Lothar Kusche 90
Eine Blitz-Umfrage unter einschlägigen Alt-Humoristen mit starkem Hang zu allgemeiner Kritik-Unverträglichkeit ergäbe vermutlich die verfestigte Meinung, zu Kusches heutigem neunzigsten Geburtstag hätte ich gefälligst nichts zu meinen, mangels Kompetenz. Nun ist dem Jubilar weder meine noch die Alt-Humoristen-Meinung wirklich nahe gehend, denn er lebt nicht mehr. Zwar gibt es den Buch- wie Film-Titel „Tote leben länger“, aber wir wissen, wie das so ist mit solchen Titeln. Dann wäre da noch Jesus, der dem Evangelium nach Matthäus zufolge erwiderte: „Folge mir nach, lass die Toten ihre Toten begraben!“. So tun wir also, was wir nicht lassen wollen. Und beginnen mit einem gewissen Eckart Krumbholz (8. Januar 1937 – 29. März 1994). Der schrieb dereinst unter der kollegialen Überschrift „Darüber kann ich nicht lachen“ dies: „1959 oder 1960 zeigte mir auf dem Berliner Strausberger Platz ein Freund einen kleinen dicken hochelegant gekleideten Mann, der sehr gerade neben einer Bulldogge herstapfte. Er und die Bulldogge blickten gar grimmig drein. Der Freund sagte: „Das ist Lothar Kusche.“ Kusche – Autor des „bombastischen Windeis“, dessen kurze aggressive Prosa ich bewunderte und der auf dem Klappentext des Heftes flink verbreitete, er sei im Besitz enormen Wissens, wie man eine Zeitung nicht mache? Beneidenswert!“
Ich breche das Zitat an dieser Stelle schnöde ab, um an meinem Regal die Gegend aufzusuchen, in der sich DDR-Autoren des Geburtsjahrgangs 1929 finden. Es überrascht mich keineswegs, dort insgesamt zehn Bücher aus der Feder von Lothar Kusche zu sehen, darunter natürlich aus „Das bombastische Windei“ aus dem Aufbau-Verlag Berlin 1959. Was Krumbholz etwas abschätzig Heft nannte, war Band 5 der Reihe „Die Reihe“ und hieß mit komplettem Titel „Das bombastische Windei und andere Feuilletons“. Ehe ich es aufschlage, entledige ich mich der Dementierpflichten, die dreißig Jahre nach dem „Fall der Mauer“ einfach abgearbeitet sein wollen, um Männern wie Gert Loschütz (geboren am 9. Oktober 1946 in Genthin) nicht Wasser auf die Mühlen oder Butter bei die Fische zu liefern. Loschütz war einmal der Meinung, Volker Braun habe mit seinem im Kursbuch von Hans Magnus Enzensberger 1965 veröffentlichten Gedicht „Die Mauer“, die Quelle nannte Loschütz leider nicht gleich mit, eine „der widerlichsten Hervorbringungen“, die „jemals im Gewand eines Gedichts aufgetreten sind“. Man kann bei einer derart krassen Superlativ-Schwäche einem Autor, nicht einmal wenn er aus Genthin kommt, was auch für Edlef Köppen gilt, alles, nur keine Nachsicht walten lassen. Loschütz wüsste, dass in der DDR niemand etwas flink verbreitete.
Eckart Krumbholz wusste das natürlich auch, aber wir wissen seit Heine, dass dem Feuilletonisten bisweilen die eigene Formulierung wichtiger - weil schön - ist, als die trockene Wahrheit, nicht zu reden von der korrekten Wahrheit, die heutzutage gesondert erwähnt werden müsste. Zu bezweifeln ist auch das hochelegante Outfit des kleinen dicken Mannes Kusche. Oder sollte tatsächlich die sozialistische Textil-Wirtschaft des ersten Arbeiter- und Bauern-Staates damals noch etwas gekonnt haben, was ihr später dann schlicht abhanden gekommen sein müsste: die Verfertigung kleidsamer Übergrößen? Der Klappentext des Heftes, das man, ohne es zu beleidigen, auch Büchlein nennen könnte, beginnt so: „Mein Lebenslauf will erst einer werden; er begann 1929. Ich ging zur Schule, benahm mich dort nicht besonders gut und lernte soviel wie alle anderen Leute, also nicht sehr viel. 1945 sollte ich noch schießen, es waren aber keine Gewehre mehr da. In den unordentlichen Nachkriegsjahren durchlief ich eine Blitzkarriere als Schokoladenschieber, indem ich eines Nachmittags einen Karton Schokolade in Kommission nahm und nachts die Schokolade aufaß; eine ungeschickte Art, Geschäfte zu machen.“ Das vom enormen Wissen, wie man Zeitungen nicht mache, hat der Kollege Krumbholz, nicht etwa der Kollege Crampton, ein wenig subexakt zitiert.
