Hermann Kesten: René Schickele
Wie lange wird es das noch geben: Ein Print-Kritiker höhnt, dass ein Schweizer Verlag anlässlich des zehnten Todestages von Hermann Kesten im Mai 2006 zwei Bücher von ihm neu herausgibt, aber erst im Herbst 2006. „…jeder, der weiß, in welchem Rhythmus Zeitungen an Autoren erinnern, müsste sich folglich an den Kopf greifen“, schrieb der Wackere damals. Und denkt dabei unfassbar an allem vorbei, was Literatur wirklich ist und bedeutet. Denkt ausschließlich in den Kategorien des Literaturbetriebs, der jedoch mit Literatur nur die erste Hälfte seines Namens gemein hat. Kesten als einer, der die Gruppe 47 nicht mochte, den die Gruppe 47 nicht mochte, wird immer wieder einmal neu entdeckt, während nicht einmal die Hauptprotagonisten des einstigen Verdrängungsvereins noch außerhalb eben des Literaturbetriebs irgendeine gute Rolle spielen. Noch recht frisch ist jene Neuentdeckung des Jahres 2018, die Hermann Kestens Roman „Die fremden Götter“ galt (zuerst 1949). Munter schrieb Martin Doerry im SPIEGEL: „Bis heute heißt es unter Literaturhistorikern, seine Romane seien zu sehr ihrer Zeit verhaftet, man lese darin „wie in einer fremden Welt“.“ Nein, unter Literaturhistorikern hieß es das nie, es war ein Diktum von Volker Weidermann in seinem „Buch der verbrannten Bücher“ und Weidermann war 2018 ein Kollege im SPIEGEL, dem man wohl keine Kollegenschelte verpassen wollte. Die WELT nannte Weidermann mit seinem Namen.
Heute nun ist der 120. Geburtstag von Hermann Kesten, niemand in irgendeiner Zeitung muss sich an den Kopf greifen, niemand hat etwas verpasst, keine neuen Biographien kommen zu früh oder zu spät auf den ohnehin stets übersättigten Markt. Als deutschsprachiger Autor hat Kesten zu allem auch den Nachteil, dass es von ihm keine Neuübersetzung geben wird, neben sehr runden Jubiläen das einzige, was im Feuilleton überhaupt Geräusche vor den Mauern des Verschweigens erzeugen kann, wenn alle Umstände günstig sind. Ich wage derzeit nicht zu spekulieren, an wie vielen neuen Biographien, neuen Übersetzungen von Dostojewski und Flaubert bereits fieberhaft geschrubbt wird, damit der Markt spätestens zur Frankfurter Buchmesse im Oktober vor dem ganz großen Dostojewski-Flaubert Jahr 2021 geflutet werden kann. Einziges Kriterium: wenn die tatsächlichen 200. Geburtstage anfallen, muss alles bereits gelaufen sein. Kesten heute also: ein Dilettanten-Fall (fällige Erklärung: das sind Liebhaber, Goethe zum Beispiel war ein Dilettant). Ich greife mir aus allem Denkbaren das heraus, was zu einem anderen unwichtigen Jubiläum passt: zum 80. Todestag von René Schickele. Der Elsässer starb am 31. Januar 1940 im südfranzösischen Vence. Er starb, anders als einige andere bedeutende Autoren im Exil des Jahres 1940, eines natürlichen, wenn auch viel zu frühen Todes: er starb an den Folgen seines langen, sich verschlimmernden Asthmaleidens.
