Walt Whitman 200
Der erste, der Whitman-Gedichte ins Deutsche übertrug, soll Ferdinand Freiligrath gewesen sein. Wenn er der zweite war, wäre es auch nicht schlimm. Denn sagen will ich nur, dass eines der Gedichte, die er verdeutschte, den Titel „Die Flagge“ trägt und mit dem Vers beginnt: „Gebadet im Dufte des Krieges, - weichzarte Flagge du!“ Schlimmer geht nimmer, wäre die logische Reaktion, nur ist es eben Walt Whitman, der das schrieb. Es ist, als läse man die blutrünstigen Texte diverser Nationalhymnen bei Sport-Großereignissen im Untertitel und fragte sich, was an unserer denn da eigentlich so schrecklich sei, dass sie nicht mehr gesungen werden darf. Auch wer nur im Gedicht Kriegsschiffe mit Lust bemannen lässt, ist kein Friedensdichter. Oder nur ein Dichter der letzten Schlacht, die bekanntlich heilig sein soll? Tut mir leid, mit heiligen Schlachten, gleich zu welcher Jahreszeit, habe ich heftige Probleme. Whitman aber, der heute seinen 200. Geburtstag hat, der verkörpert doch diese Prophetenweisheit, die schon aus dem bekanntesten aller Bilder von ihm abgelesen werden kann: irgendwie zwischen Leo Tolstoi und Rabindranath Tagore! Man könnte ihn sich auch in einer athenischen Wandelhalle sitzend denken, diversen Vorübergehenden erbauliche Gespräche aufdrängend mit unvermeidlichen Erkenntnisgewinnen am versöhnlichen Ende.
Der dem Prophetischen in seinen jungen Jahren keineswegs abgeneigte Hermann Hesse schrieb schon 1904: „Whitman ist zwar längst in Europa bekannt, in Deutschland aber doch noch zu wenig. Es wird freilich wohl nicht mehr lange dauern, so baut man auch ihm Altäre, bekränzt sein Bild und schreit seine Schriften für Evangelien aus. Schon jetzt sind manche daran, allerlei aus ihm zu machen, was er nicht ist, z. B. einen großen Philosophen und Propheten neuer Lebensgesetze. Unsre kulturlose und gründlich unphilosophische Zeit hat ja keine Maßstäbe mehr und rennt schwärmerisch jedem echten oder falschen Propheten nach. … Die Nachwelt wird lang daran zu lachen haben.“ Und dennoch war sich Hesse sicher: „Der Verfasser der „Grashalme“ ist nicht der literarisch begabteste, aber der menschlich größte von allen amerikanischen Dichtern.“ Er schließt seine Betrachtung, die in der Münchner Zeitung vom 8. November 1904 erschien, so: „Wer zur rechten Stunde in dem Buche liest, findet etwas von Urwelt und etwas von Hochgebirge, Meer und Prärie darin. Vieles wird ihn grell und fast grotesk anmuten, aber das Ganze wird ihm imponieren, wie uns Amerika imponiert, wenn auch wider unsern Willen.“ Das Imposante an Walt Whitman hat etwas von Eiger-Nordwand: man sieht sie staunend von unten: oben das ewige Eis. Das ewige Eis.
Whitman selbst hat sogar über Edgar Allan Poe geschrieben. Und zwar auf eine sehr spezielle Weise. Er zitierte einen Artikel des „Washington Star“ vom 16. November 1875, der seinen Besuch in Baltimore schildert, anlässlich der Umbettung der sterblichen Überreste Poes. Er, der „Graubart“, sei keinesfalls bereit gewesen, irgendeine Rede zu halten und habe sogar bekannt, lange Zeit eine Abneigung gegen Poe empfunden zu haben. „Für die Poesie wünschte und wünsche ich immer noch die klar scheinende Sonne und die frisch wehende Luft – die Stärke und Macht von Gesundheit und nicht von Delirium, selbst mitten in der stürmischsten Leidenschaft – und stets mit dem Hintergrund immerwährender Tugenden. Diesen Forderungen hat sich Poes Genie nicht unterworfen, es hat jedoch eine besondere Anerkennung für sich erobert, und auch ich bin dazu übergegangen, sie vollständig zu akzeptieren, und schätze sie und ihn.“ Von den Dichtern seiner Zeit stellte Whitman dennoch Ralph Waldo Emerson an die Spitze. Und besuchte ihn im September 1881 in Concord: „Fast zwei Stunden lang saß er ruhig auf einem Platz, wo ich sein Gesicht im besten Licht sehen konnte, mir ganz nahe.“ Man sprach, kaum hätte es anders sein dürfen, über Henry David Thoreau, dem ich vor knapp zwei Jahren (JAHRESTAGE, 12. Juli 2017) einen kleinen Beitrag widmete.
