Niccoló Machiavelli: Belfagor
Die Prostituierte Shen Te, wohnhaft in der Hauptstadt der Provinz Sezuan, erhält aus den Händen dreier Götter, denen der Entschluss dazu erst nach einigem Hin-und Herreden einkommt, tausend Silberdollar als ziemlich fürstliches Entgelt für eine einmalige Übernachtung in ihrem Hause. Den Göttern wollte bekanntlich niemand ein Obdach geben in dieser Stadt, Shen Te aber gab es. Kaum aber hat sie von der Nachtmiete einen Tabakladen gekauft, ohne Kurtaxe für die Beherbergung zu entrichten, gilt sie als reich und wird von Schmarotzern belagert und ausgenutzt. Roderigo von Kastilien zieht mit fantastischen einhunderttausend Dukaten in Florenz ein, sucht eine Braut und findet sie sehr schnell. Kaum hat er geheiratet, findet er sich von Schmarotzern umgeben, die sein Geld vergeuden und ihn am Ende gar zwingen, aus der Stadt zu fliehen. Die erste Geschichte erzählt Brecht, die zweite Machiavelli. Man kann sie natürlich nicht miteinander vergleichen, weil das, wie stets in solchen Fällen behauptet, ein Fall mit Äpfeln und mit Birnen ist. Man braucht nicht einmal lange zu fragen, wer in diesem Fall die Äpfel, wer die Birnen verkörpert. Man kann aber auch so tun, als sei das mit der Unmöglichkeit des Vergleichens durchschaubare Zweckpropaganda.
Denn natürlich kann man alles mit allem vergleichen, erst der Vorgang selbst liefert ja eine je nachdem größere oder kleinere Menge von Gemeinsamkeiten, von Unterschieden. Hier ist es einfach interessant zu sehen, dass der parteilose Kommunist Brecht seine Götter mitten in China Devisen aus dem überseeischen Ausland verschenken lässt, während der recht atheistische Katholik Niccoló Machiavelli einen spanischen Adligen, der eigentlich ein Erzteufel ist, ausrüstet mit einer für damalige Augen und Ohren gigantischen Summe, die man als Drittmittelgelder für irdische Feldforschungen deuten könnte, wobei der Forschungsgegenstand einigermaßen diffizil ist. Denn: in der Hölle, in der ganz überlieferungsgemäß Pluto der oberste Herrscher ist, häufen sich Klagen dort gelandeter Männer, die Ehe sei jene Institution, die ihnen letztendlich den Weg in den Himmel verbaut habe. In der Hölle ist man skeptisch, ein bis heute angenehmer Gedanke, man will den Fall vor einem eigenen Urteil einer eigenen Überprüfung unterziehen. Geboren wird nach längerer Beratung, in der Hölle diskutiert man, ein ebenfalls bis heute angenehmer Gedanke, der Plan, einen Abgesandten aus den Tiefen nach oben zu schicken. Belfagor, gefallener Erzengel soll es richten.