Um Volker Weidermann noch einmal das Wort zu geben, in ganzen Sätzen sogar: „Kesten war also kein großer Romanautor. Aber Kesten war ein großer Sammler. Sein berühmtestes, sein schönstes Buch ist seine Dichter-Porträt-Sammlung „Meine Freunde, die Poeten“ (1953). So viel Liebe ist darin, so viel aufrechte Bewunderung für die Dichtkunst der Porträtierten. Von André Gide über Carl Sternheim, Ernst Toller, Joseph Roth zu Irmgard Keun und Luise Rinser.“ Dies vermeintliche Lob verschweigt, wenn man nur etwas genauer auf die Formulierung achtet, dass Kesten selbst der Autor der Porträts ist, mitnichten das Sammeln also sein Ding war, sondern das Porträtieren. Allein die Auswahl von sechs Namen stellvertretend für knapp 40 Porträts der Original-Ausgabe, später gab es bei Ullstein noch eine gekürzte Taschenbuch-Ausgabe, hat ein Geschmäckle: Luise Rinser schrieb nicht in der Liga von Joseph Roth. Nicht genannt ist als einer von mehr als 30 der nicht Genannten auch René Schickele. Dem hat Hermann Kesten ein Porträt gewidmet, das es verdient, in Erinnerung gerufen zu werden. Es beginnt so: „Die Grazien liebten ihn. Er war ein deutscher Dichter und buhlte mit der Natur. Er kannte die Blumen beim Namen. Ihr Duft lebt in seinen Büchern, und der Gesang der Vögel tönt in ihnen fort.“ Gegen solche Einstiege kann man starke Argumente stellen, einen aber nicht: keine Neugier zu wecken, keinen Ton anzuschlagen, der lockt.
Man kann sicher sofort Schickele-Prosa aufrufen, die diese vermeintlichen Kriterien gar nicht erfüllen will, doch auch damit wäre noch immer nichts gesagt. In einem anderen Text mit dem Titel „Wir Nürnberger“ hat Kesten Schickele in einen fasslicheren Zusammenhang gestellt als den mit den Blumen und den Vögeln: „Denn wer von uns wäre ganz ohne Schuld? Wer von uns hätte genug getan, um in Deutschland jene Humanität zu wahren, die von einigen deutschen Dichtern so hinreißend ausgesprochen wurde wie von Lessing, wie von Heine, wie von Goethe, wie von Heinrich Mann und Gottfried Keller, von René Schickele und Joseph Roth und von Erich Kästner?“ Das ist nicht irgendeine Namensreihe, die da aufgerufen wird. Selbst wenn der Autor Kesten mit Schickele und Roth und Kästner befreundet war, wenn er geglaubt hätte, ihnen einen Gefallen zu tun, es bleibt schließlich der eigene Ruf auf dem Prüfstand, wenn Lobeshymnen schon mit der ersten Strophe die Falschen träfen. Hören wir weiter: „Er empfing von den Deutschen ihre wilde wunderbare Sprache und den grotesken Zug ihres Gemüts und die sonderbare Tiefe ihrer Phantasie. Die Franzosen gaben ihm ihre Anmut, ihren Esprit und die heitere Gesundheit ihrer prägnanten Vernunft.“ Lassen sich daran nicht abendfüllende Debatten knüpfen: die wilde wunderbare Sprache, der groteske Zug des deutschen Gemüts? Was an der Tiefe unserer Phantasie wäre sonderbar?
Wir dürfen, welche Überraschung inmitten von Worthülsen, abgenutzter Sprache, Versatzstücken, Fremdeinträgen und sehr viel reinem Blödsinn Sätzen, Satzteilen nachlauschen! Die Sätze, Satzteile überleben es, wenn wir ihnen nicht sofort folgen können, wir könnten sofort rufen: es gibt sie nicht, DIE Deutschen, DIE Franzosen, diese Art Konstrukte von Nationalcharakter haben Unheil angerichtet, haben Vorurteile zementiert, Dummheiten salonfähig gemacht. Und doch: „Seine schönste Prosa war eitel Wohlklang und witzig wie die Wahrheit. Seine Kunst besaß Maß und Heiterkeit.“ Witzig wie die Wahrheit? Seit wann ist Wahrheit witzig? „Er liebte den Frieden, ein wahrer Menschenfreund, und bewies es wie wenige, redend, wenn es Zeit war, zu reden, schweigend, wenn das Niederträchtige zu laut trommelte.“ Kunst, die Maß und Heiterkeit zugleich besitzt, muss man suchen. Maß, ich wiederhole mich bei passender wie unpassender Gelegenheit, ist die anspruchsvollste Kategorie bei Hegel, der in diesem schönen Jahr 2020 auch einen sogar für Zeitungen attraktiv runden Geburtstag hat: am 27. August, am Tag vor dem Goethe-Rauschen. Georg Friedrich Wilhelm Hegel ist Jahrgang 1770 wie ein gewisser Hölderlin, der schon im März dran ist, ein gewisser Beethoven im Dezember. Den man sogar mit Goethe im Duo rauschen lassen kann. Man erinnere sich: Teplitz in Böhmen, Juli 1812, die Kaiserin; und Goethe lupft den Hut.