Am 2. Mai 1989, als die DDR-Welt ihren Freunden und Verwandten noch heil schien, gratulierte NEUES DEUTSCHLAND dem Schriftsteller Lothar Kusche zum sechzigsten Geburtstag. Der Redakteur Klaus-Dieter Schönewerk (1942 – 2014), er entpuppte sich postum noch selbst als Lyriker, schrieb: „Seine besondere, nicht eben häufige Fähigkeit ist es, die Hieroglyphen der Wirklichkeit zu entziffern und in herrlich komische Geschichten übersetzen zu können. Schon deshalb nimmt er den Leser für sich ein, weil letzterer in Kusches Mitschriften eine Menge von dem bemerkt, was er selbst schon erlebt hat oder längst gesehen hätte, wenn nur sein Blick darauf gefallen wäre.“ Zu sagen wäre kommentierend, dass das Fallen eines Blickes auf etwas keineswegs identisch ist mit dem Sehen desselben. Wir bräuchten sonst weder Maler noch Dichter, weder Fotografen noch IQ-Monster aller Art, denn das Sehen ist der Anfang allen Talentes. Eine vorzeitige öffentliche Gratulation zu Lothar Kusches 75. Geburtstag übersehe ich hier absichtsvoll, obwohl sie auch einen Hinweis auf Elisabeth Shaw (4. Mai 1920 – 27. Juni 1992) liefert, die gemeinsam mit Kusche das nun wirklich in jeder Hinsicht hübsche Büchlein „Quer durch England in anderthalb Stunden“ fabrizierte: sie illustrierte auf unnachahmliche Art, er schrieb über die DDR-ferne Insel.
Es war zu DDR-Zeiten eine gern geübte Praxis, den am Reisen Gehinderten von Privilegierten verfasste Reiseberichte zur Verfügung zu stellen. Selbige hatten die etwas diffizile Aufgabe, die Sehnsucht nach den beschrieben Orten eher klein zu halten, soweit es nicht Orte waren, die mit etwas Glück und Geld dann doch zu erreichen gewesen wären. Als Student hatte ich im Sprachkurs Englisch an der Humboldt-Universität zu Berlin eine Lehrerin, die demonstrativ gern erzählte, all ihre Anträge, das Mutterland der Sprache, die sie unterrichte, einmal selbst zu sehen, seien in schönster Regelmäßigkeit abgelehnt worden. Vielleicht war aber auch die Gefahr, zu viel Sehnsucht zu wecken, kleiner als vorschnell zu vermuten. Es gab auch in der DDR Bürger, die gut wussten, ab welcher Stockhöhe Trauben sauer schmecken. Und Kusche hatte wichtige Informationen für seine Leser: „Während der Berliner Presseklub eigentlich ein Restaurant ist, stellt der Londoner tatsächlich einen Klub dar.“ Und auch gleich noch ein Seitenhiebchen parat: „Es soll Journalisten geben, die von einem Klub profitieren könnten, der ihnen mitten in der Stadt Gelegenheit zu ruhigem Lesen und Nachdenken bietet.“ Natürlich war das keine verkappte Kritik an den allseits gebildeten und belesenen Journalisten der DDR, das wäre der Zensur schließlich doch aufgefallen!
Zum Thema „Die Liebe auf den Brettern“ fiel Lothar Kusche auf, dass auf selbigen, soweit sie die Welt bedeuten, der einleitende Hand-Kontakt eine sehr entscheidende Rolle spielt: „Je langsamer dies geschieht, als desto reiner, ätherischer hat man die Liebe anzusehen, welche gerade vorgeführt wird. Die Küsse, die erhabene Persönlichkeiten austauschen, gehen wie im Zeitlupentempo vor sich, es handelt sich gewissermaßen um Seelenvermählungen … Mit zunehmender Leidenschaft gewinnt auch die Theaterliebe an Tempo. Je ärger da die Sinnlichkeit in den Beteiligten auflodert, desto rascher stürzen sie sich in die Arme.“ Ob Lothar Kusche je einen „Don Carlos“ sah, der der Prinzessin Eboli einfach die Röcke lupfte, um ihr von hinten seinen königlichen Kurzspeer zwischen die Labien zu stoßen und dabei zu schnaufen, als er stiege er den höchsten Glockenturm seines Reiches, in dem die Sonne nie unterging, zu Fuß hinauf, dreißig Kilo Marschgepäck auf dem Rücken? Gut denn, Renate Holland-Moritz, mit der Kusche eine Zeit seines Lebens verpaart war, wies, als Nuditäten den DEFA-Film erreichten, gern darauf hin, dass sie nicht prüde sei, aber dennoch, nun ja, irgendwie nicht vollständig begeistert. Machen wir uns an dieser Stelle einfach einen „Knoten ins Taschentuch“, so semi-listig einen weiteren Buch-Titel von Kusche erwähnend.