Wäre nicht zur Frankfurter Buchmesse 2009 eine neue, erstmals vollständige Übertragung der „Leaves of Grass“, der „Grashalme“, bei Hanser in München erschienen, knapp 900 Seiten stark, von allen großen Feuilletons mehr oder minder ausführlich gewürdigt, müsste man fast 30 Jahre zurückgehen, um einen Ausschlag der Aufmerksamkeitskurve für Walt Whitman zu finden, der seinerseits Aufmerksamkeit erregt: es war 1992 der hundertste Todestag des Dichters, dem sich Gedenk-Artikel in größerer Zahl widmeten. Für die „Neue Zeit“, das die Wende 1989/1990 nur kurz überlebende Ex-Zentralblatt der Ost-CDU, immerhin für sein Feuilleton gemeinsam mit dem von „Neues Deutschland“ mindestens einmal auf gesamtdeutscher Ebene ausgezeichnet, zitierte Karl Bongardt (1925 – 2009) den amerikanischen Whitman-Biographen Henry Seidel Canby (6. September 1878 – 5. April 1961): „Wenn man erkennen will, was die alten Griechen unter Heroismus verstanden, muss man Homer befragen. Wenn man wissen will, was moralische Einheit dem Mittelalter bedeutete, dann muss man Dante lesen. Will man erkennen, was Aristokratie der englischen Renaissance bedeutete, muss man sich an Shakespeare halten. Und wenn man die Demokratie der Vereinigten Staaten im 19. Jahrhundert begreifen will, muss man Whitman lesen.“
Was wunderbar klingt und tatsächlich den Amerikaner in eine Reihe mit den größten Namen der europäischen Kulturgeschichte stellt, ist ein glattes Missverständnis. Weder Homer noch Dante noch Shakespeare haben Literatur für spätere Historiker geschrieben, nicht einmal für spätere Literaturhistoriker. Niemand kommt vernünftigerweise auf die verrückte Idee, zu den drei Heroen des geschriebenen Wortes zu greifen, um Heroismus, Moral oder Aristokratie zu studieren. Nicht einmal die Narren-Forschung erkennt in Shakespeare ihren Vorzugsgegenstand und Narren kommen bei ihm nun tatsächlich in auffallender Häufung vor. Was Bongardt einem Brief von Ralph Waldo Emerson an Whitman entnahm, klingt passender: „Für mich sind Sie das Außergewöhnlichste an Geist und Weisheit, das Amerika bis jetzt hervorgebracht hat.“ Deutsche Verehrung aus dem Jahr 1919 klingt dagegen so: „Dort hallt eines Psalmisten Stimme in ihrer Zauberkraft, das Gute im Menschen freizulegen und den liebenden Menschen zu verkündigen, Walt Whitmans strömende Überredung zur Güte. Untrüglich in edelster Diesseitigkeit, ganz hingegeben jedem Laut und Zeichen der kosmischen Beschwörung, enthusiastisch bejahend jede Aufgabe der Errichtung des Künftigen, beschwingt er den Anmarsch.“ Das schrieb ein euphorischer Max Hermann-Neiße.
