Konstantin Paustowski: Das Ringlein

Sicher würde ich, wenn ich in den Gründen und Abgründen alter Briefschaften lange genug suchte, auch jenes Schreiben finden, das mir, dem hochgestimmten, nach Anerkennung heischenden jungen Lyriker und Prosaisten, eine Literaturliste ans Herz legte, zum alsbaldigen Gebrauch bestimmt, zum bildsamen, zum lernenden. Dass auf dieser Liste ein Titel ganz oben stand, „Die goldene Rose“ von Konstantin Paustowski, weiß ich noch so sicher, als hätte ich das Schreiben gefunden und geprüft. Es war, als das, was bald den Namen „Poetenbewegung“ erhielt in der mittleren und späteren DDR, noch den Anschein der Unschuld für sich beanspruchen durfte, als die Förderer und bald auch helfenden Freunde noch Förderer und helfende Freunde waren, weshalb auch die späteren Kritiker und Kritikaster, die Dissidenten, die echten, die selbsternannten, ihre Hervorbringungen ohne Umstand dem Zentralorgan der sozialistischen Jugendorganisation, der „Jungen Welt“, in prallen Briefkuverts voller Durchschläge zusandten, Urteil und Meinung von Hannes Würtz und Hans Laessig mit banger Spannung erwartend. Nein, ich habe „Die goldene Rose“ damals nicht gelesen.
 
Günter de Bruyn, warum sollte ich es leugnen, gehörte in jenen Jahren auch nicht zu den Fixsternen an meinem Dichterhimmel und als sein kleiner Text „Die goldene Rose oder Abenteuer des Wiederlesen. Über Konstantin Paustowski“ gedruckt erschien, es war 1979 in der Sammlung des Aufbau-Verlages „Schriftsteller über Weltliteratur“, da glaubte ich noch, eine Diplomarbeit über einen ganz anderen Günter schreiben zu dürfen: Günter Kunert. Warum es nicht dazu kam, ist anderen Orts öffentlich gemacht und spielt hier keine Rolle. De Bruyn aber, den ich längst schätze, schrieb damals umstandslos „jedes Wiederlesen ist ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang“. Er riet, ohne einen Adressaten des Rats näher zu benennen: „Aber wir sollten nicht den Fehler machen, unsere entwicklungsbedingten Meinungsänderungen den Büchern zur Last zu legen. Wir sollten uns zu ehemaligen Lieblingsbüchern bekennen als zu einer notwendigen Stufe, die erstiegen und verlassen werden musste.“ Mit dem „notwendig“ und dem „musste“ habe ich Probleme. Zu vielen wunderbaren Zufällen verdanke ich wunderbare Leseerlebnisse, welche waren Stufe, welche nicht?
 
Was ich Günter de Bruyn unbesehen abnehme, ist seine Erkenntnis: „Paustowski (das bestätigen auch seine Erzählungen) schien mir verwandt. Das war es. Und das ist es wohl immer, was in uns Begeisterung für Bücher erregt. Die Helden sind so, wie wir sind oder sein möchten, nur konsequenter, die Gedanken sind die, die wir denken, nur genauer, die Gefühle sind unsere Gefühle oder könnten es sein.“ In Klammern hat er dann allerdings einen Satz folgen lassen, den ich nur abgewandelt unterschreiben würde: „Und für den lesenden Schriftsteller kommt noch der Gedanke hinzu: Das hätte auch ich schreiben können – wenn ich es könnte.“ Bei mir hieße die Abwandlung: „Das hätte ich gern geschrieben – aber es ist schön, dass es schon in der Welt ist.“ Ich liebe Sätze wie diesen aus der Paustowski-Erzählung „Der Segelmacher“: „Die wie aus dünnem Zinn geschmiedeten Wälder funkelten unter dem Dezemberhimmel.“ Das macht mich ratlos staunend: Schmiedet man dünnes Zinn anders als dickes? Schmiedet man Zinn überhaupt oder gießt man es nur zu Silvester? Mit diesem Staunen lande ich absichtslos elegant beim Märchen „Das Ringlein“.
 
