Moritz August von Thümmel: Wilhelmine

An seinem Namen haftet, wie es scheint, unablöslich, ein Makel: er war ein Bestseller-Autor, als dieser Status noch gar nicht erfunden war, er lebte die längste Zeit seines langen Lebens in recht glücklichen Umständen, gönnte sich nach seinem ersten Großerfolg eine überlange Pause und war vor seinem zweiten Großerfolg offenbar sogar bereit, sein Manuskript ins Feuer zu werfen, wenn der Verleger Georg Joachim Göschen nicht 3000 Taler auf den Tisch des Hauses packen wollte. Bei Goethe lesen wir: „Thümmels „Wilhelmine“, eine kleine geistreiche Komposition, so angenehm als kühn, erwarb sich großen Beifall, vielleicht auch mit deswegen, weil der Verfasser, ein Edelmann und Hofgenosse, die eigne Klasse nicht eben schonend behandelte.“ Was wie hohes Lob klingt im 13. Buch von „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“, ist sehr wahrscheinlich nicht mehr als der Versuch, eine gewisse Vollständigkeit im Aufzählen deutscher Autoren der frühen Goethe-Zeit zu erreichen, denn das vage „vielleicht auch mit“ sagt alles und nichts, ein echtes Urteil, gar eine gerechte Würdigung im Gang der Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts, ist das natürlich nicht.

Da wirkt es authentischer, wenn wir aus Goethes Rückblick auf das Jahr 1795 erfahren, dass der in Gotha und Sonneborn lebende Thümmel einer der nicht eben zahlreichen Empfänger eines der ersten Freiexemplare von Goethes „Wilhelm Meister“ war. Goethes Mutter bekam eines, Goethes Schwager Schlosser, Johann Heinrich Voß. Die ersten, die Goethe nennt, rangbewusst wie er stets war, sind übrigens „Herzog und Prinz von Gotha, Frau von Frankenberg daselbst“, erst dann folgt Thümmel. Dem hat Goethe im Juni 1782 sogar einen Brief geschrieben mit der immer wieder so herrlichen Anrede „Hochwohlgebohrner Insonders hochzuehrender Herr Geheimberath“. „Das Andenken der schönen, leider nur zu kurzen Tage, die ich bei Ihnen zu geniesen das Glück gehabt, erneuert sich bei mir auf das lebhafteste da ich die Feder ergreifte Ew. Hochwohlgeboren wegen einer akademischen Sache nochmals zu behelligen.“ Es ging um akademische Stellenbesetzungen und Goethe besorgte sich um den Anschein von Nachlässigkeit, der entstehen könnte, sein eigenes Zutun betreffend. Ob Thümmel Mitte da noch idealer Ansprechpartner in Coburg war, ist fraglich.

Denn just ins Jahr 1782 fallen jene Nachreden, denen zufolge Moritz August von Thümmel, in Diensten des Coburger Herzogs seit 1761, zuerst Kammerjunker, später Wirklicher Geheimrat und Minister (ab 1768) Geheimnisverrat an Verwandte begangen haben soll, was zu seinem eigenen Gesuch um Entlassung aus dem Staatsdienst führte, dem der Herzog am 8. Februar 1783 seine Genehmigung erteilte. Da Thümmel Rang und Titel behalten durfte, war es wohl nicht weit her mit der Beweiskraft der Anschuldigungen, er privatisierte fortan in Gotha und dem damals noch nicht zugehörigen Gut in Sonneborn. In Detlef Ignasiaks Kompendium „Das literarische Gotha“ ist die Gutsgeschichte knapp aufgezeichnet, sie schließt mit der Prognose: „Bald wird nichts mehr an das Thümmelsche Gut erinnern“, es lag an der heutigen Dr.-Wilhelm-Külz-Straße. Wie Ignasiak zu seiner Aussage über die „Wilhelmine“ kam, in der „er mit viel Gefühl die Geschichte eines armen Theologen erzählt, der das leichtfertige Kammermädchen seiner Herrschaft heiraten muss“, entzieht sich meiner Kenntnis, genauer Lektüre kann es kaum entstammen, denn weder ist Wilhelmine als besonders leichtfertig dargestellt, noch ist von einem „Müssen“ dort die Rede, wohl vom Wollen.