Der Schlesier, der in London starb (23. Mai 1886 – 8. April 1941), und als Expressionist seine ersten Erfolge hatte, so auch die Psalmen Ludwig Rubiners (12. Juli 1881 – 27. Februar 1920) las, fand diesen „vom Winde Walt Whitmans umarmt“. Johannes R. Becher, einst selbst ein früher Expressionist, was ihm später aus verschiedenen Gründen eher peinlich war, resümierte 1947 in seiner ellenlangen Rede auf der ersten Bundeskonferenz des „Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“ nicht nur für seine einstigen Mitstreiter: „Zweifellos war der große amerikanische Dichter Walt Whitman in Deutschland kein Unbekannter. Aber was ihn für unsere Dichter so anziehend machte und von ihm übernommen wurde, war die Technik, die äußere Form: der freie Rhythmus der weit dahinschwingenden Langzeile, aber nicht der Geist des schöpferischen, streitbaren Demokratismus, wie er Walt Whitman auszeichnet.“ Wer Ohren hat zu hören, hört hier Bechers Abhängigkeit vom kulturpolitischen Zeitdogma, fast frisch aus Moskau importiert: es ist die Formalismus-Debatte mit ihrem Hintergrundrauschen, kombiniert mit der Expressionismus-Debatte aus gleicher Saat. Man lese Bechers Kleisthymne aus dem Jahr 1911 und finde den Pro-Domo-Teil dessen, was er am 21. Mai 1947 vortrug. Da konnte einer an sich selbst irre werden.
Auch Stefan Zweig, dem Expressionismus und seinem Pathos durchaus fern, verfällt ihm, wenn er 1912 in einem offenen Brief an Romain Rolland schreibt: „Sie wissen, dass Bewundern beglückt, dass man in jeder Hingebung sich nicht verliert, sondern zehnfach im Gefühl gewinnt, Sie fühlen jene Freudigkeit des Weltrausches, den Walt Whitman und Verhaeren in Verse gegossen haben und der heute freudig in der Jugend glüht.“ Dass Zweig in dieser Zeit gerade sehr intensiv mit dem Flamen Emile Verhaeren befasst war, sei hier nur erwähnt, seine Arbeiten zu ihm sind in der S. Fischer-Ausgabe „Gesammelte Werke in Einzelbänden“ enthalten. Als der Weltkrieg bereits im Gange war, verschob sich Stefan Zweigs Blickwinkel auf Whitman: „Walt Whitman ging als Soldat in den Krieg und wurde dort Krankenpfleger: nichts ist größer in seinem Leben als diese Wandlung, nichts schöner als seine Briefe aus jener Zeit.“ Nicht nur die Briefe Whitmans, auch seine Tagebücher geben Zeugnis der Jahre, die Zweig meint, eine handliche Ausgabe erschien 1990 im Leipziger Reclam-Verlag (RUB 1088). Weitere Arbeiten Zweigs zu Whitman, vor allem der Aufsatz zum 100. Geburtstag, nachlesbar im Sammelband „Zeiten und Schicksale“, oder „Das deutsche Walt-Whitman-Werk“ (Sammelband „Begegnungen mit Büchern“), seien hier nur erwähnt.
Gustav Landauer (7. April 1870 – 2. Mai 1919), vergessener Shakespeare-Experte, fast vergessener anarchistischer Sozialist, wieder gefeiertes Mitglied der Münchener Räteregierung 1919, sein 100. Todestag Anfang des Monats brachte ihm etwas frischere Publizität, schrieb 1907 einen Aufsatz „Walt Whitman“, da lebte er im Haus Schlossstraße 17 in Berlin Hermsdorf, worauf eine dort angebrachte „Berliner Gedenktafel“ hinweist. Darin findet sich dieser verblüffende Passus: „Es ist vergebliches Bemühen modischer Pseudowissenschaft, in diesen Kameradschaftsgefühlen irgend etwas Perverses oder Pathologisches oder gar Degeneriertes finden zu wollen. Wir müssen wieder lernen, dass starke Männer und starke Zeiten sentimental sind“. Für Landauer war vollkommen sicher, „dass er Amerikas größter Dichter und ein innig starker Lyriker für uns alle ist“. „Der Dichter also, der Walt Whitman in seinem Gefühl von sich selbst und seiner Aufgabe sein will, ist Priester, Prophet, Schöpfer.“ Whitman „scheint nur mit den Sinnen gedacht zu haben“. Was man unter den Arten zu denken freilich nicht zwingend als die vorbildlichste sehen muss. „Nichts drängt sich beim Lesen diese Gedichte so auf, wie das Gefühl der Unmittelbarkeit, der gänzlichen Abwesenheit der literarischen Reminiszenz und irgendwelchen Alexandrinismus.“ Glaubt Landauer.