Dort gibt es einen alten Förster, den Großvater Nikita, der in der Prosa-Fassung, die als Basis diente für das Märchenstück aus dem Jahr 1947, noch Kusma hieß. Dieser Großvater hat eine Enkelin mit Namen Warjuscha, für die Bühne ist sie 13 Jahre alt, in der Geschichte vorher hat sie gar kein Alter. Nikita bekennt sich ebenfalls zum Staunen. „Ich, Bruder, bestaune das Dasein schon von Kind an und werd zu staunen nicht aufhören. So unbegreiflich schön ist unsere Welt.“ Was das im Detail heißen kann, erklärt er mit einem schönen Vergleich zwischen der großen weiten Welt und dem Zuhause: „Man schaut sie sich an, bewundert sie und findet doch nichts schöner als die blühenden Gräser, die zu Haus zwischen den Türschwellenritzen hervorwuchern. Die Erde der Heimat ist wie eine Mutter.“ Zugegeben, in Zeiten, da allein das Wort Heimat ganze Völkerscharen zu ablehnenden Wallungen treibt, mit und ohne Hitze wahlweise, klingt das mehr als seltsam. Mit dem Wissen, dass die große Heimat-Beschwörung zu den ideologischen Rüstungsgütern der von Deutschland 1941 überfallenen Sowjetunion Stalins gehörte, lässt sich Teilerleichterung herbeidenken bei Bedarf.
 
Deutschland hält, das wissen wir, in all seinen Baumärkten und bisweilen auch bei Discountern im Sonderangebot Fugenkratzer bereit, nicht nur den Gräsern zwischen den Türschwellenritzen zu Leibe zu rücken. Wir entfalten keine Heimatgefühle, wenn auf unserem gepflasterten Mietparkplatz ein Löwenzahn zwischen den Steinen blühen möchte. Es steht also zu fürchten, dass uns die Poesie alter russischer Förster, die auf ihren Öfen husten und Machorka für ein probates Mittel halten, der Atemnot zu entkommen, nicht aufgeht. Zum Märchen zurück. Denn es beschränkt sich nicht auf Reisewarnungen mit Heimatlob. Wir erfahren, dass das Mädchen Warjuscha, keine Eltern mehr hat, die Mutter starb an einem Fieber, den Vater hat der Dichter schlicht außen vor gelassen. Das Mädchen sorgt für den Großvater, der Großvater, sich dem Ende nahe fühlend, sorgt sich, dass es seiner Enkelin gut gehen möge, wenn er nicht mehr lebt, dass sie gute Menschen finden möge. Und, das ist dann wohl doch sowjetisch, er lebt in der sicheren Überzeugung, dass es genügend gute Menschen gebe, er sich also keine Sorgen machen möge. 20 Kilometer weit ist es zum Dorfladen.
 
Die geht Warjuscha heimlich und in der Nacht, um in diesem Dorfladen Tabak zu kaufen. Dort hat der Verkäufer Ledenzow alles vorrätig, was solch ein Laden braucht. Das Märchen und somit sein Dichter Paustowski gönnt sich sogar einen differenzierten Blick auf das Angebot. Der Bär Traps, dem Warjuscha nicht nur vom Fladen abgibt, sondern auch eine Zigarette dreht, sagt unumwunden: „Ein ekliges Zeug, dieser Tabak! Wohl staatlicher, kein Eigenbau.“ Wenig später legt der Bär nach: „Ordentliche Ware hat er kein Stück. Honig – auf Zuteilung. Metallkämme – nicht da. Womit soll ich mir den Pelz lausen?“ Und Warjuscha zeigt, dass die Bedürfnisse der Menschen, ob sie nun im Mittelpunkt der Politik einer führenden Partei stehen oder nur als kaufende Teilnehmer des Marktes betrachtet und behandelt werden, des Binnenmarktes und seiner Nachfrage, sei ergänzt, dass diese Menschen eben unterschiedliche Bedürfnisse haben und entwickeln: „Wenn ich in den Laden geh, kann ich mich gar nicht satt sehen an all den schönen Dingen. Bücher gibt es da. … Und bunte Bänder“. Bücher und bunte Bänder, wir lernten es, sind die schönere Seite von Mangelwirtschaft.
 
