Hans Bender 100

Mit allem, was zu Hans Benders runden Geburtstagen geschrieben und gedruckt worden ist, kann man ein solides Buch füllen, man könnte dabei sogar die „Briefe an Hans Bender“ ausklammern, die 1984 unter redaktioneller Mitarbeit von Ute Heimbüchel von Volker Neuhaus herausgegeben wurden, Anlass der 65. Geburtstag am 1. Juli 1984. Sie haben tatsächlich Sonderstatus, sind eine Festschrift eigener Art, weil sie, wie der Titel verrät, Briefe an Bender versammeln, begonnen mit einem Gruß von Wolfgang Cordan (3. Juni 1909 – 29. Januar 1966), einem heute vergessenen Schriftsteller, der sich im Exil am Widerstand gegen die deutsche Besatzung in Holland beteiligte, endend mit Heinrich Böll, der allen Unkenrufen zum Trotz doch noch nicht ganz vergessen ist, auch wenn der Zeitgeist heftig daran arbeitet. Der Leineneinband des Buches zeigt handschriftliche Anreden im Faksimile und die Schreiber-Namen sprechen für sich: es sind, neben den beiden schon genannten Namen Günter Grass, Paul Celan, Martin Heidegger, Gottfried Benn, Peter Handke, Günter Eich, Helmut Heißenbüttel, Martin Walser, Walter Höllerer, Thomas Bernhard, Kurt Pinthus, Nelly Sachs und Rose Ausländer. Das Register der Briefschreiber hinten kann mit nur wenig Übertreibung ein „Who is who“ der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur genannt werden. Aus der 1984 noch existierenden DDR sind vertreten: Erich Arendt, Johannes Bobrowski, Stephan Hermlin, Peter Huchel, Günter Kunert, Reiner Kunze, Kunert auch mit der Illustration „Kunerts Katze grüßt Hans Benders Katze“, signiert 1971, die jeder Kunert-Freund auch ohne Signatur sofort erkennt.

Damit ist, aus DDR-Perspektive, auch schon fast alles gesagt, was zu Hans Bender zu sagen wäre. Denn die DDR, die offizielle DDR, mochte diesen Autor nicht. Man sucht vergebens in den doch immerhin vorhandenen Anthologien, die erst noch „westdeutsche“, später „Literatur der BRD und Westberlin“ versammelten. Frühe Ausnahme: ein seltenes Buchdokument ost-westlicher Verlags-Kooperation mit dem Titel „Deutsche Stimmen 1956. Neue Prosa und Lyrik aus Ost und West“, gemeinsam ediert vom Kreuz-Verlag Stuttgart und dem Mitteldeutschen Verlag Halle/ Saale. Die spätere und meiner Kenntnis nach schon letzte Ausnahme für Benders Prosa: „Erkundungen. 19 westdeutsche Erzähler“ (Verlag Volk und Welt Berlin 1964). Ein ebenfalls aus dem Jahr 1956 stammendes Dokument ist die von Jens Gerlach herausgegebene Lyrik-Anthologie des Verlags Neues Leben Berlin mit dem schlichten Titel „Anthologie 56. Gedichte aus Ost und West“. Hier ist Hans Bender mit den drei Gedichten „Abschied“, „Im Tabakfeld“ und „Oktoberende“ vertreten. Interessanter ist natürlich, weil verräterisch, dass in beiden Prosa-Anthologien „Iljas Tauben“ zu finden ist, eine frühe Kurzgeschichte Benders, dazu in den „Erkundungen“ noch „In der Gondel“. Herausgeber Werner Liersch entnahm beide Texte der 62er Sammlung „Auf dem Postschiff. 24 Geschichten“, Reihe „Bücher der neunzehn“ des Münchner Hanser-Verlages. Unerwähnt blieb die erste separate Geschichten-Sammlung „Wölfe und Tauben“, ebenfalls Hanser München (1957).

