Herbert Nachbar: Zwei Jungen
Kein Titel. Nichts. So etwa müsste ein Beitrag über Herbert Nachbar beginnen, der den Blick des Westens, zu Nachbars Lebzeiten noch allgemein „Westdeutschland“ genannt, auf ihn erkunden wollte. Die „Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe“ von Wolfgang Emmerich nennt den Namen genau zweimal: einmal ist Nachbar einer, der den Bitterfelder Weg mitging, einmal ist Nachbar einer, den man zur so genannten Ankunftsliteratur rechnen kann. Das war es, kein Titel, nichts. Auch Fritz J. Raddatz kennt Nachbar nicht. Sein Band 1 von „Zur deutschen Literatur der Zeit. Traditionen und Tendenzen. Materialien zur Literatur der DDR“ vermeldet Nachbar einmal als Mitgänger auf dem Bitterfelder Weg, sonst: Kein Titel, nichts. Werner Jung, Verfasser des Nachbar-Essays für das KLG, „Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“ hat sich immerhin ein wenig kundig gemacht, sich intensiver sogar mit den späteren Büchern Nachbars befasst und vor allem Eva Strittmatter des Fehlurteils gescholten, das sie über das frühe Buch „Die gestohlene Insel“ abgab anno 1958. Wer das nachprüfen möchte, muss sich etwas aufwendiger um alte Ausgaben der Zeitschrift NDL bemühen, denn von Eva Strittmatter ist mittlerweile zwar alles gesammelt, was des Sammelns für wert befunden wurde, um ihre frühe literaturkritische Tätigkeit aber machen alle einen Bogen.
Wer aber die Bibliographie der Sekundärliteratur zu Herbert Nachbar im Anhang zu Werner Jung studiert, stellt fest: westdeutsche Beiträge gibt es schlicht nicht. Niemand hat sich offenbar je zu Lebzeiten Nachbars für ihn interessiert. Dabei umfasst sein Werk immerhin 14 Bücher in diesen Jahren, dazu ein illustrierter Band mit norwegischen Märchen, den er herausgegeben hat, nach seinem Tod am 25. Mai 1980 folgten weitere drei Bände. Diese Bibliographie vermittelt zudem dank ihrer erschütternden Unvollständigkeit in einer gravierenden Hinsicht ein vollkommen falsches Bild: Es sieht aus, als hätte auch das Zentralorgan der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, das ND, „Neues Deutschland“, alle Jahre dezent an Herbert Nachbar vorbeigeschaut. Was aus westlicher Sicht ja entschieden für ihn gesprochen hätte. Doch genau das ist falsch. Und der Bibliograph hätte es wissen müssen, denn die Quelle, die es besser weiß, hat er selbst angeführt. Sie findet sich im Anhang von Horst Kiesers Porträt von Herbert Nachbar, gedruckt im Band II von „Literatur der Deutschen Demokratischen Republik. Einzeldarstellungen“. Demzufolge gab es im ND nicht weniger als neun kritische Beiträge zwischen 1961 und 1976, weiter reicht die Aufstellung nicht, dazu kommen nicht weniger als vier Interviews. Sehr häufig war Herbert Nachbar auch in der Wochenschrift des Kulturbundes des DDR, dem „Sonntag“ präsent.