„Die Familie Schickele war in Mutzig begütert.“ Ganz sachlich kann Kesten auch. Mutzig sagt dem Biertrinker vielleicht mehr als dem Literaturfreund. Denn lange gab es dort eine große Brauerei und die Marke „Mutzig“ wird immer noch gebraut im Elsass, freilich schon lange in Schiltigheim. Aus begüterten Familien zu stammen, ist für Dichter nicht immer gut, sie können zwar ihr Leben leichter gestalten, aber der Neid der armen Kollegen, der sie begleitet, verzerrt nicht nur jenen die Perspektive, er schlägt auf die Geschichtsschreibung durch. Die wohlhabenden, die finanziell sorgenfreien Dichter werden sehr rasch zu „Großschriftstellern“ degradiert, in gewissen Zeiten ein Wort maximaler Schnittmenge mit dem „Establishment“, dem man sich nur dann fernhalten kann, wenn man nicht zweimal mit derselben pennt. „Schickele und seine Freunde tranken damals bis in die Nacht hinein. Um zwei Uhr morgens begann er oft Verse zu schreiben.“ Die von Kesten und Anna Schickele 1959 bei Kiepenheuer & Witsch herausgegebene dreibändige Werkausgabe ist bis heute mit ihren fast 3700 Dünndruckseiten nicht überholt worden, der späte Versuch, neuen Ruhm auf den Namen zu häufen, darf dennoch alles in allem als gescheitert gelten. In Kestens Porträt sind die Titel der Schickele-Bücher fast alle aufgezählt, einige davon haben über die Herausgeberin Ruth Greuner (leider auch vergessen) im Buchverlag Der Morgen Berlin sogar den DDR-Leser ereilt.
Als Porträtist ist Hermann Kesten bisweilen geradezu entwaffnend ehrlich. „Sein letzter Roman, „Die Flaschenpost“ ist mir der liebste, weil ich Schickele genau so kannte, wie er aus diesem Buch hervortritt.“ Und aus genau diesem Grund geht Kesten so überproportional ausführlich auf „Die Flaschenpost“ ein, dass alle anderen Romane, alle anderen Bücher fast vernachlässigt wirken. Es ist hier aber, deshalb erwähne ich es, ein ganz anderer Fall als etwa bei Wolfgang Koeppen. Der hielt 1974 die Laudatio für den Georg-Büchner-Preisträger des Jahres, für Hermann Kesten. Und erwähnte natürlich auch einige der Romane des Geehrten. Nicht diese Rede aber zog der nun letztmalig genannte Volker Weidermann heran, um seine Behauptung von der minderen Qualität der Kestenschen Romane zu untermauern, sondern jene, die Koeppen am 19. Januar 1975 zum 75. Geburtstag Kestens in Nürnberg hielt. Sie trug den Titel „Hermann Kesten, der Freund“ und man durfte annehmen, dass Koeppen sich bei der Wahl des Titel etwas dachte, denn diese seine Rede, die mit einem preziösen Überlang-Satz beginnt, behandelt nichts als das, was der Titel verspricht: den Freund Kesten. Wenn also Koeppen in dieser Geburtstagsrede keinen einzigen Kesten-Roman erwähnt, dann ganz sicher nicht, weil er sie alle der Reihe nach für minder bedeutend hielt. Es ging nicht um die Romane. Weidermann hätte es merken können, er wollte es aber nicht merken.