Das ZEIT-Lexikon Literatur bescheinigt Konstantin Paustowski, der am 14. Juli 1968 in Moskau starb: „Obwohl sein Blick auf die Welt nie von Ideologien verzerrt war, machte P. keinen Hehl aus seiner positiven Einstellung der Sowjetunion gegenüber.“ Ob das als Lektüre-Warnung gedacht ist, sei dahingestellt, der Autor Klaus-Peter Walter legt ohnehin mehr Wert auf die westübliche, Leser verschreckende Lautumschrift von Namen und Titeln als auf substantielle Aussagen zum Werk. Immerhin verrät er eine Tatsache, die in der DDR wenig Chancen auf die große Glocke hatte: 1968 wählte die Akademie der Wissenschaft und Literatur in Mainz Paustowski zu ihrem Mitglied. Viel hat er davon nicht mehr gehabt, denn er überlebte seinen 76. Geburtstag am 31. Mai 1968 nur um runde sechs Wochen. Was in seinem Märchenstück „Das Ringlein“ aber deutlich wird, ohne dass es ausgestellt wirkt, ja eher im Gegenteil: das sowjetische Nachkriegsleben, zum Handlungszeitraum und Handlungsort gemacht, ist durchwachsen von Vergangenheit, es ist, sehr vereinfacht gesagt, sehr russisch, sehr viel weniger sowjetisch. Vielleicht erkennt man das erst im Abstand er Jahre.
 
Vielleicht ist es 1947 niemandem sonderlich aufgefallen. Aber in diesem Märchen sagt man mitten im schönsten Sowjet-Sozialismus ganz selbstverständlich „Heilige Mutter Gottes!“. Mitten im schönsten Sowjet-Sozialismus bewahrt der alte Förster Nikita seinen Truhenschlüssel hinter einem ikonenartigen Bild des Marschalls Kutusow (rein zufällig auch wieder eine Identifikationsfigur aus der Rüstkammer der geistigen Mobilmachung des Volkes für den Großen Vaterländischen Krieg; Kutusow, wir erinnern uns vage, war der Held im Kampf gegen Napoleon) und in der Truhe wiederum liegen zwei bezeichnende Dinge: eine Kerze und das Georgskreuz. Das wiederum verlieh ein General dem Großvater im russisch-japanischen Krieg von 1904/05 für Verdienste im Kampf um Port Arthur. Nikita legt sich zum Sterben mit dem Zarenkreuz und der Kerze, die früher immer in der Zimmerecke vor der Ikone flackerte und die Hütte verrußte. Am Ende, es ist ein Märchen, ist der Großvater natürlich gar nicht tot, gerettet hat ihn ein Wunder, das allerdings nicht irgendein Wunder ist, sondern sozusagen ein natürliches Wunder, die Märchentheorie der DDR horchte auf.
 
Konstantin Paustowski bevölkert sein Nachkriegsmärchen mit ganz normalen Menschen. Zum Beispiel mit einem Stallburschen aus der örtlichen Kolchos. Der verkörpert schon neue Zeit und neue Ideologie. Er will einen Strich kaufen im Dorfladen und ist mit der Qualität des Angebotes nicht zufrieden. Und was sagt er da? „In der Ware, mein Lieber, muss man sich auskennen. Und zwar gründlich! Schließlich kauf ich ihn nicht für mich. Ich kauf das für den Kolchos.“ Will sagen: würde er den untauglichen Strich für sich kaufen, wäre alles in Ordnung, der Kolchos aber, der verdient das Beste. Wir wissen längst, dass der Köhlerglaube, an den sich die Ideologen des real existierenden Sozialismus hielten, darin bestehend, dass das sozialistisches Eigentumsbewusstsein, weil auf Volkseigentum basierend, dem Privateigentumsbewusstsein überlegen sei. Hat bekanntlich  nicht funktioniert, nur der Glaube daran starb zuletzt. Ältere DDR-Bürger erinnern sich womöglich der heillosen Aufregung, als ein DDR-Schriftsteller von Diebstahl in volkseigenen Betrieben unkte, von denen zwar jeder wusste, niemand aber reden durfte. 1947 war ein Strick noch die Nagelprobe.
 
Neben den normalen Menschen, darunter eine Anissja mit einer Ziege, die im Dorfladen ein Stück Erdbeerseife gefressen hat, und einem spät heimkehrenden Soldaten, der durch Russland wandert wie weiland Gorki und all die Landstreicher, die Gorki unterwegs auf seinen Wanderung traf, gibt es den schon erwähnten Bären Traps, der stets damit droht, jemanden oder etwas zu zerreißen. Ihn schreckt Warjuscha aus dem Winterschlaf auf, als ihr der Ring in den tiefen Schnee entfallen war, den ihr der Sergeant geschenkt hatte für ihre Freundlichkeit, ihm von Großvaters Machorka abzugeben. Tabak-Teilen als Freundschaft und Treue stiftende Maßnahme, die Nikotin herstellende Industrie sollte sich in der russisch-sowjetischen Literatur umschauen nach Werbeideen! Es gibt etwas später Waldschrate, die neugierig und hilfreich sind und es gibt ein zartes Mädchen, das auf die Frage, wer es sei, antwortet: „Ihr kennt meinen Namen. Ich bin der Frühling.“ Heilige Einfalt: ein Mädchen ist DER Frühling, ein Mädchen, das bei Paustowski barfuß durch den Schnee läuft und sich in der Hütte des Großvaters Nikita über ein Fußbad freut. Das, mit Verlaub, ist herrlich.
 