Heute wäre Herbert Nachbar 90 Jahre alt, angesichts der vielen, vielen Überlebenden des Jahrgangs 1930 gar keine abwegige Vorstellung, mit Blick auf sein frühes Todesdatum aber, siehe oben, scheint es wundersam, überhaupt an ihn zu denken. Ich tue es. Und zwar gern. Und beflügelt durch ein zufälliges Zusammentreffen zweier Lektüren. Ich las die in beiden Teilen Deutschlands, als dies noch geteiltes Land war, überaus berühmte Geschichte „Unruhige Nacht“ von Albrecht Goes und unmittelbar danach „Zwei Jungen“ von Herbert Nachbar. Ende 1949 die eine zuerst veröffentlicht, 1957 die andere, da lag die Goes-Geschichte schon vor in der DDR. Hätte mich nicht an Goes 1949 etwas gestört, was ich hier nicht ausführe, weil es in Kürze ein eigenes Thema für mich ist, wäre mir die spezielle Qualität der Nachbar-Geschichte wohl auch nicht verborgen geblieben, ich hätte sie aber kaum so deutlich wahrgenommen. Kurz: Auch Herbert Nachbar will nicht leugnen, dass er, die Handlungszeit ist nur indirekt erschließbar, vermutlich 1939 oder 1941, rückblickend erzählt. Das erscheint im Text jedoch nicht, beziehungsweise nur dadurch, und das ist dann für mich eine besondere Kunst, dass es beim Leser, der natürlich weiß, wie die Geschichte, nicht die erzählte, wohl aber die deutsche, weiterging, ein Schaudern erzeugt, eine Vorahnung des Entsetzens in allen Nuancen, die sich hier, in vergleichsweise harmlosem Geschehen, mit aller Macht ankündigt.
Was wird erzählt auf wenigen Druckseiten? Zwei Freunde, Jungen, Knaben hätte sie Hermann Hesse genannt, die Nachbarn sind, Kinder sehr unterschiedlicher Milieus, wollen am Wochenende lieber allein und abenteuerlich im Landhaus der Familie Hirschfeld zubringen, als an den anbefohlenen Unternehmungen der Hitlerjugend teilzunehmen. Beide Mütter, so unterschiedlich sie sind, betont Autor Nachbar, tun eines nahezu Woche für Woche: sie schreiben Entschuldigungszettel für die Söhne, damit diese nicht als unentschuldigt fehlend geführt werden können. Beide haben zusammen nur ein Fahrrad, was den zehn Kilometer langen Weg deutlich erschwert, weil einer immer laufen muss. Beide haben nur abgezähltes Brückengeld bei sich, eine Margarine-Stulle der eine, Eukalyptusbonbons der andere als Wegzehrung. Sie hoffen auf Vorräte im Haus. Der Sohn aus wohlhabendem Hause heißt Siegfried, hat aber den Spitznamen Bobbie. Der Sohn aus dem ärmeren Haus, der seine Schulaufgaben am Küchentisch erledigen muss, während sein Freund ein eigenes Zimmer hat mit eigenem Schreibpult und Ahnenbild im Haus, heißt Eugen Stresow. Der Name Stresow kommt bei Herbert Nachbar immer wieder einmal vor, was dazu führte, dass dieser Eugen schon mal als Martin genannt wird, denn solchen Knaben gibt es eben auch im Nachbar-Werk. Hier aber versuchen beide zunächst einmal, möglichst keinen anderen Kindern ihres Alters zu begegnen.
Und dann passiert genau das, was besser nicht passiert wäre. Sie haben die Brücke schon hinter sich, als ein marschierender Zug Pimpfe herankommt, dessen kommandierender Anführer, kleiner und wohl sich auch jünger als Eugen und Bobbie, die beiden anbrüllt, weil sie die Fahne der Kolonne nicht gegrüßt haben. Unwillkürlich denkt man an jenen Vogt Gessler aus Schillers „Wilhelm Tell“, auch wenn es hier ja immerhin eine Fahne und kein Hut ist, was die Sache kaum besser macht. In den Augen des Jungen mit der Befehlsgewalt kommen hier zwei schwere Delikte vor: Missachtung der Fahne und dann noch Befehlsverweigerung, weil die beiden seine Weisung, stehenzubleiben, nicht sofort befolgten. Sie müssen verraten, zu welchem Fähnlein sie gehören und wer ihr Kommandeur ist. Herbert Nachbar führt die Geschichte nur bis zu dem Punkt, wo die beiden Jungen im Landhaus allein sind, nichts zu essen gefunden haben und mit Pellkartoffeln auskommen müssen, die Kartoffeln ohne alles Geschenk einer Nachbarin. Fast unter geht bei allem, dass der Vater von Siegfried Jude ist, der Name Hirschfeld deutet es an. Noch, weiß der Kundige der Geschichte, ist der Sohn Siegfried nicht akut bedroht, darf sogar noch bei der Hitlerjugend mitmachen. Noch ist der Vater nicht akut bedroht, auch wenn schon Krieg ist. Eugen, der im Haus Hirschfeld belauschen musste, was am dortigen Mittagstisch beredet wurde, ist neugierig.
