Adorno-Blick

Unter diesem Buch gehe ich täglich ungezählte Male hinweg: „Paare Passanten Niemand anderes“, erschienen 1989 im Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, eine Lizenz-Ausgabe des Carl Hanser Verlages München. Es vereint zwei getrennte Texte von Botho Strauß, der erste 1981, der zweite 1987 erschienen. Auf der Seite 173 beginnt dort folgende Passage: „Hier unter den Kolonnaden des Café Quadri saß im Sommer 1969 das traurige Trugbild eines alten Mannes, dem ich niemals begegnet war und den ich gleichwohl verehrte wie keinen zweiten; da saß der berühmte Philosoph, der kahle Rundschädel, den ich von Fotos kannte, die dunklen runden Augen, die vom Äußerlichen und Sichtbaren, vom Bildnerischen weniger belebt zu werden schienen als vom Gehör, vom Verstehen, vom Zeit-Spiel. Er saß allein und alleingelassen an einem Caféhaustisch mitten in einem wüsten Touristenstrom und ich starrte ihn an und ich war sicher, nur er könnte es sein, von dem ich soviel in mich hineingedacht hatte. Wenig später erfuhr ich dann aus der Zeitung, dass er gerade in jenen Sommertagen, vielleicht an demselben, da ich ihn in Venedig sah, gestorben war in einem Schweizer Hospital.“ Strauß nennt den Namen nicht, aber es ist zu offensichtlich, wen er meint: Theodor W. Adorno, das W. steht für Wiesengrund, der am 6. August 1969 starb, knapp 66 Jahre alt.

Es ist hilfreich zu wissen, dass es sich beim Gran Caffé Quadri um ein Café am Markusplatz in Venedig handelt, eines jener, von dem empörte Touristen zu Hause berichten, wie unverschämt teuer dort ein Kaffee oder ein Espresso oder ein Capucchino sei, als hätte man keine Alternativen gehabt. Wer sich dem Quadri anvertraut, das es seit 1775 an diesem Ort gibt, der darf sich solchen Prominenten nahe fühlen wie Stendhal, Lord Byron, Alexandre Dumas, Richard Wagner, Marcel Proust oder auch Woody Allan, die dort saßen. Es hat also Logik, wenn Botho Strauß seinen Doppelgänger Adornos genau dort sieht und nicht irgendwo in Venedig. Es hat ebenso Logik, wenn Strauß einen wüsten Touristenstrom zum Kontrast nimmt. Der Intellektuelle, der überall zuerst und allein gewesen sein will, sieht nicht gern andere da, wo er sich selbst genießt und seine Exklusivität. Der Witz an diesem Strauß aber ist ein anderer. Denn es scheint gerade von dieser am Ende von „Paare Passanten“ zu findenden Textstelle mehrere Varianten zu geben, mindestens drei, so weit ich es eben überblicke, ohne Ehrgeiz zu weiteren Nachforschungen freilich. Dies Faktum hat 2003 der Schweizer Autor Hans-Peter Kunisch (geboren 8. 11. 1962) publik gemacht, als er für die Juni-Ausgabe der Zeitschrift LITERATUREN über Adornos Tod, vor allem den Todesort, schrieb.

Kunisch zitiert die 81er Ausgabe von „Paare Passanten“, dort steht: „... gestorben war in seinem Hotel-Zimmer ins Sils-Maria.“ In der Taschenbuch-Ausgabe fand der Reporter eine andere Aussage: „Aus dem Nietzsche-nahen Phantasie-Hotelzimmer ist „in den Alpen“ geworden.“ Woher also der Aufbau-Verlag die abermals geänderte Angabe „in einem Schweizer Hospital“ bezog, wäre ein Schnüffel-Auftrag für Nachwuchs-Rechercheure. Kurios ist, dass die Redaktion von LITERATUREN am Ende des Kunisch-Textes zwar mitteilt, er sei freier Journalist und lebe in Berlin, was beides zutraf, aber verschweigt, dass er in Visp geboren ist. Dem Ort also, der als Todesort beispielsweise im DDR-Philosophen-Lexikon von 1982 ganz selbstverständlich genannt ist. Kunisch macht es, er muss ja immerhin zwei komplette Seiten füllen, erst einmal spannend, erzeugt den Eindruck, als sei es kaum möglich, präzise Angaben zum vermeintlich seltsamen Todesort zu gewinnen. Lässt Namen paradieren und Zeugnisse, die zwar gar nicht fragwürdig sind, aber in solches Licht gerückt werden. Dabei brachte der „Walliser Bote“ schon am 7. August 1969 die Todesnachricht unter der Überschrift „Professor Adorno in Visp gestorben“. Das Spital St. Maria hatte sogar einen exakten Todeszeitpunkt angegeben: 11.20 Uhr. Wo wäre da das Problem?