Das Mädchen Frühling weist auch die Anmutung von sich, eventuell eine Zauberin zu sein: „Ich geh barfuß und trag ein Leinenkleid. Zauberinnen sind in Samt und Seide gehüllt.“ Das sollte man sich auf alle Fälle merken. Der Sergeant Kutyrkin verliebt sich fast stehenden Stiefels in das Mädchen Frühling, ohne dass er das natürlich sagt, auch ohne dass der Dichter das überdeutlich merken lässt. Immerhin, als der Frühling nach vollbrachter Großvater-Rettung weiter gen Norden ziehen will, bietet Kutyrkin ihr seine Begleitung nach dem unausgesprochenen Motto: Mein Fräulein, darf ich’s wagen … wir erinnern uns. Die Rettung, sprich das natürlich Wunder, vollzieht sich über einen vorgezogenen Frühling, er kommt zehn Tage eher und er bricht brachialer aus als in normalen Zeitläuften. Bär Traps hat eigens eine Hüttenwand nach außen gedrückt, damit der geballte Frühling inklusive einem Holunderblütenmeer nach innen fluten kann, allein der Duft, wir ahnen es Hobby-Köche von Holunder-Gelee, weckt (Schein)-Tote auf. Großvater Nikita setzt sich auf, die Tiere des Waldes begehren, den Auferstandenen mit eigenen Augen aus der Nähe zu sehen.
 
Und es gibt eine fabelhafte Nutzanwendung aus Nikitas Munde: „Nein, das Herz da drinnen muss unbändig schlagen, die Hand muss die Arbeit lieben, das Auge freudig in die Welt blicken, der Kopf rechte Gedanken fassen. Dann lebt man ohne jeden Ring hundert Jahre.“ Der Ring, das hat das Märchen natürlich vorgeführt, war ein ganz gewöhnlicher ohne die geringsten Zauberkräfte, der aber dennoch Wirkungen zeitigte: im Glauben an ihn. Das wilde Mädchen Njurka, Tochter von Ledenzow, die auch im Verdacht stand, die Erdbeerseife an die Ziege verfüttert zu haben und von der es heißt, dass sie mit dem Katapult schießt und Jungen verprügelt, Njurka also will sich unbedingt in den Besitz des Ringes bringen. Ihr gewaltsamer Versuch erst löst die Geschehenskette aus, der Bär wird geweckt und so weiter. Am Ende ist sie so etwas wie bekehrt. Am Ende hat der Dichter vergessen, dass der nun das Frühlingsmädchen nach Norden begleitende Pionier eigentlich die Fähre im Dorf reparieren wollte. Wir erfahren jedenfalls nichts mehr darüber und rein vom zeitlichen Ablauf her kann es Kutyrkin auch gar nicht geschafft haben. Es gibt sicher Schlimmeres.
 
Roland Beer, der für die Gustav Kiepenheuer Bücherei zwei Paustowski-Bände herausgab und mit einer Einleitung beziehungsweise mit einem Nachwort versah, schrieb: „Und die Poesie dieser Märchen Paustowskis beruht wie die der alten Volksmärchen auf einer Vereinfachung, die zwar die Realität nur bedingt erfasst, als elementare Wahrheit aber doch gültig ist: Die Natur ist ihrem Wesen nach schön und der Mensch seinem Wesen nach gut. Und wenn der Märchendichter anhebt zu erzählen, dann preist er, was immer auch der Stoff seines Erzählens sein mag, die Schönheit der Natur und die Güte des Menschen.“ Mir reicht, jedenfalls bisweilen, ein Wissen wie es der Förster Nikita voller Überzeugung an seine Enkelin weitergibt: „Der Wolf, der führt wirklich ein elendes Leben. Das Fell vereist ihm, und nirgends findet er im Winter was zu fressen.“ Der Gedanke, dass Wölfe gern an russischen Öfen sitzen würden oder Bären sich an Fladen laben, weil ihnen immer nur Fleisch oder getrocknete Preiselbeeren zum Halse heraushängen, ist mir ein wohltuender Gedanke. Das wollte ich gern gesagt haben, zumal heute eben der 50. Todestag ist von Paustowski.


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