Dietrich Kittner (30. Mai 1935 – 15. Februar 2013), West-Kabarettist mit DKP-Nähe, der DDR allein aus diesen Grunde ziemlich sympathisch, erzählte 2004 im „Ossietzky“, dessen Autor und Mitherausgeber er war, von den Grenzkontrollen in Berlin, wo ihm beim Übertritt aus dem Osten in den Westen Druckerzeugnisse abgenommen wurden. „Der Kusche“ steht über dem Beitrag, der unter anderem Kittners Erstbesuch in der Redaktion der „Weltbühne“ in Erinnerung ruft, es war im Jahr 1972, ich schützte da gerade tapfer mein Land vor dem Klassenfeind. „Verblüfft über so viel Bescheidenheit stand ich schließlich vor einer unscheinbaren Tür im Obergeschoss eines Rückgebäudes. Ich fasste mir ein Herz und klingelte. Ein freundlicher Herr öffnete.“ Wir ahnen, wer das war: „Der Herr hieß Lothar Kusche und hielt ganz allein Stallwache in der Redaktion.“ So war sie eben, diese DDR, bescheiden, mit winzigen Stallwachen, alle anderen Wachen kümmerten sich bekanntlich um die Grenze und verdächtige Personen mit Westkontakten. Aber wir wollen nicht übertreiben, es war nicht alles schlecht in der DDR, Kusche zum Beispiel war ziemlich gut. Matthias Oehme gratulierte ihm zum 75. Geburtstag im ND mit dem Satz: „Er hat mehr Zeitungen, Zeitschriften und Verlage entstehen und vergehen sehen, als er Bücher geschrieben hat.“
Für diesen Satz wiederum, das liegt auf der Hand, musste so ziemlich alles, was in der DDR entstand, mephistophelisch wertvoll zugrunde gehen, freilich ohne die Konsequenz, dass „besser wär, dass nichts entstünde“. Verleger Oehme entschuldigte sich ein wenig scheinheilig bei Kusche: „Sei der Tucholsky von der Panke, der Mark Twain vom Antonplatz, der Auburtin von Schöneweide, aber der Kishon – nein es ist zu blöd.“ In „Das bombastische Windei“ steht übrigens ziemlich weit hinten auch ein Feuilleton mit dem Titel „Shakespeare kommt zu Besuch“. Es geht um den Redakteur Karl-Günther Zähler, dem doch tatsächlich von der Sekretärin der Besuch des Mannes aus Stratford gemeldet wird. Die Sekretärin erkennt ihn, weil er haargenau so aussieht wie auf dem Porträt, das das von Walther Victor (21. April 1895 – 19. August 1971) herausgegebene „Lesebuch für unsere Zeit“ zeigt, es erschien im Volksverlag Weimar 1953. Natürlich ist dieser Engländer einem Irrtum aufgesessen, wenn er die Aufforderung „Shakespeare dringend gesucht!“ als auf sich bezogen deutet. Der Redakteur klärt ihn auf: Das sei der Titel eines Stückes von Heinar Kipphardt. Und es geht um Jubiläen als Anlässe, über die kritisch-satirisch immer dann besonders gern geschrieben wird, wenn mangels Jubiläen als Anlässen zu viel Platz im Feuilleton ist.
„Amerikanische Fernsehfilme, das weiß jeder, der auch nur einen gesehen hat, halten Distanz von der Wirklichkeit. Sie sind bemüht, das Niveau des Reklame-Fernsehens womöglich noch zu unterbieten, was ihnen meistens spielend gelingt.“ Das kann man in dem 42. Band der Reihe „Die Reihe“ nachlesen, der der Titel trägt „Überall ist Zwergenland. Ein Streifzug durch den Kitsch“. Später meinten manche, der Kusche habe mit dem Zwergenland die DDR gleich mit genannt. Es gibt immerhin heute Reklame-Filme, die man, besser klingend, Werbespots nennt, die mehr Geld kosten als einst ganze DEFA-Filme in der DDR und das damals noch in Aluminium-Papiergeld. Trotzdem nun das finale Zitat: „Manche Leute sagen von sich, sie zögen es vor, zwischen den Stühlen zu sitzen, und sie sagen es mit einem gewissen Stolz. Sie verkennen den eigentlichen Zweck von Stühlen; dieser ist: darauf, nicht dazwischen zu sitzen. Sie sind dauernd in Gefahr, auf den Fußboden zu stürzen. Es gibt gute und schlechte Stühle, feste und morsche Stühle, neue und alte Stühle. In jedem Falle aber benehmen sich die Stühle feindlich, wenn man sich zwischen sie setzt. Sie stellen einem Fallen.“ Lothar Kusche geht zweifellos mit Lust davon aus, dass zwischen den Stühlen sitzen keineswegs automatisch auf dem Boden sitzen bedeutet. Wie kam er nur darauf?