Sätze wie „Die Gründe für seinen Herzinfarkt bleiben auf ewig Spekulation. Anlass waren wohl die Höhenmeter.“ hätten Adorno sicher wohl geärgert: von welchem ewig wäre da die Rede? Es war ein Herzinfarkt und wir wissen, dass die Todesquote damals entschieden höher war, als sie es heute ist. Ich war nach meinem drei Wochen später wieder aus dem Krankenhaus entlassen, Mitte der 60er lag ein Bekannter noch fast ein halbes Jahr im Bett. Es waren andere Zeiten, heißt der Spruch fürs Phrasenschwein. Doch schaut man sich das ganzseitige Foto an, das zum Kunisch-Artikel gestellt ist, es zeigt Adorno 1963, Fotograf Stefan Moses, dann sieht man einen alten Mann und plötzlich ist die 2019 irritierende Aussage von Botho Strauß, er habe das traurige Trugbild eines alten Mannes gesehen, verblüffend präzise. Ich erinnere mich eines späten Fernsehinterviews mit Hans-Georg Gadamer, das mir das Bild eines imponierend souveränen alten Mannes vermittelte. Ich sah sofort nach, um zu sehen, wann der denn eigentlich starb. Und siehe: er lebte noch, er war zum Zeitpunkt des Interviews 99 Jahre alt. Gadamer erlebte sogar seinen 102. Geburtstag noch. Dagegen war Adorno 1969 fast noch ein Bürschlein. Gadamer hätte vielleicht gar „junger Mann“ zu ihm gesagt. Adorno traf, ich folge Kunisch, der selbst Wolfgang Kraushaar folgt, am 22. Juli in Zermatt ein.

„Noch am Morgen des 5. August jedenfalls fährt er mit Frau Gretel per Zahnradbahn von Zermatt auf den über 3000 Meter hohen Gornergrat.“ Am selben Abend soll Adorno eben in Visp nach neuen Wanderschuhen Ausschau gehalten haben. Er brach zusammen und so weiter. Der Brockhaus, so Kunisch, nenne Visp, der Meyer Brig, der DDR-Meyer gar keinen Ort: „geboren in Frankfurt (Main), gestorben ohne Ortsangabe, für DDR-Bürger also nirgends, einfach so.“ Schwer zu sagen, welch seltsame Vorstellungen ein in Berlin lebender Schweizer aus dem Wallis von DDR-Bürgern hatte, 2003 hätte er gleich scharenweise Ehemalige fragen können, ob sie glaubten, wenn ein Ort nicht genannt ist, hieße das nirgends. Freilich standen die vielen Meyer-Bände vermutlich in weniger Haushalten, als der Verlag sich erhofft hatte. Was sonst noch 1969 geschah, das einen Infarkt-Gefährdeten diesem näher bringen konnte, verzeichnet der Journalist schlaglichtartig und die wenigen Zitate zeigen, wie genau Adorno die Studenten sah, die sich erst auf ihn beriefen und ihn dann aus ihrem Zitier-Olymp vertrieben. Adorno wollte Anfang September 1969 tatsächlich nach Venedig und zwar ins Hotel Regina. Das Fünf-Sterne-Haus umschleicht der durchschnittliche Venedig-Tourist voller Ehrfurcht und schaut sich allenfalls etwas Eigenwerbung des Hauses an.