Woher die augenfällige Enthaltsamkeit rührte, verrät Band 12 des größten Einzelprojekts der DDR-Literaturgeschichtsschreibung, der Band „Geschichte der deutschen Literatur. Literatur der BRD“, Volk und Wissen Volkseigener Verlag Berlin 1983. 639 gedruckte großformatige Seiten nennt Hans Bender insgesamt nur sechsmal, zuerst als Herausgeber der Literaturzeitschrift „Akzente“ zweimal (gemeinsam mit Walter Höllerer), dann einmal im Bild, bevor der Roman „Wunschkonzert“, der Erzählungsband „Wölfe und Tauben“ sowie die Geschichte „Ilja Tauben“ Erwähnung finden, einmal als Förderer der Lyrikerin Rose Ausländer. Die sechste Namensnennung fällt schon in den Anmerkungsapparat. Was erfahren wir über Hans Bender? „Ein charakteristisches Beispiel für die mögliche Diskrepanz zwischen dem tiefen Ausloten von Details in der kleinen Form, das über wesentliche Zusammenhänge Aufschluss gibt, und dem Verfehlen der historischen Wahrheit in der großen Form bietet das Schaffen Hans Benders (geb. 1919). Während er mit seinem Roman „Wunschkost“ (1959), trotz bekundeter Absicht, den tendenziösen Machwerken über Kriegsgefangene in der Sowjetunion nicht Gültiges entgegenzustellen vermochte, gewann in manchen seiner Erzählungen der schlichte beschriebene Einzelvorgang exemplarischen Wert. Ein überzeugendes Beispiel ist die Kurzgeschichte „Iljas Tauben“ aus Benders erstem Erzählungsband „Wölfe und Tauben“ (1957). Mehr nicht: nicht über den Roman, nicht über die Geschichte.

Dabei wäre es wichtig zu hören, was denn nun an dem Roman „Wunschkost“ des Spätheimkehrers Bender die historische Wahrheit aus DDR-Sicht, die ja besonders in diesen Zusammenhängen stets kopierte Sowjet-Sicht war, verfehlte. In den Kurzgeschichten, die Krieg und Gefangenschaft thematisieren, findet sich nichts, aber auch rein gar nichts, was man als antisowjetisch, gar böswillig verleumderisch gegen die „Befreier“ lesen könnte. Umgekehrt ist es bezeichnend, dass die am häufigsten genannte Bender-Geschichte „Die Wölfe kommen zurück“ in der DDR ignoriert wurde, obwohl sie immer neu nachgedruckt wurde (2004 auf bereits als 69 deutschsprachige Publikationen angewachsen und neun Übersetzungen), obwohl sie Schullektüre war und mit gar nicht so viel Mühe gelesen werden kann als Geschichte einer Versöhnung zwischen eben noch einander hassenden Kriegsgegnern. Freilich enthalten alle Kurzgeschichten Benders, die Krieg und Gefangenschaft als Stoff behandeln, ganz unspektakulär und ohne jede spezielle Akzentuierung im Sinne eines „kalten Krieges“, Details, die es für Leseraugen aus der DDR nicht geben durfte: da mal Schläge, dort eine mutwillig Verletzung eines deutschen Gefangenen mit einem sowjetischen Bajonett, die tödlich ausgeht, weil unbehandelt. Und dann natürlich die Geschichte vom Versuch, einen Gefangenen gegen den anderen als Spitzel zu rekrutieren, jeder wissende DDR-Leser wäre hierin der quasi klassischen Technik der IM-Werbung des Ministeriums für Staatssicherheit konfrontiert worden, genauer: der Schule, in die diese gegangen ist („Der Brotholer“).