Abgesehen davon, dass eine Blitzumfrage in einer Fußgängerzone, welches denn die bekanntesten Werke von Niccoló Machiavelli seien, wahrscheinlich gar keine Antworten eintrüge, könnte man sich diese Zone voll lustwandelnder Akademiker vorstellen, die den Namen irgendwann und irgendwo schon einmal vernommen haben. Sicher bin ich, dass bei letztlich wenigen verwertbaren Antworten „Der Fürst“, „Il Principe“, das Rennen machen würde, dass der eine oder die andere auch etwas vom Zweck, der die Mittel heilige, murmeln würde, dann aber wäre das Ende der Fahnenstange erreicht. Wir müssen das nicht als bedauernswert ansehen, Machiavelli selbst hätte es auch nicht getan. Er sah die Menschen, wie sie sind. Auf Gedanken, wie sie sein sollten, hat er nicht viel Zeit verschwendet. In Kapitel 15 seiner Schrift, sie hat in der Ausgabe, die ich vor mittlerweile mehr als vierzig Jahren als Student im siebenten Semester erstmals las, keine hundert Druckseiten Text, ein paar Anmerkungen kommen hinzu, steht dies: „Denn zwischen dem Leben, wie es ist und dem, wie es sein sollte, klafft ein so gewaltiger Unterschied, dass wer das, was man tut, aufgibt für das, was man tun sollte, eher seinen Untergang als seine Erhaltung bewirkt: denn ein Mensch, der immer nur das Gute tun wollte, muss zugrunde gehen unter so vielen, die nicht gut sind.“
Nun könnte man einige Besen zum Verspeis freigeben: hat das Bezug zu Brecht oder nicht? Wer da meint, „Der gute Mensch von Sezuan“ illustriere eine einfache und klare These des am 3. Mai 1469 geborenen Niccoló Machiavelli, wird auf keinen Fall der glatten Fehlinterpretation bezichtigt werden können. Wer dagegen, das für Insider unter den Insidern, den Italiener Antonio Gramsci halbwegs gut gelesen hat, der wird finden, dass unter Kommunisten, seien sie parteilos oder sogar Parteiführer und Vordenker, der Renaissance-Mann aus Florenz solide Sympathiewerte aufweist. Ein gewisser Karl Marx nannte seinem Freund Engels gegenüber, den er in Brighton treffen wollte, 1857 Machiavellis „Geschichte von Florenz“ ganz schlicht ein Meisterwerk. Nämlicher Engels wiederum, dessen 200. Geburtstag im kommenden Jahr sicher nicht nur in Wuppertal-Elberfeld gefeiert wird, hat nicht nur des öfteren die schöneren Sätze von Marx geschrieben, er hat dem Florentiner im Zusammenhang mit einem dieser unsterblich schönen Sätze ausdrücklich den Status eines exemplarischen Beispiels verliehen. Zuerst der schöne Satz: „Es war die größte progressive Umwälzung, die die Menschheit bis dahin erlebt hatte, eine Zeit, die Riesen brauchte und Riesen zeugte, Riesen an Denkkraft, Leidenschaft und Charakter, an Vielseitigkeit und Gelehrsamkeit.“
Dann die beiden Sätze, die folgen: „Die Männer, die die moderne Herrschaft der Bourgeoisie begründeten, waren alles, nur nicht bürgerlich beschränkt. Im Gegenteil, der abenteuernde Charakter der Zeit hat sie mehr oder weniger angehaucht.“ Und nun, nach Leonardo da Vinci und Albrecht Dürer, vor Luther noch, das dritte sprechende Beispiel: „Machiavelli war Staatsmann, Geschichtschreiber, Dichter und zugleich der erste nennenswerte Militärschriftsteller der neueren Zeit.“ Engels wusste also vom Dichten des Mannes, der mit „Belfagor arcidiavolo“ selbst in die Geschichte der italienischen Renaissance-Novelle eingegangen ist, was angesichts von Namen wie Boccaccio oder Matteo Bandello ja etwas bedeuten will. Und dann wäre da noch „La Mandragola“, von der Manfred Hardt in seiner „Geschichte der italienischen Literatur“ umstandslos behauptet, sie sei „eine der besten Komödien der italienischen Literatur“, was man in Deutschland, wo man von diesem Kaliber kaum auf ein halbes Dutzend käme, wohl vermerken sollte. Als vor nun auch schon wieder fünf Jahren das derzeit gefährdete Monbijoutheater in Berlin das Jubiläum „20 Jahre Hexenkessel“ feierte, feierte es mit „La Mandragola“ in der Regie von Alberto Fortuzzi. Wer in den 60er Jahren pubertierte, erinnert sich an einen aufregenden Film ab 18 mit Rosanna Schiaffino.