Wäre ich 2006 auf die Idee gekommen, Visp zu besuchen, tatsächlich kam ich von Bellwald aus lediglich bis Brig, uns interessierten vor allem die Alpenpässe, von denen wir nicht weniger als sieben befuhren, hätte ich sich eher das Dorf Visperterminen anvisiert, wo sich auf 1336 Metern die höchsten Weinberge Europas befinden und die autochthone Sorte „Heida“ wächst, als des Toten von 1969 zu gedenken, den die Höhenmeter töteten, die er in kurzer Zeit und beiden Richtungen zu bewältigen hatte. Ich weiß, wie es ist, wenn man jenseits der 3000 Meter bei kleinen Steigungen das Gefühl bekommt, gleich zu hyperventilieren, 500 Meter weiter unten bin ich mittlerweile ganz fit. Die Festung Adorno aber, die hatte für mich zwei ganz und gar andere Einfallstore. Das erste hieß „Fortschritt“ und gehörte zum Basis-Material für meine Dissertation. Ich hatte damals noch große Mühe, eine Kopie zu bekommen in der Staatsbibliothek. Längst besitze ich inzwischen gleich zwei Adorno-Bände, in denen „Fortschritt“ nachgedruckt ist: „Philosophie und Gesellschaft. Fünf Essays“ und „Stichworte. Kritische Modelle 2“. „Fortschritt“ ist nicht lang, war zuerst ein Vortrag auf dem Münsteraner Philosophenkongress, gehalten am 22. Oktober 1963. Noch kürzer ist „Die Wunde Heine“, in den „Noten zur Literatur“ zuerst von mir gelesen am 20. Dezember 2005.

Ich raubte mir sogar ein wenig von Adornos Titel, denn mein Vortrag, den ich im Januar 2006 hielt, hieß „Von einer Wunde sprechen“. Auch in zwei späteren Heine-Vorträgen bezog ich mich auf ihn, der zuerst ebenfalls ein Vortrag war, gehalten im Februar 1956 im Westdeutschen Rundfunk aus Anlass des 100. Todestages von Heine. Mir war der 150. Todestag der Anlass. Soweit ich heute sehe, war es der einzige Vortrag, den ich je hielt, der in ein und derselben Tageszeitung an einem Tag gleich dreifach angekündigt wurde. Die Einfallstore führten mich dennoch nicht dahin, mich länger in und bei Adorno aufzuhalten, zu krass war mir in Erinnerung, wie mir seine „Drei Studien zu Hegel“ nicht nur den Hegel zusätzlich verleidet hatten, sondern eben auch Adorno selbst. Heute würde ich in aller Unschuld behaupten, dass Gegenstände des Studiums auch sprachlich verführen können, dass also einer, der über Hegel schreibt, mindestens wie Hegel zu schreiben versucht, also in eigener mehr oder minder hermetischer Terminologie. Selbst in verständlichen Sätze muss mindestens ungebräuchliche Wortfolge sein, noch originelle Termini anderer Autoren zum Stoff werden mit Distanz bis Misstrauen verwendet. Man schaue sich Adorno-Texte einfach daraufhin an, wo im Satz jeweils das Wort sich auftaucht, und wohin man es im selben Satz selbst setzen würde.

Ich zitiere nun kurz aus „Die Wunde Heine“: „Die Wut dessen aber, der das Geheimnis der eigenen Erniedrigung an der eingestandenen des anderen wahrnimmt, heftet sich mit sadistischer Sicherheit an seine schwächste Stelle, das Scheitern der jüdischen Emanzipation.“ Nach einem Vers-Zitat aus dem Heine-Zyklus „Die Heimkehr“ formuliert Adorno: „Sein Wort steht stellvertretend ein für ihr Wort: es gibt keine Heimat mehr als eine Welt, in der keiner mehr ausgestoßen wäre, die der real befreiten Menschheit. Die Wunde Heine wird sich schließen erst in einer Gesellschaft, welche die Versöhnung vollbrachte.“ Bis heute also nicht, wäre die lakonische Folgerung aus Adorno 1956. Man muss vermeintliche oder tatsächliche Aktualität Adornos gar nicht an „wiederentdeckte“ Texte binden, wie es schon eine Weile geschieht mit einem Skript aus dem Jahr 1967: „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“, bei Suhrkamp zu einem 86-Seiten Buch gemacht. Die Sensation ist ganz sicher geringer, als sie medial ausgerufen wird, es geht um Buchverkauf und neue Neugier auf einen heftig aus der Mode gekommenen Meisterdenker des vorigen Jahrhunderts. Ich habe eben zwei viel ältere Sachen aus seiner Produktion gelesen. Beide finden sich in der Sammlung „Eingriffe. Neun kritische Modelle“: „Prolog zum Fernsehen“ und „Fernsehen als Ideologie“, Erstdrucke 1953.