Die Konstellation gibt es sehr ähnlich auch in „Wunschkost“, dem Roman, den niemand als Roman akzeptieren will. Dann doch lieber die schöne, verglichen mit den Kriegsgeschichten geradezu aggressiv harmlose Geschichte „In der Gondel“, in Venedig handelnd und voll feiner Psychologie. Mich als leidlich guten Venedig-Kenner haben die paar Seiten sogar ein wenig geärgert, obgleich es natürlich eine Information ist, dass es Zeiten gab, da man für eine mehrstündige Gondelfahrt 3000 Lire zahlte. Unwahrscheinlich schien mir zunächst auch, dass ein Gondoliere sich nach drei Jahren noch an einen Fahrgast und gar dessen Namen erinnern kann. Bis ich verstand, dass aus genau jener Gondelfahrt die jetzige Ehe des Gondoliere erwuchs. Bei alledem in dieser und einer weiteren Geschichte die Hans Bender offenbar wichtige Auffälligkeit, dass ein gut italienisch sprechender und verstehender deutscher Mann mit einer hilflosen und nichts verstehenden deutschen Frau unterwegs ist, was, ohne dass der Autor auch nur die Spur einer erklärenden Deutung gibt, zeigt und vorführt, wie daraus weibliche Aggression wächst, kleine Eifersucht. Die oben behauptete Fülle der Stimmen zu Benders runden Geburtstagen hat, neben Werk und Wirkung dieser gerade nicht marktgängigen Produktion, eine höchst profane Ursache. Hans Bender erlebte nach seinem 65. Geburtstag am 1. Juli 1984 noch den 70., den 75., den 80., den 85., den 90. und schließlich sogar den 95. Geburtstag. Er starb erst am 28. Mai 2015, knapp 96 Jahre alt.

Volker Weidermann schrieb in seinem kleinen Nachruf für den SPIEGEL: „Er war ein Sammler und Versammler, einer, der sich kleinmachte, um andere großzumachen. Ein Ermutiger und Ermöglicher, einer der seltenen Fälle in der Welt der Literatur, in denen jemand die anderen wichtiger nahm als sich selbst.“ Das ist insofern eine bemerkenswerte Charakteristik, als Weidermann noch wenige Jahre zuvor in seinem vielleicht sogar auch deshalb umstrittenen Buch „Lichtjahre. Eine kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute“ Hans Bender mit keinem einzigen Wort erwähnte. Michael Krüger, langjähriger Leiter und auch Geschäftsführer des Hanser-Verlages, begann sein knappes Nachwort „Drei Striche zu einem Porträt“ zu dem Band „Postkarten aus Rom. Autobiographische Texte“ von Hans Bender (München 1989) mit diesem Satz: „Wenn man am Ende der Welt einen Kenner der deutschen Literatur trifft, wird man mit ziemlicher Sicherheit nach Hans Bender gefragt.“ Ilka Scheidgen (Jahrgang 1945) begann ihren Bericht anlässlich des 90. Geburtstages so: „Es ist erstaunlich: Hans Bender ist ein Mensch, der einfach nicht zu altern scheint.“ (Ilka Scheidgen: Zu Besuch bei Hans Bender und Arnold Stadler, Norderstedt 2017). Alle Darstellungen von Theorie und Geschichte der Kurzgeschichte verzeichnen Hans Bender als Klassiker des Genres, als Meister der Kurzgeschichte und verweisen mit der schönsten Selbstverständlichkeit auf seine „Ortsbestimmung der Kurzgeschichte“ von 1962.

Nur ein Satz daraus sei hier zitiert, den auch andere schon zitiert haben: „Die Kurzgeschichte ist gleisnerisch, sie opalisiert. Sie wechselt je nach der Örtlichkeit und dem Klima ihre Farbe. Sie ist das Chamäleon der literarischen Gattung, ein sensibles Reptil, das sich in die Farbe seiner Umgebung tarnt.“ Die Reihe der Gewährsmänner, mit denen Bender argumentiert, beginnt bei Johann Peter Hebel und dessen Kalendergeschichten, führt unter anderem über Tschechow bis zu den Amerikanern Hemingway, Scott Fitzgerald. Er selbst hörte irgendwann auf, Kurzgeschichten zu schreiben, fast synchron mit den anderen Autoren und Autorinnen, die die ersten anderthalb Nachkriegs-Dekaden zur Hoch-Zeit der Kurzgeschichte machten. Doch ging er nicht, wie die meisten, zur marktgängigen Roman-Produktion über, die das zweite Chamäleon der literarischen Gattung wäre, so extrem verschieden ist alles das, was mit dem gleichen Etikett ins Rennen um die wichtigen Preise geht alljährlich, die eben fast ausschließlich für Romane vergeben werden. Bender hat sich an diesem Ferkel-Rennen nie beteiligt, stattdessen hat er aber etwas kultiviert, was er mit dem tückisch simplen Wort „Aufzeichnung“ etikettiert, diese damit fast schon selbst in ein Genre verwandelnd und hebend. Bücher, die Aufzeichnungen versprechen, können meist ohne Umwege in die Zweitverwertungskette eingespeist werden, Arbeit für den Stempel „Mängelexemplar“.