Neben der „Flaschenpost“ ist bei Kesten auch ein Drama Schickeles ausführlicher besprochen: „Hans im Schnakenloch“. Das war, man mag es sich bei diesem wirklich seltsamen Titel kaum vorstellen, ein ausgesprochener Bühnenerfolg. Die Uraufführung am 17. Dezember 1916 im Neuen Theater Frankfurt, Regie Arthur Hellmer, die Berliner Erstaufführung am 30. März 1917 im Kleinen Theater Berlin, Regie Georg Altmann. „Schickeles Schauspiel war das erste dichterische Stück, das ein Problem aus dem Weltkrieg behandelte. So steht es bei Günther Rühle. In Berlin sahen Alfred Kerr und Siegfried Jacobsohn die Premiere. Herbert Ihering war nicht da. Und bei Kesten lesen wir: „Das Stück, in der Tradition von Georg Büchner, hatte witzige Liebesszenen und handelte von zwei Völkern und dem Krieg, von Knechten im Elsass und Ministern in Paris. Es ist ohne Anstrengung poetisch. Da finden wir Schickeles mythenschaffende und mystifizierende Kraft, Scherz und tiefere Bedeutung, Weltlust und Weltleid, und die besten Vorzüge: Wahrheit und Natur.“ In der Geburtstagsrede von Koeppen auf Kesten steht, uns ich muss es zitieren: „Kesten hält seinen Freunden, den Poeten, die Treue. Er dient ihnen, wenn er über sie schreibt. Sie sind wieder bei uns. Man liest sie, wenn man Kesten gelesen hat.“ Hätte Wolfgang Koeppen recht gehabt, wäre alles gut. Doch hat Koeppen sich natürlich nur gewünscht, dass es so wäre, auch für sich selbst.
„Statt der Programme der Politiker studiert er ihre Gesichter, ihren Gang, ihre Gebärden – und durchschaut sie.“ Hätte Schickele also schon im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts einen Workshop Körpersprache anbieten können? „Alles, was dem deutschen Spießer unvereinbar scheint, vereinte Schickele in seinem epischen Werk mühelos: erotische – und politische Weisheit; Herrschaft über die deutsche Sprache und – die Vernunft; provinzielle Herkunft und Stoffwahl – und europäischen, weltbürgerlichen Geist; Liebe für Frankreich – und Deutschland!“ Und: „Alles, was er über Dichtung und Dichter schrieb, ist wahr; am besten ist sein Essay über D. H. Lawrence.“ Und: „Noch unter bescheidenen Umständen war sein Hang zum Wohlleben sichtbar. Er liebte die schönen Dinge und schönen Orte und schönen Menschen. Wie die Helden seiner Romane lebt er gern in der Nähe des Luxus.“ Kesten hätte das nicht schreiben müssen, auch nicht: „Wie die Helden seiner Romane lebt er gern in der Nähe des Luxus.“ Er hat es aber geschrieben. Nicht, weil sein Auge unbestechlich war, wie in solchen Momenten gern einfallslos nachgesprochen wird. Nein, ich bin sicher, er wollte diejenigen, die Aposteln der Armut lustvoll aufsitzen, provozieren. Nun wären noch alle Titel nachzutragen, die Kesten nannte, ich unterlasse es. Stattdessen wende ich mich abermals an die Neugier: „Aber von allem, was er vor dem Kriege schrieb, hat seine journalistische Prosa die größte poetische Frische.“ Weil ich mich freue, wenn Journalismus wie Poesie gesehen wird. Guter Journalismus hat davon, auch wenn er sich nicht nach Reporter-Reisen streckt.