Und dann verrät ihm Bobbie ein großes Geheimnis: Familie Hirschfeld betet jeden Tag, dass der Krieg verloren gehe für Deutschland. Eugen verspricht, das nicht einmal seiner Mutter zu erzählen. Es gibt in dieser Geschichte nichts als die einfach fortlaufende Geschichte. Kein Erzähler mischt sich wissend oder gar belehrend ein, nichts wird gedeutet, gar bewertet. Es geschieht einfach. Einmal mischt Herbert Nachbar ein kleines Credo ein, Bruchstück einer Konfession, könnte man es anspielungsklug nennen. Während die Familie Hirschfeld ihre Mittagsmahlzeit einnimmt, die Idee, den Gast und Freund des Sohnes dazu zu laden, kommt ihnen gar nicht, blättert Eugen in einem sehr berühmten Buch: „Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht“. Und sein Blick fällt auf eine ganz bestimmte Stelle, was natürlich Zufall ist und in besserer Literatur niemals Zufall. Er liest: „Der Sultan ließ sich von den Beteiligten die ganze Geschichte ausführlich erzählen und fand sie so merkwürdig, dass er seinem Geheimschreiber befahl, sie zu Nutz und Frommen der Nachwelt aufzuschreiben“. Wir erleben, will das heißen, den Erzähler Herbert Nachbar gewissermaßen als Geheimschreiber für die Nachwelt. Man muss nicht übertrieben viel Phantasie aufbringen, um zu ahnen, dass hier sehr viel eigenes Erleben eingeflossen ist. Wer am 12. Februar 1930 geboren wurde, war 1939 oder 1940 neun oder zehn Jahre alt, just im Alter von Eugen und Bobbie.
In meinem Exemplar von „Ein dunkler Stern“, dem 1973 zuerst erschienenen Roman Nachbars, finde ich Bleistift-Punkte an den Seiten, meine 40 Jahre zurückliegende Lektüre dokumentierend, ich beendete sie am 29. Mai 1980, genau vier Tage nach Nachbars Tod. Was mir damals kaum bewusst gewesen sein dürfte, denn ich hatte hauptsächlich mit der Endfassung meiner Diplomarbeit zu tun. Zuvor las ich 1968 „Oben fährt der große Wagen“ und 1973 „Haus unterm Regen“. Das war es dann schon. Als ich vor fünf Jahren erneut einen Nachbar-Text las, einen sehr alten, schrieb ich in meine jetzt neu angelegte Archivdatei den Satz: „Besonders neugierig auf mehr Nachbar macht so etwas nun wahrlich nicht.“ An meinem Urteil über „Von der Werft“, gedruckt in der Anthologie „Des Sieges Gewissheit. Ein Volksbuch vom Aufbau der Deutschen Demokratischen Republik“ (1959) muss ich nichts ändern, der schwache Text wertet freilich nicht ab, was vom starken Text „Zwei Jungen“ zu sagen war. Herbert Nachbar ist nie als Dissident aufgefallen, was ihn ganz sicher für den Westen zusätzlich unsichtbar machte. Aus den Tagebüchern von Brigitte Reimann wissen wir allerdings nicht nur, dass beide gemeinsam den ersten Kuss tauschten, ohne noch ihrer beider Namen zu kennen. Wir wissen auch von einem Roman, der nie erschien und von Nachbars frühen Todesahnungen. Sie sprachen über Verbrechen, die im Namen des Sozialismus begangen worden waren. Es war November 1956, die Aussagen des XX. KPdSU-Parteitages kein Geheimnis mehr.