Robert Musil und der Bremsweg
Meine heutige Zeitung erfreut mich auf der ersten Sportseite mit der Überschrift: „Eisenach stark dank Musil“. Die Platzierung auf der Sportseite in Kombination mit dem Stadtnamen Eisenach verführt mich selbst an einem Montag mit Schneekrümeln zu mittlerer Wehmut. Denn dieser Musil, Keeper bei ThSV Eisenach, der binnen 21 Minuten nur drei Gegentreffer zuließ, was auf die Sportart Handball deutet, die jedoch nicht eigens erwähnt wird, weil solche Sportseite eben auf Insider setzt und nicht Ahnungslose, die glauben, drei Tore in 21 Minuten wären ein Grund, den Torhüter für immer auszuwechseln, dieser Musil heißt nicht Robert. Er hat wohl auch einen Vornamen und ich gehe optimistisch davon aus, der laute nicht Keeper.
Ein anderer Musil, daher die Wehmut, ist gestern vor genau siebzig Jahren in Genf gestorben. Man kann nicht sagen, dass er da schon nur annähernd so berühmt war, wie er es zehn Jahre später wurde. Aber es gab Menschen, die bereits 1930 so begeistert von ihm waren, wie nur irgendwer von irgendwem. Ludwig Marcuse zum Beispiel, auf den ich immer wieder zurückkomme, bis mir eines hoffentlich unendlich fernen Tages die Feder aus der Hand fällt, respektive der Gichtfinger sich nicht mehr über der Tastatur krümmen will. Marcuse also: „Dieser Musil ist kein Buch zum Lesen, sondern zum Wiederlesen; man kann ihn nicht verschlingen, dafür nährt er seinen Leser.“ Und etwas weiter: „Musils Buch ist eins der männlichsten, eins der geistigsten, eins der gewalttätigsten, eins der revolutionärsten Bücher, die je geschrieben worden sind.“
Den Freunden des Revolutionären, soweit sie es in staatliche Form gegossen wähnten und es der Einfachheit halber real existierenden Sozialismus nannten, hat Musils Revolutionäres irgendwie schräg im Hals gesteckt. Wohl gab es dann eines schönen Tages tatsächlich eine insgesamt fünfbändige Ausgabe in der DDR, aber der Umgang damit war erschwert. Es wäre eine eigene Geschichte zu erörtern, wie noch kurz vor dem Zusammenbruch des ummauerten Kleinstaats ein verdruckster Kurzbiograph namens Rönisch es vermied, auch nur einen Satz über die pure Erwähnung hinaus über jene beiden Männer zu verlieren, die immerhin in DDR-Publikationen ein mehr als nur respektables Musilbild verbreitet hatten. Zuerst 1957 der österreichische Kommunist Ernst Fischer, der unter die Revisionisten fiel und also in ewige Ungnade, dann der 1932 geborene Krypto-Kommunist Rolf Schneider, der unter die Biermann-Petitionisten fiel und damit in nicht ganz so ewige Ungnade.
Ludwig Marcuse liefert dankenswerterweise in seinem „Hinweis auf ein Meisterwerk“ überschriebenen Beitrag für „Das Tagebuch“ Nr. 49, 1930, gleich noch eine prägnante Polemik zum Umgang mit Meisterwerken mit: „Weshalb ist die Aufnahme aller Meisterwerke eine schwere Arbeit? Weil sie nicht mit einem Blick zerblickt, mit einem Hören zerhört, mit einem Denken zerdacht werden können; weil sie dem zupackenden Kunst-Fresser Widerstand entgegensetzen.“ Ist das nicht von hoher Feinheit? Verehrte Kunst-Fresser?? Verehrte Zerdenker?? Die Rede ist, für die zwei unter meinen 6327 Usern sei es gesagt, die das nicht sofort und umstandslos wissen, von Musils Jahrhundert-Romanfragment „Der Mann ohne Eigenschaften“, dessen Hauptfigur Ulrich heißt und trotzdem nicht aus diesem Grund ein Hauptereignis im deutschsprachigen Literaturraum wurde. Und schon verlassen wir diesen Dreibänder, weil heute Montag ist und Zeit Geld.
