Ein wenig Irmgard Keun und: Prost!

Wenn am 12. Mai im Berliner Olympiastadion Borussia Dortmund und Bayern München das Endspiel um den DFB-Pokal bestreiten, wird unter den zahlreichen Zuschauern im wahrhaft weiten Rund mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit niemand sitzen, der mit Blick auf den Fußball-Rasen an Sätze wie diese denkt: „Die populärste Veranstaltung würde augenblicklich ein Krieg zwischen Nordrhein-Westfalen und Bayern sein. Bayern hat mehr Eier und auch sonst mehr zu essen und liefert nicht genug ab und hat sich überhaupt unbeliebt gemacht, der Haß ist bereits zum Siedepunkt gelangt – ein entsprechender Aufruf durchs Radio und innerhalb von drei Stunden würde das gesamte Industriegebiet zu den Waffen eilen gegen Bayern.“ Geschrieben hat das Irmgard Keun in einem Brief an Hermann Kesten und zwar an einem 19. Mai, genau an dem des Jahres 1948.

15 Jahre vor diesem 19. Mai 1948 gab es einen 19. Mai 1933. Die schöne Stadt Mannheim erlebte wie viele andere schöne und weniger schöne Städte Deutschlands an diesem Tag eine öffentliche Bücherverbrennung. Das besonders Auffallende in Mannheim war die gediegene Inszenierung des Ereignisses, man agierte immerhin in der Stadt, in der Schillers „Räuber“ ihre Uraufführung erlebt hatten etliche Jahre früher. Jetzt hatten Hitlers Räuber die Macht ergriffen, sie hielten sich nicht lange mit Intrigen feindlicher Brüder auf, sie brachten um, was ihnen im Weg stand. Und da seit Heines „Almansor“ klar war, dass vor den Menschen die Bücher brennen, brannten zuerst die Bücher. In Mannheim brannte auch Irmgard Keuns „Das kunstseidene Mädchen“. Folgt man der 2008 im Georg Olms Verlag erschienenen umfangreichen Dokumentation „Orte der Bücherverbrennungen in Deutschland 1933“, den Abschnitt zu Mannheim hat Klaus Schönhoven verfasst, dann war Mannheim die einzige deutsche Stadt, in der Irmgard Keun brannte.

Nach dem Krieg hat kaum jemand bitterer, sarkastischer beschrieben, wie katholisch wurde, was eben noch braun war, wie sich als Widerständler begriff, was eben noch denunzierte. Nur eines hatte sich geändert: Irmgard Keun war nicht mehr die fast über Nacht berühmt gewordene junge deutsche Wunder-Autorin aus der Endzeit der Weimarer Republik, sie war nicht mehr die unter fast allen Antifaschisten im Exil geachtete Verfasserin von „Nach Mitternacht“, die Ex-Gattin von Johannes Tralow, die zeitweilige Freundin von Joseph Roth, sie war vergessen und auch ihr bis in die fünfziger Jahre noch anhaltendes Schreiben stand im Schatten anderer Autoren und Strömungen, bis sie verstummte. Wer heute über ihr Verstummen liest, findet bisweilen seltsame und spitzfindige Erklärungen. Die einfachste alle Erklärungen ist deutschen Erklärern wie immer zu einfach. Irmgard Keun wurde im fortgeschrittenen Alter von 46 Jahren 1951 Mutter einer Tochter Martina, sie wurde eine alleinerziehende Mutter, was in den frühen fünfziger Jahren der Bundesrepublik Deutschland unter Konrad Adenauer eine vollkommene andere Herausforderung war, als sie sich heute einfach vorstellen lässt.

Dreimal habe ich mich öffentlich mit Irmgard Keun befasst, dreimal die Erfahrung gemacht, dass nicht einmal Interessierte den Namen, geschweige Bücher von ihr kannten. Das war 2008, da lag die Wiederentdeckung der Autorin vom Ende der siebziger Jahre schon wieder fast eine Generation zurück, da waren die zahlreichen Artikel in vielen Zeitungen zum 100. Geburtstag der Autorin im Jahr 2005, es war Schiller-Jahr und also für andere Jubilare ein kaum günstiges Jahr, weitgehend echolos verhallt. Ich saß mit Johannes Steinhöfel, dem kürzlich frisch gewählten Vorsitzenden der Literarischen Gesellschaft Thüringen in Weimar im Rahmen der Kneipenlesung vor etlichen Neugierigen und trug Keun-Sätze vor, die sich auf Alkohol bezogen. Wenn man weiß, dass Irmgard Keun von 1966 bis 1972 fast sechs Jahre in Bonn in einer geschlossenen Anstalt leben musste wegen ihrer Alkoholkrankheit, dann findet man die lustigen Sätze aus fast allen Romanen, wie ich sie las, nicht mehr ganz so lustig. Immerhin schrieben sich einige meiner Hörer Namen der Autorin und Buchtitel auf.