Immerhin bringt „Das literarische Gotha“ Thümmels wirklich niedliches Gedicht „Aktäon“ in voller Länge und Schönheit, dabei auf die Anthologie „Lauter Lust wohin das Auge gafft“ zurück greifend, von Bernd Jentzsch für einen 1971 erschienenen Leipziger Reclam-Band (RUB 497) mit Gedichten „in der Manier Anakreons“ zusammengestellt. Man darf Jentzsch noch heute dafür Respekt zollen, eine Anthologie des Stuttgarter Reclam-Verlages mit dezidiert repräsentativem Titel „Deutsche Gedichte des 18. Jahrhunderts“ (UB 8422) kennt nicht einmal den Namen Thümmels. Seinem Herzog Carl August hat Goethe übrigens am 16. Juni 1782 mitgeteilt, Thümmel habe sich ausdrücklich entschuldigt, „dass wir in der Hitze unsres guten Willens den Herrn Ausfeld ganz übersehen haben“. Dieser Herr war es, dem neben Döderlein, Goethe-Freunden bestens bekannt, ein Lehrstuhl vermittelt werden sollte. Aus den Lebenserinnerungen des Komponisten Louis Spohr (5. April 1784 – 12. Oktober 1852) wissen wir, dass Minister Thümmel gelegentlich sogar zu Festen lud, die er „dem Hofe und dessen nächster Umgebung gab“. So einer, um auf den Anfang zurück zu kommen, hat kaum eine Chance, dem Neid von Kollegen und Nachwelt dauerhaft zu entkommen.

Joseph von Eichendorff gehört mit seiner knappen Würdigung in seiner „Geschichte der Poetischen Literatur Deutschlands“ auf jeden Fall zu denen, die ein objektives Urteil wagten: „Von Wielands Nachfolgern ist Moritz August von Thümmel (1738 – 1817) unstreitig der geistreichste, nicht wegen seiner ganz unbedeutenden Jugendschriften: „Wilhelmine“ und die „Inokulation der Liebe“, die sich fast nur wie Wielandsche Stilübungen ausnehmen, sondern durch sein berühmtestes Werk: „Reise in die mittäglichen Provinzen Frankreichs“. Für DDR-Leser nahm Herausgeber Werner Schubert die „Wilhelmine“ in den Band 3 der Reihe „Deutschsprachige Erzähler“ auf, der 1979 als Band 372 in der Sammlung Dieterich unter dem Titel „Deutschsprachige Erzähler von Gottsched bis Nicolai“ erschien. Damit ist nebenher auch Ignasiaks Behauptung, das „komische Epos“ sei zuletzt 1966 neu erschienen, als falsch erwiesen. Die „Wilhelmine“ endet so: „Ich hab alles getan, was meine Muse befahl; ich habe das Elend des verliebten Magisters und seine fröhliche Hochzeit besungen und hab ein Werk verrichtet, das, durch eine schöne Druckerpresse vervielfältigt, der Vergänglichkeit trotzen kann.“ Dieser Schluss widerspricht ein wenig dem Beginn, ironisch wohl.

Denn Moritz August von Thümmel teilt schon im zweiten Absatz des ersten Gesanges, sechs hat er insgesamt geschrieben, seinen Lesern dieses mit: „Der große Gedanke, der sonst die deutsche Dichtung erhitzt, dass sie den Freuden des Tages und die Erquickung der Nacht, dass sie die Peiniger der menschlichen Natur, Hunger und Durst, und die größern Qualen der Dichter, den Spott der Satire und die Faust des Kunstrichters, verachten, dieser große Gedanke: Einst wird die Nachwelt mich lesen – hat keinen Anteil an meinen Gesängen.“ Wie der Schluss beweist, könnte man belustigt sagen, wenn man den schon auf der ersten Seite kennen würde. Es liegt ein wenig Spott über alle Erfolglosen in einem solchen Satz, die ihren besten Trost in eben solchen „großen Gedanken“ finden (zumindest tun sie öffentlich gern so) und es ist auch genau die Prise Anmaßung darin, die jugendliche Literaturanfänger offenbar seit mindestens 250 Jahren immer wieder mobil macht. Wieland, dem Thümmel angeblich nachfolgte, soll laut Karl August Böttiger gesagt haben: „Thümmel habe sich weder durch seine Wilhelmine noch durch seine Reisen einen bleibenden Ruhm erwerben können, weil sie beide zu schlüpfrig wären und ohne alle moralische Tendenz.“