Natürlich gehört Hermann Bahr in jede Sammlung seltsamer Sätze über Walt Whitman. Bahr (19. Juli 1863 – 15. Januar 1934), einst einer der einflussreichsten österreichischen Schriftsteller und Kritiker, malte sich in „Dalmatinische Reise“ aus, wie er einsamen Männern auf Leuchttürmen Bücher von Tolstoi und Whitman schenkt: „Nur diese Dichter, die den Menschen ganz ins All auflösen, in Licht und Luft, in Sturm und Flut, könnten sich hier erwehren.“ Und schrieb ein paar Seiten weiter: „Bei katholischen Prozessionen, wo Eros in allen seinen Gestalten mitgeht, spürt man das sehr stark. Alle Mysterien, von Eleusis bis Echternach, wurzeln darin. Alle Propheten haben es gewusst. Und es ist sonderbar, dass es in unserer Zeit nur einer gewusst zu haben scheint: Walt Whitman. Vielleicht der einzige bisher, der die Demokratie wirklich erkannt hat: als Erfüllung des Eros.“ In den „Essays“ schrieb er: „Whitman ist der erste Dichter seit Goethe, der der Kunst wieder ein neues Motiv gegeben hat. Alle anderen Dichter seit Goethe sind schon in Goethe enthalten. Whitman aber hat ein neues menschliches Gebiet entdeckt. Er stellt dar, was an Gedanken und Empfindungen und welcher neue Rhythmus im Menschen entsteht, wenn er aus der Absonderung in das Leben der Gemeinschaft tritt. Er hat den demokratischen Menschen für die Kunst entdeckt.“
„Für Padilla, erinnerte sich Amalfitano, gab es heterosexuelle, homosexuelle und bisexuelle Literatur. Romane waren im allgemeinen heterosexuell. Die Lyrik dagegen war durch und durch homosexuell. In ihren ozeanischen Weiten unterschied er mehrere Strömungen: Schwule, Schwuchteln, Schwestern, Tunten, warme Brüder, Trinen, Tucken und Epheben. Die beiden Hauptströmungen waren jedoch die der Schwulen und Schwuchteln. Walt Whitman, zum Beispiel, war ein schwuler Dichter. Pablo Neruda war eine Dichterschwuchtel. William Blake war ohne jeden Zweifel schwul, Octavio Paz eine Schwuchtel. Borges war ein Ephebe, das heißt, dass er mal schwul und mal bloß asexuell sein konnte.“ So beginnt der nachgelassene Roman „Die Nöte des wahren Polizisten“ von Roberto Bolano, den Martin Krumbholz 2013 für den Deutschlandfunk besprach. Im Vorübergehen ist da erwähnt, was noch zwei Jahre später Ruth Klüger auf ein, wie sie schrieb, „oft unterschlagenes“ Gedicht von Whitman aufmerksam machen ließ: „Stadt der Orgien“. „Erst in letzter Zeit“, so Klüger, „seit man unbefangen mit dem offenen Geheimnis, wie der Literaturwissenschaftler Heinrich Detering es genannt hat, umgeht, ist es möglich geworden, die Homoerotik als einen wesentlichen Bestandteil von Whitmans Dichtung wahrzunehmen.“