Dennoch, und daran wird sich nichts ändern, gehören „Der Fürst“ und Niccoló Machiavelli zusammen wie Speichelfluss und Pawlows Hund. Die Schrift, die erst fünf Jahre nach dem Tod ihres Verfassers gedruckt wurde und später mit seinen anderen Werken gar auf den Index geriet, hat ein Phänomen begründet, das es so vorher nicht gab: die vollkommene Loslösung der Rezeption vom Werk. Machiavelli wurde gar eine Bühnenfigur, in England bei Christopher Marlowe etwa. Und der spätere Erz-Machiavellist Friedrich II. verfasste unter tätiger Mithilfe seines zeitweiligen Freundes Voltaire einen „Anti-Machiavell“, den man in heutigen Tagen der Aufregungskultur im Netz, der Entrüstungsmoral zuordnen müsste. Der spätere Preußenkönig wörtlich: „Ich habe den Fürsten von Machiavelli von jeher als eine der gefährlichsten Schriften angesehen, die in der Welt verbreitet worden sind.“ Nach seinen ganz persönlichen königlichen Erfahrungen mit dem Leben, wie es ist, nicht, wie es sein soll, resümierte derselbe Friedrich: „Es tut mir leid, aber ich bin gezwungen zu gestehen, dass Machiavelli recht hat.“ Immerhin: lernfähige Könige mag es einige gegeben haben, das dazu passende Geständnis aber gehört in die Raritätenkammer des Weltarchivs.
Als Robert Leicht, der im August 75 Jahre alt wird, 2013 in der ZEIT, deren Chefredakteur er einige Jahre gewesen war, einen Beitrag drucken ließ aus Anlass des Jubiläums 500 Jahre „Der Fürst“, Titel „Die Mechanik der Macht“, las sich das wie eine stille Korrektur und Richtigstellung seiner eigenen, ebenfalls in der ZEIT veröffentlichten Kritik der Machiavelli-Biographie des Schweizers Volker Reinhardt. Dort hatte Leicht im März 2012 die Falschbehauptung des Verlages, es handele sich um die erste Biographie seit Jahrzehnten, sogar eine Untertreibung genannt. Dabei war im nämlichen Verlag C. H. Beck erst im Jahr 2000 die Biographie von Dirk Hoeges erschienen und in der ZEIT gemeinsam mit einer zweiten Machiavelli-Biographie von Maurizio Viroli in der Rubrik „Politisches Buch“ von Hans-Martin Lohmann besprochen worden. Und ganze zwei Jahre vor der Reinhardt-Biographie besprachen etliche deutsche Feuilletons positiv und keineswegs etwa als unwissenschaftlich oder unseriös eine Machiavelli-Biographie von Ross King. Leicht hat offenbar seine Kritikeraufgabe im ersten Fall etwas Leicht-sinnig wahrgenommen (den Kalauer konnte ich mir nicht entgehen lassen, verzichte dafür auf einen zweiten im Zusammenhang mit der Verleihung des Karl-Hermann-Flach-Preises an Leicht, denn das war 1976). 2013 also Selbstrehabilitation.
Nun wird der ganz große, vom Italienischen herkommende und sogar den Wein „Il Principe“ aus Machiavellis Weinbergen kennende Experte ausgestellt, der den ein Jahr vorher vergessenen (oder unbekannten) Dirk Hoeges gleich zweimal beipflichtend zitiert. Man hätte mehr tun können: in der Rezeptionsgeschichte Machiavellis in Deutschland stehen wichtige Namen wie Georg Gottfried Gervinus, wie Johann Gottlieb Fichte, der 1807 eine eigene Schrift zum Florentiner publizierte. Wobei ich ganz persönlich, sehr persönlich, voreingenommen im besten und sonstigen Sinne, ja Egon Friedell nennen würde, wenn es um Niccoló Machiavelli geht. Knapper mit mehr Substanz hat niemand sich zu diesem Gegenstand geäußert. Basta. Was die Kurve zu „Belfagor“ nicht unbedingt elegant zieht, es wäre ja auch noch zu handeln über die „Discorsi“, die es in einer fast so schönen Kröner-Ausgabe gibt wie die „Geschichte von Florenz“ bei Manesse. Ich gestehe meine Verführbarkeit durch solche handlichen Bücher, nehme allerdings auch den genannten Fichte von Felix Meiner in Kauf mit seinem unbeschnittenen Buchblock. „Belfagor“ erscheint üblicherweise in der Schreibung „Belphegor“, wer danach sucht, hat gleich die halbe Stoffgeschichte mitgeliefert.
