Pomeranzen, wohl aber von Land-Pomeranzen. Helga Schütz war, als der Krieg zu Ende ging, noch keine acht Jahre alt, die Dresdner Jahre von 1944 bis 1955 ihr deshalb deutlicher vor Augen als die davor liegenden. Dresden darf überhaupt darüber nachdenken, ob nicht irgendwo ein Schütz-Kabinett eingerichtet werden könnte, denn die Stadt ist in ihrem Werk fast durchgehend präsent, keineswegs nur in dem einen Titel „Jette in Dresden“. Das nette Ministerium für Staatssicherheit der DDR fand es passend, seinen am 28. Januar 1986 eröffneten OV „Jette“ zu nennen (OV = Operativer Vorgang), vorangegangen war eine OPK mit dem phantasieärmeren Namen „Ehepaar“ (OPK = Operative Personenkontrolle). Es gelang den Schattenmännern nichts bei Helga Schütz.
Sie lieferte keine Anlässe, sie möglicherweise nach den speziell für bestimmte DDR-Dissidenten neu erdachten Strafrechtsparagraphen zu kriminalisieren (ungesetzliche Verbindungsaufnahme, Weitergabe von nicht der Geheimhaltung unterliegenden Informationen), sie nahm allerdings auch ihre am 19. November 1976 gegebene Unterschrift unter der Biermann-Petition nie zurück. Sie schrieb ihre Bücher, die je mehr von ihnen im Lauf der Jahre bis heute erschienen, immer deutlicher machten, wie ankündigend der Titel ihres ersten, des ENT-Bandes, eben war: „Vorgeschichten“ machen nur Sinn, wenn ihnen die Geschichten, die eigentlichen Geschichten dann auch nachfolgen. Mehr oder minder deutlich, vordergründig, hintergründig, sind alle ihre Bücher mit all ihren Büchern enger verbunden als das in Gesamtwerken der meisten Autoren sonst ist, am leichtesten natürlich festzumachen am Personal. So eben auch in „Festessen“. Von dieser den Band „Das Erdbeben bei Sangerhausen und andere Geschichten“ eröffnenden Erzählung wird meist nur geschrieben, wenn es um „Festbeleuchtung“ geht, das dritte Buch, das, weil es fast so etwas wie ein Roman ist, von der romanfixierten Kritik natürlich ganz anders aufgenommen wird: williger.
Während es in der Folge der Publikationen von Helga Schütz eine große Kontinuität gibt, gibt es in der Folge der Preise einen kräftigen Bruch. Nach dem Heinrich-Greif-Preis 1969, dem Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Künste der DDR 1973 und dem Fontane-Preis des Bezirks Potsdam 1974 herrschte volle siebzehn Jahre Preisstille, obwohl die nach 1974 erschienenen Bücher keinesfalls schwächer waren als das frühe Trio. Ganz ungestraft unterschreibt man halt doch keine Biermann-Petition und wenn man dann auch noch aus der SED austritt (1980) mit der Begründung, man habe eigentlich nie hineingehört, der Eintritt sei ein Fehler gewesen, dann wird man, wenn man sonst kaum Angriffsflächen bietet, lustlos geduldet, aber man muss weder zwingend einen Ausreise-Antrag stellen noch muss man in die Friedhofsgärtnerei wechseln, wofür Helga Schütz sogar eine passende Berufsausbildung gehabt hätte, erlernte sie doch nach dem Krieg in Dresden die Gärtnerei. Und erscheint noch heute recht unliterarisch in Fachzeitschriften als Gärtnerin einer offenbar höchst bewundernswerten Anlage bei Potsdam. Sie passt also auch gut in einen „Tag des offenen Gartens“. In „Festessen“ offenbart sie dagegen ihren zweiten erlernten Beruf: die studierte Film-Dramaturgin.
Leonore Krenzlin schrieb im Anschluss an ihr Interview mit Helga Schütz, im Februar 1976 in „Weimarer Beiträge“ erschienen: „Der Anfang der Geschichte „Festessen“ ist da ganz charakteristisch: Fünf Gegenstände werden aufgegriffen, auf ihre Tauglichkeit als Erzählthema hin besichtigt und wieder fallengelassen … Jeder Gegenstand mit seinen Besonderheiten setzt die Vorstellungskraft in Gang“. Den vermeintlich mühsamen Einstieg in die Geschichte kann man, gar nicht an den Haaren herbeigezogen, mit einer Kamerafahrt vergleichen, es wäre dann die immer etwas wackelige Handkamera der jungen westdeutschen Autorenfilmer, deren Produkte die ARD über längere Zeiträume an späten Montagabenden ab 23 Uhr ausstrahlte, eine Kamera, die nicht auf ihren Gegenstand zusteuert, sondern ihn quasi optisch tastend sucht. Die Reihe hieß, Ältere werden sich erinnern, „Studio-Film“, also mit Bindestrich, Start war 1968. Bei Helga Schütz testet die erzählende Kamera zunächst gewissermaßen die Motive, die ihr vor die Linse kommen, reflektiert sich anbietende Assoziationen, hält sich aber letztlich nicht lange auf, bis sie bei der Hochzeit landet, jetzt gibt es auch Totalen und Halbtotalen zu sehen, Überblendungen und Schnitte.