Man kann hier mit mäßigem Vergnügen zuschauen, wie Adorno sich einem Thema nähert, man möchte meinen, er umschleiche es regelrecht, ohne dann aber so zuzupacken, wie man es nun glaubt, erwarten zu dürfen. Er scheint ein Mann des Konjunktivs selbst dort, wo er sich des Indikativs befleißigt: was man nie dezidiert ausspricht, muss man im Zweifelsfalle auch nicht zurücknehmen. Wobei er ja keineswegs thesenängstlich ist. Hier aber ist es wohltuend, dass er in einer sehr frühen Phase des Fernsehens, des amerikanischen Fernsehens, das von Beginn an ein privates Unternehmen war, Phänomene fixiert, die bis heute in der Substanz unverändert das bestimmen, was wir mittlerweile auch seit 30 und mehr Jahren kennen: werbefinanziertes Privat-Fernsehen. Mit einem allerdings gewichtigen Unterschied zur Mutterinstitution. Die Programme der USA mussten sich nie einem Wettbewerb mit öffentlich-rechtlichem Fernsehen stellen, mit dem, was mancherorts auch einfach als Staatsfernsehen galt oder gilt: BBC in England, RAI in Italien. Es konnten sich in den USA demgemäß Dinge entwickeln, die man heute Formate nennt und es konnte sich auch ein Expansionsdruck entwickeln, der dazu führte, dass in Deutschland Privatfernsehen von Beginn an und in keineswegs sinkender Tendenz bis heute Abspielwiese für US-Produkte ist.

Die Werbeblöcke sind heute bei den so genannten Blockbustern bereits so gebläht, dass sie nahezu ein Drittel des Sendevolumens für einen einzelnen Film oder Serienteil ausmachen. Nicht einmal ein krasser Reizdarm reicht mehr aus, die Werbepausen zu überbrücken. Was mich längst auch von besten Angeboten abhält. Adorno also sah in den frühen fünfziger Jahren in den USA fern, las sogar Sendemanuskripte, soweit sie ihm zur Verfügung gestellt wurden, um zu schauen, wie sich Vorlage und Umsetzung zu einander verhielten. Was fiel ihm, unter anderem natürlich nur, besonders auf? „Das kommerzielle Fernsehen bildet das Bewusstsein zurück, aber nicht durch die Verschlechterung des Inhalts der Sendungen gegenüber dem von Film und Radio.“ „Der Sprache aber werden die Menschen durchs Fernsehen noch mehr entwöhnt, als sie auf der ganzen Erde heute schon sind.“ „Eher werden die Menschen ans Unvermeidliche fixiert als verändert. Vermutlich macht das Fernsehen sie nochmals zu dem, was sie ohnehin sind, nur noch mehr so, als sie es ohnehin sind.“ „Der Druck, unter dem die Menschen leben, ist derart angewachsen, dass sie ihn nicht ertrügen, wenn ihnen nicht die prekären Leistungen der Anpassung, die sie einmal vollbracht haben, immer aufs neue vorgemacht und in ihnen selber wiederholt würden.“ An Beispielen spart Adorno leider.