In Ilmenau habe ich zwei verschiedene ausführliche Vorträge zu Irmgard Keun gehalten, zunächst in der Volkshochschule, später im Mehrgenerationenhaus am Wetzlarer Platz im Rahmen des „Ilmenauer Salons“. Ich erzählte, wie ich über Joseph Roth auf sie kam, ich äußerte meine Vermutung, die ich aufrecht erhalte, dass Anna Seghers mit ihrem Roman „Das siebte Kreuz“, der sich die Verhältnisse in Deutschland heroisch schön schrieb, auf Irmgard Keuns „Nach Mitternacht“ reagierte, die ein verheerendes Bild zeichnete aus einer Erfahrung heraus, die Anna Seghers eben nicht mehr hatte. Was Klaus Mann sehr feinfühlig als den großen Vorzug des Keun-Romans erkannte, natürlich noch nicht in Bezug auf Seghers, deren Roman bis dahin gar nicht vorlag. Wen aber macht man in diesen Zeiten mit dem Hinweis neugierig, dass eine unbekannte Autorin unbekannte Autoren kannte, traf, vertraut mit ihnen war? Keun kannte Döblin und traf ihn nach dem Krieg in Baden-Baden wieder. Sie stellte sich ihn, typisch Keun, als Kommandeur der Schweizer Garde in Rom unter einem Papst Hermann Kesten vor. Egon Kisch sollte in dieser Konstellation als Liebligs-Nuntius das Konkordat mit Moskau schmieden.

Ich verschwieg meinen Hörerinnen, es war, wenn ich mich recht erinnere, auch ein Hörer dabei, boshaft die Ahnungslosigkeit von Böll-Biographen nicht, die selbst dann, wenn sie Irmgard Keun als Kölnerin erwähnten, offensichtlich nicht die geringste Kenntnis davon hatten, dass sich Heinrich Böll und Irmgard Keun nicht nur kannten, nicht nur sehr gut kannten, sondern 1955 sogar ein gemeinsames literarisches Projekt vorantrieben, aus fiktiven Briefen bestehend. In allen Beziehungen, die Irmgard Keun pflegte, spielte der Alkohol eine wichtige Rolle, auch in der mit Heinrich Böll. Es sollen sogar die Söhne Bölls und die Tochter Keuns bisweilen zusammen gespielt haben. Meine Lieblingsgeschichte von Keun hat Albrecht Fabri überliefert. Er erzählte, wie Keun in seiner Wohnung in der Kitschecke wortlos eine Eule ergriff, sich für das Geschenk bedankte und entschwand. Sie habe sich, so Fabri, immer sehr gefreut, wenn er ihre Eulensammlung streichelte. Fabri und Keun wohnten in Köln längere Zeit in einem Haus, ohne einander wahrzunehmen.

1911 besuchte Irmgard Keun in Berlin-Charlottenburg die Cecilienschule, die es heute noch gibt und die auf ihre lange Tradition sehr stolz ist. Ich habe über diese Information bisher immer hinweggelesen, jetzt aber könnte es sein, dass vielleicht mein Enkel diese Schule besucht, in die bis 1913 die kleine Irmgard Charlotte marschierte. Der Neubau war erst 1910 übergeben worden mit einem für damalige Verhältnisse enormen Schulkomfort, riesiger Direktoren-Wohnung, Schuldiener-Wohnung, Heizer-Wohnung, Fernheizung. Das Amtszimmer dieser Schule, die Chronik verschweigt es nicht, war der Raum, in dem Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht nach ihrer Verhaftung in der Mannheimer Straße 27 festgehalten wurden, ehe sie ihre letzten Wege bis zur Ermordung antraten. Seit 1890 trägt die Berliner Straße den Namen der württembergischen Stadt, in der Irmgard Keuns berühmtester Roman 1933 von den Nazis verbrannt wurde. Was für seltsame Bögen zieht die wirkliche Geschichte.

Am heutigen dreißigsten Todestag von Irmgard Keun will ich, nicht zuletzt, weil ich aus einem Gericht berichte seit September 2011, aus einem meiner absoluten Lieblingstexte zitieren, die die wunderbare Autorin hinterlassen hat, der Text heißt „Wenn wir wir alle gut wären“ und ist zugleich auch Titel einer Sammlung, die vor vielen Jahren erschien und später bisweilen neu aufgelegt wurde. Dort heißt es: „Eigentlich ist es nicht zu begreifen, daß Staatsanwälte und Richter den Delinquenten gegenüber so oft einen frechen und pampigen Ton anschlagen. Sie vergessen ganz, daß diese Leute die Grundlage ihrer Existenz bilden und sozusagen ihre Kundschaft sind. Man ist doch höflich zu seiner Kundschaft.“ Dort heißt es auch: „Die Schlechten könnten ohne die Guten zur Not noch leben, aber die Guten wären ohne die Schlechten glatt aufgeschmissen.“ Und, wir waren beim Thema Alkohol und Keun: „Die Einnahmen der Hoteliers und vor allem vieler Kellner werden sehr zurückgehen, weil gute Menschen, die nur ungegorene Getränke zu sich nehmen, selten in jenen Überschwang geraten, der zu einer großzügigen Behandlung der Trinkgeldfrage verleitet.“

Prost, Irmgard, dein Tralow sei Dir verziehen, Joseph Roth aber wusste, was er an Dir hatte. Die Männer, die Dich gern kleiner schreiben, sind neidisch, weil sie nicht so schreiben konnten und können wie Du. Die Frauen, die Dich vereinnahmen wollten und wollen, sie übersehen, dass Du schon vor 80 Jahren konntest, was sie selten auch nur als für sich unerreichbar erkennen. Du wusstest, was nur Frauen wissen: In allem Mangel ist der schlimmste Mangel der an brauchbaren Schuhen. Und Du hast davon mit jener Selbstironie geschrieben, die Dich normalerweise jedem Feminismus unerträglich und verdächtig machen müsste. Prost, Irmgard!


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