Rudolf Bestehorn schrieb einleitend zu seiner 1984 in Leipzig bei Dieterich veröffentlichen Sammlung „Italienische Erzähler von den Novelle antichi bis Gaetano Cioni“: „Dem großen Staatstheoretiker Niccoló Machiavelli verdanken wir als seine einzige Novelle die vom Erzteufel Belfagor, eine der besten und schönsten des Jahrhunderts. Von Boccaccio dürfte der Autor unabhängig sein. Das Motiv, das der Autor wahrscheinlich aus mündlicher Überlieferung kennengelernt hat, stammt aus dem Orient und tritt dort bereits in mehreren Erzählungssammlungen auf, hat aber erst durch Machiavelli eine wirklich künstlerische Gestaltung erfahren.“ Glauben wir das dem Herausgeber und freuen uns an der Tatsache, das einer, der mit zwei Schriften über Jahrhunderte die Debatten der Staatstheorie, der politischen Theorien mitbestimmt hat, wenngleich in einem Sinne, der mit dem Text seine Schriften nur sehr bedingt zu tun hat, nicht nur eine der bis heute besten Komödien Italiens geschrieben hat (es gab Goldoni und Gozzi dort!!), sondern eben auch eine Jahrhundert- Novelle. Seinen Pluto lässt Machiavelli sagen: „so habe ich doch beschlossen, weil es gescheiter ist, wenn die Gewaltigen sich den Gesetzen unterwerfen und der Meinung anderer ihr Recht einräumen“; ist das nicht Staatstheorie in reinster Prägung, in der Hölle?
Die Pointe der Novelle ist, dass der Teufel Belfagor am Ende lieber in seine Hölle zurückkehrt, als eventuell abermals in die Fänge seiner Gattin Onesta zu gelangen. Er lässt es geschehen, dass Giovanni Matteo ihn austrickst, dem er Reichtum versprach und brachte, weil er ihn vor seinen Verfolgern rettete. Im Haus seiner Frau verließen die Diener ihren Dienst: „nicht allein die menschlichen gingen weg, sondern auch die Teufel, die er in Gestalt von Dienern mitgebracht hatte, wollten lieber in die Hölle zurückkehren und im Feuer verweilen, als auf der Welt unter der Herrschaft dieses Weibes zu leben.“ Was wie eine unübertreffbare Anklage dessen klingt, was bisweilen tatsächlich „Ehehölle“ genannt wird, hat allerdings seine Tücken: Nur wer voraussetzt, dass die Teufel ihren Heimathafen Hölle selbst als Höchststrafe empfinden, der sie gern, und wenn auch nur auf Bewährung, den Rücken kehren würden, kann dieser Logik folgen. Ich glaube eher, dass Machiavelli nicht nur die Menschen sah, wie sie sind, nicht wie sie sein sollten, sondern auch die Teufel. Egon Friedell, nun zitiere ich ihn doch, hat eine einfach Erklärung für das und alles: „Er ist Politiker und nichts als Politiker und daher selbstverständlich Immoralist; und alle Vorwürfe, die ihm seit vier Jahrhunderten entgegengeschleudert werden, haben ihre Wurzel in dem Mangel gerade jener Eigenschaft, die er am vollkommensten verkörperte: der Gabe des folgerichtigen Denkens.“