Konnte vorher Naiven allenfalls auffallen, dass es in Whitmans Leben außer der Mutter offenbar keinerlei Frauen gab? Informierteren Naiven natürlich nicht, denn die hatten etwa in der DDR in der Rubrik „Lesarten“ in „Neue Deutsche Literatur“ (NDL) des Schriftstellerverbandes bereits Jürgen Engler gelesen, der im Juni-Heft 1987 Whitmans Gedicht „Auf der Brooklyn-Fähre“ untersuchte und dabei, nicht wirklich versteckt, die damals „umstrittene Frage“ erörterte: „War Whitman homosexuell?“ Engler nannte als Gegenstimme Gustav Landauer (siehe oben), als Für-Stimme Hans Mayer mit seinem Buch „Außenseiter“, für DDR-Leser freilich nicht greifbar. Da Mayer seine eigene Homosexualität nicht per Outing öffentlich machte, waren bezügliche Erörterungen von ihm immer auch etwas kryptisch. In einem Essay „Liebe in dunklen Zeiten“ hat der Ire Colm Tóibin versucht, einen schwulen Kanon zu begründen, die Zeitschrift „Literaturen“ druckte ihn in deutscher Erstübersetzung. Whitman gehört für Tóibin ganz selbstverständlich dazu. Es wäre ein Sonderthema, der Art des Umgangs mit dieser Tatsache nachzugehen. Der Amerikaner Carl Morse hat sich 1996 in der „taz“ damit beschäftigt. Er hatte herausgefunden, dass es noch in den vierziger Jahren im US-Staat Maine verboten war, Whitman zu unterrichten, es sei noch immer so. Bis heute?
Zum 100. Todestag Whitmans gab es in Paris eine große Ausstellung. Für den „Freitag“, damals noch ohne Kleinschreibung, war Elke Heinemann dort, deren Rubrik „Auszeichnungen“ bei WIKIPEDIA länger ist als die Liste ihrer Werke. Sie sah dort Dokumente wie den schon erwähnten Brief Emersons an Whitman, sie sah das schmale Quartbändchen der ersten Ausgabe der „Grashalme“, das 1855 zwei Dollar kostete, bis 1881 folgten immer neue, immer erweiterte und veränderte Ausgaben, die von 1881 ist das geworden, was man „Ausgabe letzter Hand“ nennt. „... seine spirituelle Sehkraft und sein panisches Einvernehmen mit der zeichenhaften Natur garantieren für eine Lyrik höherer Ordnung“, so Heinemann. Und wenige Zeilen später: „So ertönt die Poesie einer globaldemokratischen Utopie, das Hohelied der Gleichberechtigung alles Rassen und Geschlechter, der antikische Lobgesang auf männliche Kameradschaft und körperliche Liebe.“ Eine eigene Gender-Seite hatte der „Freitag“ damals noch nicht, „Lobgesang auf männliche Kameradschaft“ klingt eher wie 1907 als wie 1992. Immerhin erkennt sie, dass Whitmans Dichtung in Lyrik und Prosa „nur zum Teil das Ergebnis naiver Empfindsamkeit war“, zum anderen aber im Lichte Emersons entstand. Vom Verhältnis zwischen Lyrik und Prosa bei Whitman sagt sie nichts.
Da hilft es, bei einem Mann nachzulesen, den man auf die ersten beiden Blicke weder mit US-Lyrik allgemein noch mit Walt Whitman speziell in Verbindung bringt: es ist der hochberühmte Italiener Cesare Pavese (9. September 1908 – 27. August 1950). Und doch stammt von ihm ein imposanter Essay über Whitman, der Neugier weckende Untertitel: „Dichtung über das Dichten“, zuerst 1933 gedruckt in „La Cultura“, später unter dem Titel „Die Entdeckung Amerikas“ mit Beiträgen u. a. über Sinclair Lewis, Sherwood Anderson, Herman Melville, John Dos Passos, Gertrude Stein vereint. Vielleicht musste man so jung sein wie Pavese, um so präzise und vor allem nüchtern auf das Welt-Phänomen Whitman zu blicken. Nüchtern könnte tatsächlich das bessere Prädikat sein als vorurteilslos, denn Vorurteilslosigkeit kommt selbst ab und zu als Vorurteil daher. „Allzu häufig, so scheint mir, haben die Kommentatoren Walt Whitman als den bärtigen uralten Greis vor Augen, der dem Schmetterling nachschaut und in dessen sanften Blicken die Abgeklärtheit gegenüber aller Freude und allem Elend dieser Welt steht.“ So beginnt Pavese und sieht klar den Kontrast zwischen dem weißen Bart und den Gedichten „Calamus“, „die er im Alter zwischen fünfunddreißig und vierzig Jahren geschrieben hat, und die von jugendlicher Gesundheit und Lebensfreude vibrieren.“