Das wäre im November 1796 gewesen. Wir entnehmen der Aussage allenfalls, was für unfassbar verkniffene Ansichten damals herrschten, was schlüpfrig sei. Zugleich erstaunt, dass der große Wieland eine moralische Tendenz, die nicht ausdrücklich als solche formuliert war, nicht erkennen konnte oder wollte. Wie sah die Schlüpfrigkeit aus? „... und da verriet sich zugleich auf einige süße Augenblicke für den entzückten Bräutigam ihr kleiner vorgestreckter Fuß bis an die Höhe des seidenen Strumpfbandes, auf welchem mit Pünktchen von Silber ein zärtlicher Vers von Voltaire gestickt war.“ Außerdem bebt Wilhelmines Busen mehrfach in den sechs Gesängen. Man besah sich in Rokoko-Zeiten zwar gern neckische Akte, war aber auf Nachfrage des pietistischen Pastors im Zweifelsfall stets heftig empört darüber. Es wäre interessant zu wissen, was Schiller vorschwebte, als er Ende 1795 begeistert auf Goethes Xenien-Plan einging und im Brief vom 29. Dezember vorfreudig schrieb: „Sobald wir uns nur selbst nicht ganz schonen, können wir Heiliges und Profanes angreifen. Welchen Stoff bietet uns nicht die Stolbergische Sippschaft, Racknitz, Ramdohr, die metaphysische Welt mit ihren Ichs und Nicht-Ichs, Freund Nicolai, unser geschworener Feind, die Leipziger Geschmacksherberge, Thümmel, Göschen als sein Stallmeister, u. d. gl. dar!“

Nicht nur im Falle Schillers ist es übrigens interessant zu schauen, wer von seinen Biografen es wichtig oder überflüssig findet, den Namen Moritz August von Thümmels zu erwähnen. Zwei ganz unterschiedliche Komplett-Verschweiger waren Reinhard Buchwald und Rüdiger Safranski und in den beiden voluminösen Schiller-Handbüchern finden sich bei Matthias Luserke-Jaqui nur der genannte Brief an Goethe, bei Helmut Koopmann nur der, freilich deutlich wichtigere Hinweis aus Schillers „Über naive und sentimentalische Dichtung“. Dort hat der Schwabe den Sachsen Thümmel (am 27. Mai 1738 in Schönefeld bei Leipzig, heute zu Leipzig gehörend, geboren) sehr eingehend behandelt, verglichen mit anderen rasch hingeworfenen Urteilen. Auch Jean Paul, der gern unter den Freunden Thümmels genannt wird, ließ ihm in seiner „Vorschule der Ästhetik“ eine ganz eigene Gerechtigkeit widerfahren und formulierte nebenbei sogar die schönsten Sätze über Thümmel, die ich kenne: „Den Ruhm der schönsten, oft ganz homerisch verkörperten Prose teilt Thümmel vielleicht mit wenigen, unter welche Goethe und Sterne, aber nicht Wieland gehören, der die seinige durch Verkehr mit den französischen Allgemeinheiten entfärben lassen. Man könnte oft Thümmel ebensogut malen als drucken.“ Man merke: Jean Paul stellt Thümmel über Wieland!

Festzuhalten ist zwischenzeitlich: Moritz August von Thümmel behandelte Kreise, denen er selbst entstammte (sein Geschlecht lässt sich im Raum Leipzig bis ins 15. Jahrhundert zurückverfolgen) und in denen er verkehrte: Adel, Hof, satirisch und kritisch. Er leistete sich, darin ganz Zeitgeist, Frivoles und, in den Augen anderer, auch Schlüpfriges. Nebenbei – und das ist für alle wichtig, denen Literatur ohnehin mehr Form, selten Inhalt ist – hat er eine bemerkte und bemerkenswerte Leistung in der Geschichte der deutschen Prosa vollbracht, die ihm sogar häufiger als andere Verdienst gutgeschrieben wird. Bei Wilhelm Scherer etwas liest sich das so: „Wie nämlich Lessing die Alexandrinertragödie, die Fabel, ja die Ode in ungebundene Rede übertrug, so fing auch das komische Heldengedicht an, sich durch prosaische Abfassung der Novelle oder dem Romane zu nähern, denen es seinen heimatlichen Gehalt nun um so leichter zuführte. Thümmels „Wilhelmine“ kam 1764 heraus und richtete sich gegen die Verderbnis der deutschen Höfe. Die Heldin ist eine fürstliche Kammerjungfer, welche den guten Dorfpfarrer Sebaldus heiratet.“ Scherer hält auch fest, dass der berühmte Spätaufklärer Friedrich Nicolai an Thümmels „Wilhelmine“ direkt anknüpfte.