Robert Musil hat im Juli 1924 in „Der neue Merkur“ einen Aufsatz veröffentlicht mit dem Titel „Der „Untergang“ des Theaters“. Man müsste ihn heute spaßeshalber in allen wichtigen Feuilletons nachdrucken und dabei den Verfasser und das Entstehungsjahr verschweigen. Vermutlich würde der Text als brandaktueller Beitrag zur Debatte um den, hihi, Kulturinfarkt gelesen. Infarkte sind, wer einen hatte und noch lebt, weiß das bestens, durchaus behandelbar und sie haben für die herrschende Pharmaindustrie den wunderbaren Nebeneffekt, Kunden für Langzeit- und Dauermedikationen zu gewinnen, die das Blut verdünnen, das Blutfett senken und das Gehör für Blödsinn schärfen, was in der Liste der unerwünschten Nebenwirkungen meist nicht eigens erwähnt wird. Das reine und vollständige Gegenteil von Blödsinn ist, was dieser alte Österreicher schrieb:
„Natürlich hat in unserer Generation jedes Kind gewußt, daß auch Bühnen Geschäftsunternehmen sind; aber scheinbar sagte es früher sowenig über das Wesen des Theaters aus, wie es über die Eigenschaften eines Körpers aussagt, daß man weiß, er muß eine räumliche Ausdehnung besitzen. Es kam davon, daß unsere Theater ihre Geschäfte im Namen der Kultur machten, oder richtiger gesagt, daß die bürgerliche Gesellschaft das Theater als ein Kulturinstitut ansah und mit Worten und halben Einrichtungen (wie es die Staats- und Stadttheater sind) begönnerte, in der Hauptsache aber, wie es schon ihre Art ist, dem freien Marktverkehr überließ.“ Man muss hier für einen Augenblick das „begönnerte“ und das „wie es schon ihre Art ist“ kursiv und fett gesetzt denken. Ist das nicht traumhaft prägnant gesagt? Ersetzt es nicht drei Pfund Infarkt-Sülze??
Robert Musil (1880 bis 1942) war nicht nur ein unglaublich gebildeter, ein systematisch gebildeter Kopf, er war, war nicht identisch mit dem ist, auch ein eminent kluger Kopf. Er war so klug, dass er nicht fertig werden konnte mit dem, was er begann, wenn es so ehrgeizig war wie „Der Mann ohne Eigenschaften“. Dafür fehlte ihm, wird ihm angekreidet, die künstlerische Phantasie. Die wird jedoch von allen den Menschen überschätzt, die es für Phantasie halten, wenn ein Kind mit Wasserfarbe blaue Pferde malt oder eine grüne Sonne. Ich halte es ganz dezidiert für gegeben, dass eine geniale Sichtweise eine eigene sinnliche Qualität hat und weil hier von Musil die Rede ist, soll es an ihm demonstriert werden. Im ersten Abschnitt des Romanfragmentes wird von einem Unfall berichtet, bei dem ein Mann zu Schaden kommt. Eine Dame und ihr Begleiter, die es beobachteten, treten heran. Und jetzt kommt diese Beschreibung:
„Die Dame fühlte etwas Unangenehmes in der Herz-Magengrube, das sie berechtigt war, für Mitleid zu halten, es war ein unentschlossenes, lähmendes Gefühl. Der Herr sagte nach einigem Schweigen zu ihr: „Diese schweren Kraftwagen, wie sie hier verwendet werden, haben einen zu langen Bremsweg.“ Die Dame fühlte sich dadurch erleichtert und dankte mit einem aufmerksamen Blick. Sie hatte dieses Wort wohl schon manchmal gehört, aber sie wußte nicht, was ein Bremsweg sei, und wollte es auch nicht wissen; es genügte ihr, daß damit dieser gräßliche Vorfall in irgend eine Ordnung zu bringen war und zu einem technischen Problem wurde, das sie nicht mehr unmittelbar anging.“ Hier ist, ich stehe nicht an, es zu behaupten, in schwer zu überbietender Verdichtung ein Ur-Phänomen menschlichen Existierens in der Welt in Worte gefasst. Es ist verdichtet, wiederhole ich, damit ist zugleich literarische Kernsubstanz erwiesen, die Dichtung von Schwafel unterscheidet. Von welcher Phantasie wäre da noch zu reden, die vermeintlich fehlt?
Immer, und damit komme ich zum Ende, wenn künftig im Fernsehen ein Experte für Nahost, Fernwest, Hintertupf oder Oberbimmm mir ernsten und wissenden Gesichtes mitteilt, worum es sich jeweils seines Wissens handelt und er benutzt dabei den bis dato nie gehörten Namen für eine Brigade, eine Splitterreligion, eine Volksgruppe oder einen Mythos aus der Keilschriftzeit, dann weiß ich, jetzt tritt das Bremsweg-Phänomen in Wirkung, die Dame lehnt sich zurück, der Herr nicht minder, denn jetzt haben die Scholl-Latours dieser Achsenzeit etwas in irgendeine Ordnung gebracht, die mich nichts mehr angeht. So jedenfalls, glaube ich, hat es Robert Musil gesehen.