Natürlich wagt auch Pavese nicht, unmissverständlich zu sagen, wovon gerade die genannten Gedichte wirklich vibrieren. Als Hillary Clinton 2009 gemeinsam mit Sergej Lawrow in Moskau auf dem Gelände der Universität ein Whitman-Monument enthüllte, die Gegengabe für ein Puschkin-Monument in Washington, sahen Medien reflexartig darin auch ein Signal in Richtung des bekennend homophoben Moskauer Bürgermeisters Juri Luschkow. Pavese formuliert immer wieder Befunde, die, auf andere Dichter bezogen, nur einen Schluss erlaubten: gute Lyrik sei das nicht. Ein angeschlagenes Motiv wird nicht weiter verfolgt, Verse, die am Ende stehen, könnten auch in der Mitte oder am Anfang stehen, Verse könnten ohne Verlust auch als Prosa geschrieben werden (umgekehrt: die Kleinprosa der Tagebücher auch als Verse). Es ist eine Beliebigkeit da, die einem einzigen Gesetz folgt, das aber keines ist: dem Willen des Schreibenden. Pavese periodisiert das Schreiben Whitmans gar in die primär lyrische und die primär prosaische Phase, was freilich nur möglich ist, weil er vieles einfach ausklammert. Dass Whitman als Journalist arbeitete, mag noch aus verständlichen Gründen beiseite geschoben sein, dass er aber auch einen Roman verfasste, ist unabhängig von der Qualität dieses Romans nicht einfach zu ignorieren. Auch der Essayist nicht.
Es kann deshalb an dieser Stelle der Hinweis nicht unterbleiben, dass Karl-Heinz Schönfelder, einer der beiden Verfasser von „Literatur der USA im Überblick“ (Reclam Leipzig, RUB 373), einen scheinbar anderen Walt Whitman kannte als alle, die hier schon zu Wort kamen. Auch wenn man, formfixiert, dem Stofflichen im Westen traditionell (in der Theorie dann freilich mehr als in der Praxis) nur untergeordnete Bedeutung beimisst, kann man, da bin ich an der Seite Schönfelders, den ich sonst nicht übertrieben mag, das Stoffliche nicht ausklammern. Wo Whitman dort Neuerer war, soll er auch als solcher gekennzeichnet werden. Schönfelder benennt die Sexualität zuerst, nicht etwa die Homosexualität, die er zwar nicht ausdrücklich bestreitet, aber auch nicht einfach gelten lässt. Dann „werden erstmals in der amerikanischen Lyrik die Arbeit, körperlich schaffende Menschen, Produktionsmittel, Werkzeuge, technische Errungenschaften und das praktische, alltägliche Leben besungen.“ Whitmans „Democratic Vistas“ scheint von allen, die ich zitierte, gar Schönfelder allein überhaupt gelesen zu haben. Das Thema kann hier keineswegs ausgeschöpft werden. Wobei natürlich auf der Hand liegt, dass Cesare Paveses Formel „Walt Whitman ist der Dichter der Entdeckung“ alle seine Entdeckungen einschließt, in Lyrik oder in Prosa verwandelt.