Unter den Wirkungen Thümmels wäre demnach festzuhalten, dass er Nicolai den Vorwurf zu dessen Roman „Sebaldus Nothanker“ lieferte, der die Geschichte gewissermaßen weiterschreibt. Richard Newald beschrieb das mit diesen Worten: „Schon den Zeitgenossen ist Nicolais Geschäftskniff aufgefallen, seinen Roman, der den Sterneschen Titel in die deutsche Literatur einführte, an die Hauptpersonen von Thümmels Wilhelmine anzuknüpfen, ja ihn als Fortsetzung des beliebten Werkchens auszugeben und damit einen Brauch der moralischen Wochenschriften auf den Roman zu übertragen.“ Gemeint ist Laurence Sterne, der Brite, der neben der „Empfindsamen Reise durch Frankreich und Italien“ vor allem mit „Das Leben und die Ansichten Tristram Shandys“ Epoche machte im literarischen Europa des 18. Jahrhunderts. Auch für Goethe ist eine Wirkung behauptet worden: Sein „Götz“ sei ohne Thümmel kaum denkbar, meinte Wilhelm Scherer, einer der langetonangebenden Literaturhistoriker (26. April 1841 – 6. August 1886). Und wenn man sich diese an sich ganz unbedeutende Stelle in der „Wilhelmine“ anschaut: „Der entschlossene Hofmarschall fuhr, von der Kabale, seiner beständigen Schutzgöttin begleitet …“, kann man da nicht ganz zwanglos an einen Hofmarschall von Kalb denken in einem Stück „Kabale und Liebe“?

Man kann, man muss nicht, der Einfluss muss Schiller keineswegs bewusst gewesen sein. In „Über naive und sentimentalische Dichtung“ räumt Schiller Thümmel fast widerwillig Bedeutung ein: „Indessen ist es natürlich und billig, und ich weiß es aus eigner Erfahrung, dass der Thümmelische Roman mit großem Vergnügen gelesen wird. Da er nur solche Forderungen beleidigt, die aus dem Ideal entspringen, die folglich von dem größten Teil der Leser gar nicht und von den bessern gerade nicht in solchen Momenten, wo man Romane liest, aufgeworfen werden, die übrigen Forderungen des Geistes und – des Körpers hingegen in nicht gemeinem Grade erfüllt, so muss er und wird mit Recht ein Lieblingsbuch unserer und aller Zeiten bleiben, wo man ästhetische Werke bloß schreibt, um zu gefallen, und bloß liest, um sich ein Vergnügen zu machen.“ Das bezieht sich zwar auf den am Ende zehnbändigen Roman „Reise in die mittäglichen Provinzen Frankreichs im Jahre 1785-1786“, kann aber zumutungsarm auch auf die „Wilhelmine“ bezogen werden. Schiller, der frühe Verächter von Literatur, die gefallen will und Lesern, die auf ein Vergnügen aus sind? Man denke sich nur kurz „Der Geisterseher“ hinzu, jene wilde Räuberpistole, die von ihm nie vollendet wurde.

Im Luther-Jahr 2017 darf als Fußnote angemerkt werden, dass die erste 1764 erschienene Fassung der „Wilhelmine“ noch den längeren Titel trug „Wilhelmine oder der vermählte Pedant“ und in ihr dem Magister Sebaldus im Traum nicht etwa der kleine mit Pfeilen bewaffnete Liebesgott Amor erschien, der am Ende dann auch noch dafür sorgt, dass die wilde Festgesellschaft im Pfarrhaus dem Pastor nicht die sehnsüchtige erwartete Hochzeitsnacht vermasselt, sondern Dr. Martinus Luther. Um auch das noch zu Akten zu legen: Der ersten Fassung galt ein Widmungsgedicht, das die Stadt Coburg bis heute sicher nicht zu den schönsten Werbeschriften fürs Tourismusbüro zählt: „In einem Städtchen voller Zwang, / Dem Sitz verjährter Kleinigkeiten, / Wo Lust und Scherze zu verbreiten / Es keinem Dichter noch gelang / Wagt‘ ich aus Einsamkeit und sang.“ Der Dr. Luther aber verschwand schon zwei Jahre später aus dem komischen Epos, ihn ersetzte Amor. Für den Sinneswandel werden in der Literatur bedarfsweise Thümmels Freunde im Plural oder jeweils einzeln Johann Peter Uz oder Christan Felix Weisse herbeizitiert. Ein anderer Freund, der immer nur Bose genannt wird, es könnte ein Justus Wilhelm von Bose gewesen sein, spielt eine Rolle.