Erst in „Fernsehen als Ideologie“ geht er auf einige wenige Fernsehspiele ein, man sieht sofort, dass er keineswegs nur im Felde der höchsten Abstraktionen zu Hause ist, er kann sehr profane, sehr platte und sogar ausgemacht dumme Fernsehprodukte präzise analytisch zerlegen. Und findet das gerade nicht überflüssig, auch wenn man glauben möchte, eine Adorno-Analyse tue hier auf alle Fälle ihrem Gegenstand zu viel Ehre an. Er findet wie zwanglos herrliche Formulierungen wie: „... der Schwachsinn des Ganzen setzt sich aus lauter gesundem Menschenverstand zusammen.“ Die Ehrlichkeit gebietet zu sagen, dass er hier ein gutes altes Wort von Friedrich Engels paraphrasiert: vom gesundem Menschenverstand als respektablem Gesellen. Wer einst wie ich Engels' „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ studieren musste (alles andere als eine Strafexpedition, damit keine Missverständnisse aufkommen!), hat das Zitat nie ganz vergessen, zumal der „Common Sense“ ja keine Erfindung des historischen Materialismus war. Adorno rechnet das Fernsehen zu dem, was er Kulturindustrie nennt: „Die Kulturindustrie vergisst ihren Moralismus, sobald sie Gelegenheit hat, zweideutige Witze über das von ihr selbst geschaffene Bild des Intellektuellen zu reißen. Bei unzähligen Gelegenheiten biedert sich das Schema des Fernsehens dem internationalen Klima des Anti-Intellektualismus an.“ Man schaue heute „Big Bang Theory“.

Der Nerd hat den Egg Head abgelöst, das Schema bleibt unverändert. Adorno diagnostiziert einen Pseudorealismus. „Solche Verlagerung an die Oberfläche macht alles Psychologische, das da vorgehen soll, zum Kinderspott.“ „Das Stück läuft auf die Verleumdung von Individualität und Autonomie hinaus.“ Und als in dem Spiel, dessen Titel der Autor gar nicht erst nennt, weil es gleichgültig ist - Skripte, der er zu lesen bekam, wirkten auf ihn „völlig genormt und eingefroren“ - die Religion in Erscheinung tritt, postuliert er: „Nichts widerwärtiger, als dass im Namen kruder Autorität Religion in das Spiel hineingezogen und propagiert wird.“ Eine Seite später: „Hygienische Reklame für Religion ist blasphemisch.“ Selbst Fontane wird kurz ins Feld geführt, im Fontane-Jahr muss es Erwähnung finden: „... während seit Fontanes Frau Jenny Treibel die Menschen, welche hemmungslos Ideale im Munde führen, die gleichen sind, denen Geld wichtiger ist als alles andere.“ Ein Spiel über einen Diktator veranlasst Adorno zur Diagnose: „Alles ist privat, der Diktator nichts als ein tölpelhafter Schuft, der seinen Sekretär und seine plump idealisierte Frau misshandelt … Eine infantile Personalisierung der Politik wird betrieben.“ Das ist dann entweder in den politischen Journalismus übernommen worden oder von dort erborgt, Adorno schweigt über die Quellenlage.

„Nichts von der objektiven Dynamik der Diktaturen tritt ins Blickfeld. Erweckt wird der Eindruck, totalitäre Staaten seien die Folge der Charakterfehler ehrgeiziger Politiker, und ihr Sturz sei der Noblesse derer zuzuschreiben, mit denen das Publikum sich identifiziert.“ In dieser Richtung funktioniert bis jetzt, was heute gern als Narrativ bezeichnet wird, das Narrativ vom 20. Juli 1944. Ein ganz anderer Befund: „Nach einem Lieblingsprinzip der Kulturindustrie sind die Rollen der Geschlechter vertauscht, das Mädchen aktiv, der Mann in Abwehr.“ Und: „Denn dass nichts von ihren Erzeugnissen ernst, alles bloß Ware und Unterhaltung sei, schreckt die Kulturindustrie nicht. Sie hat daraus längst ein Stück der eigenen Ideologie gemacht. … Aber eine Schandtat wird dadurch nicht besser, dass sie sich als solche deklariert.“ Den „Prolog zum Fernsehen“ ließ Adorno so enden: „Damit Fernsehen das Versprechen hält, das in dem Wort immer noch mitschwingt, muss es von all dem sich emanzipieren, womit es, verwegenste Wunscherfüllung, deren eigenes Prinzip widerruft und die Idee des Großen Glücks verrät ans Warenhaus fürs kleine.“ Adorno wusste: „Wer eine Sache verteidigt, die der Geist des Zeitalters als veraltet und überflüssig abtut, begibt sich in die ungünstigste Position.“ Was über die Güte dieser Position wenig besagt, wusste er sicher auch.


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