Vor allem auf das Langgedicht „Song of Myself“ bezogen, kommt Pavese zu der sehr wichtigen Erkenntnis: „Es handelt sich um eine Abfolge von Gedanken, die vor Fülle bersten, einer Fülle, die durch die Identifizierung des Myself mit allen Dingen dieser Welt entstanden ist. Entscheidend ist die Freude an der schrittweisen Entdeckung dieser Gedanken, nicht ihr logischer Wert ist von Bedeutung.“ Und das, was er Päderastie nennt, kann und will er auch nicht einfach ausklammern. Aber er begründet seine Vorsicht: „Übrigens ist es wegen der Zurückhaltung und der unbeholfenen Anspielungen puritanischer Literaten eine Hundearbeit, diesem Verdacht nachzugehen.“ Wer sich nicht ganz davon lösen kann, Homosexualität als Frage der Moral oder der Justiz anzusehen, sollte lieber von dieser Art Hundearbeit Abstand nehmen. Und sich möglichst seine Verkniffenheit verkneifen. Womit wir endlich und abschließend zu John Updike kommen. Der hielt am 4. Oktober 1977 in der Pierpoint Morgan Library in New York einen Vortrag mit dem Titel „Whitmans Egotheismus“ (nachzulesen in seiner Essay-Sammlung „Amerikaner und andere Menschen“ und allen dringend zu empfehlen, die nicht bei ihrem Rabbit-Updike stehen bleiben wollen). Updikes Fähigkeit, von der Lyrik Walt Whitmans zu reden, ist rundweg eine verführerische Überraschung.
Natürlich liest man heute das folgende Emerson-Zitat, als meinte es einen Präsidenten im Weißen Haus, der im Halbtagestakt nationale Notstände ausruft, Weltfrieden und Weltwirtschaft bedroht und sich zugleich öffentlich als das größte lebende Genie bezeichnet: „... wenn der einzelne Mensch sich unbesiegbar auf seine Instinkte verlässt und dort ausharrt, wird sich die große weite Welt zu ihm bemühen … Zum ersten Mal wird es eine Nation von Männern geben ...“. Trump könnte sich, ein böser Hintertreppenwitz der Geschichte, nicht unberechtigt auf Ralph Waldo Emerson berufen. Dessen Brief an Whitman, hier schon erwähnt, die Reaktion auf die Zusendung der Erstausgabe der „Grashalme“ darstellt, „mit der großzügigsten und am weistesten vorausschauenden Lobeshymne in der amerikanischen Literaturgeschichte“. Updike erfindet den Terminus „Demokratie der Reize“, schlicht und einfach grandios, sie „erlaubt Whitman unendliche Kataloge voll der wunderbarsten und überraschendsten Anordnungen sowie eine unerwartete Zärtlichkeit in der Exaktheit“. Darauf muss man kommen, Literaturhistoriker könnten das in 102 von 87 Fällen niemals. Sie würden wohl auch kaum jenen Passus bei D. H. Lawrence herausgreifen, der sich in dessen Whitman-Essay findet („Überlegungen zum Tod eines Stachelschweins. Essays“, Reclam Leipzig, RUB 1427).
Er lautet: „Sobald Walt ein Ding nur kannte, wurde er schon eins mit ihm. Sobald er wusste, dass der Eskimo in einem Kajak saß, wurde Walt auf einmal klein, gelb und schmierig und saß in einem Kajak.“ Ein Professor, der dies heute an einer amerikanischen Universität verkündete, müsste sich bald ein neuen Job suchen, die junge universitäre Correctness-Mafia, die von den USA ausgehend dabei ist, die Freiheit der Forschung für immer zu beerdigen, würde dafür sorgen. Updike aber hatte vermutlich sein Sondervergnügen, den sonst bestenfalls mit „Lady Chatterley“ in Verbindung zu bringenden Lawrence gerade damit zu zitieren. Updike zitiert natürlich auch Whitman selbst: „Wer auch nur eine Achtelmeile ohne Mitgefühl geht, geht, angetan mit einem Leichentuch, zu seinem eigenen Begräbnis.“ Und schloss seine Bibliotheks-Rede so: „Wenn es einen spezifischen amerikanischen Realismus gibt, findet sich die Metaphysik dazu bei Whitman.“ Man könnte darüber nachdenken, warum Updike den amerikanischen Realismus in Anführungszeichen setzte, wie man über manches weiter nachdenken könnte oder sogar müsste. Auch darüber, ob Walt Whitman recht hatte, als er er schrieb: „Die Haltung großer Dichter muss sein, dass sie Sklaven aufheitern und Despoten erschrecken.“ Ohne Sklaven und Despoten also nie mehr große Dichter?