„Die „Wilhelmine“ verdankte ihr Entstehen einer Meinungsverschiedenheit zwischen Thümmel und seinem Jugendfreund Bose, der bezweifelt hatte, dass sich die deutsche Sprache ebenso für poetische Prosa eigne wie die französische“. Nur wenige Wochen soll Thümmel gebraucht haben, den Beweis zu führen. Schrieb Werner Schubert. Und Richard Newald: „Die realistischen Elemente stammen aus England, aber die Seelenhaltung kam aus der Umwelt Klopstocks und Kleists.“ Hier ist nicht Heinrich von Kleist gemeint, sondern Ewald von Kleist, den Thümmel von Leipzig und dem dortigen Studium her kannte. Auch Friedrich Wilhelm Gotter wird unter den Freunden genannt, der wiederum eine Bekanntschaft Thümmels mit Anton Wilhelm Leisewitz vermittelt habe, steht bei Detlef Ignasiak. Heute würde man das Vernetzung nennen, man besuchte sich und führte Briefwechsel. Die „Wilhelmine“ war 1764 pure Gegenwartsliteratur, spielte sich das Ganze doch um den Jahreswechsel von 1762 auf 1763 ab, war aber dennoch nicht so realitätsnah, dass es etwa die Endphase des Siebenjährigen Krieges irgendwie reflektiert hätte. DDR-Kritikern galt das als ein Makel. Sie mochten aber, dass Thümmel „witzig über die Spießbürger zu spotten wusste.“

Seitenhiebe werden Thümmel gern bescheinigt, gegen den Klerus, gegen die Höflinge. Man könnte zahlreiche fein beobachtete Stellen zitieren, an denen der Autor Beschriebenes und Benanntes für sich sprechen lässt und eben keine Moral anknüpft, wie sie an vielen Fabeln der Aufklärung hing oder diesen gar voranging. Stellvertretend der Pastor, der mit zutreffenden Wetterprognosen seine Bauern gewinnt und nicht mit seinen Predigten. „Die gerührten Bauern bewunderten den neuen Propheten, besserten ihr Leben und besetzten seitdem alle Stühle der Kirche.“ Thümmels Mittel: „Die gehobene Sprache und der feierliche Ton stehen auffallend im Gegensatz zum profanen Inhalt. Aus dem Widerspruch zwischen dem, was erzählt, und der Art, wie dargestellt wird, ergibt sich die komische Wirkung.“ (Werner Schubert) Jean Paul hat ausdrücklich bedauert, dass Thümmel wenig schrieb: „… dass der Jüngling, welcher durch die „Inoculation der Liebe“ unsere besten komischen Dichter erreichte, seinen ganzen blühenden Jahrraum, worin er sie alle hätte übertreffen können, in stummen Sabbatjahren und Ernteferien zubrachte, bloß um im Alter mit seinen „Reisen“ die komischen Prosaiker zu übertreffen.“ „Die Inoculation der Liebe“ (1771) ist Thümmels Zweitwerk.

Dass auch die ganz Großen bisweilen nicht mehr waren als gewöhnliche Klatschtanten, sei abschließend an Schiller demonstriert, der dies am 6. Dezember 1794 an den Verleger Cotta schrieb: „Mit Thümmel habe ich keine Bekanntschaft. Ich weiß aber von Göschen, daß er ein höchst träger und unzuverläßiger Schriftsteller ist, und seine Verleger Jahre lang auf Manuscript warten läßt. Indessen könnten Sie es ja mit ihm probieren. Ich dächte, Sie ließen einen Jahrgang der Flora binden, machten ihm ein Präsent damit und lüden ihn förmlich ein. Warten Sie aber noch einige Wochen oder Monate, weil unterdessen Ihre Handlung durch die Horen in Sachsen mehr bekannt werden wird. Auch hat Göschen ehmals gegen mich merken lassen, daß Thümmel desperat hohe Foderungen mache. Seine Arbeit, däucht mir übrigens, ist so vieler Anstalten nicht werth.“ Dennoch wollte auch Schiller nicht auf Thümmel als Mitarbeiter verzichten, wie seinem Brief an Gottfried Körner vom 12. Juni 1794 zu entnehmen ist. Schließen wir mit dem Empfinden des Bräutigams Sebaldus, dem der erste Champagner seines Lebens begegnet: „… er wäre bald vor Schrecken versunken, als der betrügerische Wein den Stöpsel an die Wand schmiss.“ Prosit, Thümmel!


Joomla 2.5 Templates von SiteGround