Leonore Krenzlin deutete das Verfahren ihrer Gesprächspartnerin so: „Der Leser wird durch das Herausstellen der Erzähltechnik aktiviert: Erzähltes, so soll er sich gegenwärtig halten, ist etwas Hergestelltes, eine Mischung aus wirklich Gewesenem und Erfundenem.“ Wenn ich so etwas lese, bin ich mit schöner Regelmäßigkeit irritiert: Muss Lesern so etwas tatsächlich vor Augen gehalten werden oder ist es nicht eher wie mit den vordergründigen Intentionen des epischen Theaters, welches zu glauben vorgibt, dem Zuschauer müsse die Illusion genommen werden, er sitze nicht vor einer Bühne. Ich vermute eher, dass Helga Schütz mit der Absicht ans Schreiben gegangen ist, originell zu schreiben, anders als andere, anders vor allem, als mit dem missbrauchtesten Begriff der Moderne: herkömmlich, schlimmer noch: konventionell. Der praktische Vollzug solcher Intentionen führt sehr geraden Weges vom Leser weg hin zur reinen Begeisterung wohlwollender Kollegen, hinein in die Archive der Avantgarde-Historiker, hinein in den Kanon aller Kritiker, die sich an der Frontlinie des angeblich gar nicht denkbaren Fortschritts der Literatur aufhalten zu müssen glauben. Vorwürfe, es zu übertreiben, Manierismus-Vorwürfe, hat es gegen Helga Schütz deshalb gegeben.
Etwas simpel formuliert: Man muss ihre Art mögen, wenn man die Autorin Schütz mögen will. Geschichten wie die von diesem „Festessen“, an dessen Ende ausgerechnet der Bräutigam erstochen am Boden liegt, wären auch vollkommen anders erzählt denkbar und darum noch längst keine Kolportage. Man kann „Festessen“ sogar rein regionalkundlich lesen, ethnologisch-ethnographisch gewissermaßen und hätte immer noch, die nötige Zunge für dergleichen vorausgesetzt, einen Feinschmecker-Teller abzulecken. Das ist nämlich eine der Qualitäten dieser Erzählerin, wo sie in die Kindheit zurücksteigt, die sehr nahe an ihrer eigenen Kindheit liegt: sie mischt Würzungen, die feine Abstimmung benötigen, auch das kleinste Zuviel einer Zutat verdirbt den Geschmack. Und tatsächlich: sie ist nicht frei davon, da eine Prise zu viel, da eine zu wenig zu streuen. Was kein guter Vorwurf wäre, denn noch besten Köchen unterläuft das, ohne dass ihnen gleich ein Michelin-Stern gestrichen werden muss. Wozu ich mich sofort bekenne, um im Bild zu bleiben: Helga Schütz werkelt hauptsächlich in der Haute Cuisine. Die durchgehend warme Küche, die sich mit einem sonst eher verpönten Begriff gut bürgerlich nennt, ist nicht ihre Spezialität. Schlecht ist das nicht.
Es schützt allerdings vor sechsstelligen Auflagen ziemlich zuverlässig. Um die ging es auch nicht, als Joachim Walther am 31. Oktober 1972 das Grundstück Seepromenade 41 in Großglienicke aufsuchte, „wohnhaft darin: Helga Schütz, Egon Günther, die Kinder Thomas, Rochus und Claudia. Eine Treppe führt hinab in einen für Berliner Mietbescheidenheit nahezu gigantischen Raum … der Blick geht auf den See und die Grenzbefestigungen an dessen Ufer, Stille, von Zeit zu Zeit nur ein Motorrad unten mit zwei Grenzsoldaten darauf.“ Auch aus diesem Tableau hat Helga Schütz später Literatur gemacht. Joachim Walther erzählt sie: „Ich meinte, ich müsste über meine Kindheit schreiben. Das war halt der Einfall zum ersten Buch.“ Und viel deutlicher als später Leonore Krenzlin gegenüber benennt sie eine ganz bestimmte Motivation: „Zudem spielte sich meine Kindheit zu einer Zeit ab, die mir bis heute, trotz aller Theorie, unbegreiflich ist. Ich wollte in den Erinnerungen graben, aber eigentlich nicht über die Erinnerungen schreiben, sondern über das, was von den Erinnerungen eingekästelt ist.“ „Festessen“ ist eine dieser Grabungen, die, trivial der Vergleich mit der Archäologie, naturgemäß öfter Scherben und Splitter als ganze Keramiken finden.