Was war aber nun eigentlich mit „Iljas Tauben“? Im vereinten Deutschland gehören sie noch immer zum Unterrichtsstoff der neunten bis zwölften Klassen, wie die Arbeitsblätter „Literaturtest zu der Kurzgeschichte „Iljas Tauben“ von Hans Bender“ beweisen. Dort gibt es Fragen und je drei Antworten, aus denen die Schüler wählen können, das erspart unnötiges Wissen und hält immer noch eine dreiundreißigprozentige Trefferwahrscheinlichkeit parat für vollkommen Ahnungslose. Was natürlich keinesfalls gegen Hans Bender spricht. Der unglücklicherweise auch noch einen Mann wie Friedo Lampe zu seinen größten Vorbildern rechnet. Lampe (4. Dezember 1899 – 2. Mai 1945) schrieb so wenig, das noch die Ausgabe „Das Gesamtwerk“ (erstmals 1955) nicht mehr als 330 Druckseiten umfasst. In „Iljas Tauben“ erzählt ein Offiziersbursche von der Leidenschaft seines Leutnants für gebratene Tauben, die ihm am Ende das Leben kosten, wenn man die Pointe so deuten mag. „Wenn wir durch die Dörfer marschierten, und auf einem Dach oder in der Luft zeigte sich eine Taube, schoss er sie ab.“ Der Bursche macht sich wenig Gedanken: „Haben andere Soldaten, die vorher da waren, sich nicht auch geholt, nach was sie Lust hatten? Schließlich ist Krieg?“ Das passt zum Bild des Krieges der Deutschen in der Sowjetunion. Schon weniger, dass sie den russischen Jungen mitnehmen in die nächste Stadt, Verwandte zu besuchen und Gemüse abzuliefern. Erst ein gebrochenes Versprechen des Leutnants verdirbt dem Burschen den Appetit.

Denn der in deutsche Gefangenschaft geratene Ilja kann natürlich nicht ausgelöst, gar ausgetauscht werden, obwohl die Mutter dafür alle Tauben opfert und auch sonst alles opfern würde. Mit vier gebratenen Tauben in der Kartentasche wird der Leutnant auf dem Weg in die Stellung erschossen: „Von Partisanen, hieß es.“ Dieses Finale ist typisch Hans Bender. Der Schluss ist offen. Man erfährt nicht, ob das stimmt, man erfährt auch die Quelle des Gerüchts nicht. Er arbeite mit Aussparungen, heißt es in der Literatur über Bender. Er ist also, anders formuliert, absichtlich nicht der allwissende Erzähler. Aber er macht daraus kein Gewese. In den Geschichten, die ich hier vorsichtig als meine Lieblingsgeschichten von ihm bezeichnen möchte, in ihnen steht jeweils ein Hans im Mittelpunkt, alles ist aus seiner Sicht erzählt und sie beenden in dieser Reihenfolge sowohl den Band „Mit dem Postschiff. 24 Geschichten“ als auch die spätere Sammlung „Der Hund von Torcello. 32 Geschichten“, finden sich ganze Scharen von Personen und Figuren, die nur einen Namen haben, der Rest ist Aussparung. Aber es sind herrliche Kindheitsgeschichten: „Die Wallfahrt“, „Das Gasthaus“, „Das Nachbarhaus“, „Die Klosterschule“, alle nahe, sehr nahe zum Teil an Benders eigener Kindheit im Kraichgau. Ich finde dort Sätze, die wir als Kinder auch sprachen, Dinge die wir als Kinder auch kannten (die Redisfeder Nummer 2). Dabei war Hans Bender zwei Jahre älter als mein Vater. Und starb dennoch elf Jahre später als dieser. Literatur schafft seltsame Nähen.


Joomla 2.5 Templates von SiteGround