Was einem Kind wichtig wird, muss mit dem, was demselben Kind im Erwachsenenalter wichtig wäre, nichts, aber auch gar nichts zu tun haben. So entstehen „Kindheitsmuster“, wie Christa Wolf, acht Jahre älter, es genannt hat, die jenen, denen das „trotz aller Theorie“ über ihr daher begrenztes Vorstellungsvermögen geht, vollkommen unverständlich sind. Theoretisch hätten jene aufgeregten Debatten, die über den auch alles andere als leicht zu lesenden Wolf-Roman geführt wurden, etwa in der Akademie-Zeitschrift „Sinn und Form“, auch über von Schütz entfaltete Kindheitsbilder geführt werden können. Man turnt aber lieber an Romanen, wenn man die Wahl hat. „Festessen“ führt ins Jahr 1940 und man könnte an der Geschichte die berühmt-berüchtigte Frage verneinen, dass im Faschismus, später wahlweise: in der DDR, alles schlecht war. Meine irgendwo einmal polemisch gegebene Antwort: Die Thüringer Klöße meiner Schwiegermutter, zum Beispiel, waren mitten im real existierenden Sozialismus sehr gut. Hier, in „Festessen“, schwimmen 200 Klöße im Waschkessel. Schon dieser Klöße im Waschkessel wegen kann mir diese Geschichte gar nicht nicht gefallen. In unserem Keller schwammen nach dem Schlachten die Klöße dort gar in Wurstbrühe.
„Ich hatte die Erinnerung an meine Kindheit und habe während des Schreibens gemerkt, welches Thema ich da mit mir herumtrage: den gewöhnlichen Faschismus.“ Ältere werden sich an einen Aufsehen erregenden Dokumentarfilm mit dem Titel „Der gewöhnliche Faschismus“ erinnern, Regisseur war Michail Romm (24. Januar 1901 bis 1. November 1971), er stammt aus dem Jahr 1965, Helga Schütz kannte ihn ganz sicher. Wie war er denn, dieser gewöhnliche Faschismus im Bober-Katzbach-Gebirge: Ein koloriertes Foto im Wechselrahmen (!!!) hängt im Wirtshaus an der Wand und den ahnungslosen Kindern wird erläutert: „Der Firärr.“ Oder: „Was hat der Fischmann Schoppe gerufen: Grüne Hering', fett wie Göring.“ Mutter Blümel erinnert sich angesichts des Aufwandes nicht nur mit den 200 Klößen: „Wenn das der Papa wüsste, so eine großangelegte Feier. Genau eine Büchse Ölsardinen haben der Papa und ich zu unserem Hochzeitstage gegessen.“ Ich kann mich an DDR-Tage erinnern, da besondere Stammkunden im Konsum in Packpapier getarnt solch kleine Büchsen zugeschoben bekamen. Wir Stammkunden mochten aber keine Ölsardinen und hatten so immer ein willkommenes Geschenk oder ein winziges Tauschobjekt für Begierige.
Totalitarismus-Theoretiker könnten also aus der Beliebtheit der Ölsardine in Schlesien und der DDR Nahrung für ihr Weltbild ziehen, man könnte jedoch auch das Fischlein benutzen, um über systemunabhängige Kontinuitäten zu meditieren. Dank Helga Schütz (ist ein Spaß). Joachim Walther gegenüber räumte sie auch ein, gewisse Quellenstudien getrieben zu haben, sie bestellte sich Zeitungen aus der Gegend, „den Hirschberger Beobachter zum Beispiel.“ Der half bei Namen und Leuten. Als Robert Zenscher den Bräutigam schließlich erstochen hat, ist das „Festessen“ zu Ende. Davor hatte die Erzählerin und mit ihr natürlich die Autorin die Leser gewarnt: „Kommt was auf dich zu, lieber Leser.“ Das Ende geht so: „Ein Thema hatte sich aufgebaut und wir mussten folgen. Das nächste Thema nennt Pospich. Es heißt: So wahr ich August heiße – der Mörder wird gefasst werden. Und Frau Pospich spricht dazu den ersten Satz: Andere sterben den Heldentod.“ Mehr Ausblick auf den schon im Gange befindlichen Krieg gibt es nicht an diesem Hochzeitstag, selbst der zu spät kommende Postbote bringt nur Glückwünsche. Wer weiß, wie viele Autoren ihm einen Briefumschlag mit Gefallenen-Nachricht in die Hände gegeben hätten, Helga Schütz nicht.