Marlen Haushofer, erster Versuch
Dies ist, die Überschrift sagt es, mein erster Versuch zu Marlen Haushofer, der Österreicherin, die heute vor fünfzig Jahren einen schrecklichen Krebstod starb, drei Wochen vor ihrem fünfzigsten Geburtstag. Was man ihr Vermächtnis nennen könnte, ihr literarisches Testament, war überschrieben mit „Mach dir keine Sorgen“, mühsam zu Papier gebracht am 26. Februar 1970, dem Tag vor meinem siebzehnten Geburtstag. Ich las in jenem Februar stolze 19 Bücher, darunter Gorki, Jack London, Jules Verne, Willi Bredel, darunter auch der „Ole Bienkopp“ von Erwin Strittmatter und „Der Untertan“ von Heinrich Mann, ich schrieb darüber vor wenigen Tagen erst. Marlen Haushofer kannte ich nicht. Hätte ich damals schon gewusst, wie viele Männer (und Frauen auch) diese Autorin bis zu ihrem viel zu frühen Tod ignorierten, man darf wohl auch sagen: totschwiegen, wäre ich vielleicht aus reinem Mitgefühl neugierig gewesen. Vielleicht, dergleichen behauptet sich später leicht. Und ein erster Versuch sollte bei allen Vorwürfen, die er sehr wahrscheinlich auf sich zieht, einen nicht bekommen: den der Unredlichkeit. Am liebsten hätte ich diesen Zeilen den Titel gegeben „Wer hat Angst vor Marlen Haushofer?“ Doch gibt es diesen Titel schon, wenn auch nur für ein Kapitel der Haushofer-Biographie von Daniela Strigl, die der Frage dann gar nicht nachgeht.
Die Frage kann ich also aufgreifen und ein paar Antworten versuchen: Die Frauenbewegung hatte Angst vor ihr. Jedenfalls kennt die erste Auflage des Standardwerkes „Frauen Literatur Geschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart“ nicht einmal ihren Namen. Erst in der zweiten, vollständig neu bearbeiteten und erweiterten Auflage zehn Jahre später taucht er auf. Hiltrud Gnüg, die Mitherausgeberin auch schon der ersten Auflage, behandelt Haushofer unter „Weibliche Utopien“. Gnüg hat, das der Vollständigkeit halber, ein paar Zeilen zu Haushofer auch in ihrem Buch „Utopie und utopischer Roman“. Spätstarter und Selbstkorrektor war auch Jürgen Serke, unter dessen immer verdienstvollen Büchern eines ist mit dem Titel „Frauen schreiben“. Bis 1982, als die Taschenbuchausgabe bei S. Fischer erschien, wusste er offenbar nicht, dass Marlen Haushofer schrieb, obwohl er diverse andere Österreicherinnen durchaus kannte und kenntnisreich porträtierte. Erst aus dem Jahr 1991 vermeldet die Bibliographie einen Text von Serke zu ihr und zwar zu „Bartls Abenteuer“, 1964 zuerst in Wien erschienen, dann 1988 bei Claasen in Düsseldorf, dann 1990 als dtv-Großdruck, 1998 Nachauflage dort und schließlich 2002 erneut, nun im Ullstein Taschenbuchverlag, alle mit einer Katze vorne drauf. Ich zum Beispiel liebe Katzen sehr.
Weitere und sehr seltsame Antwort: Die DDR hatte Angst vor Haushofer. Sie fehlt im großen Lesebuch „Österreich heute“ des Verlages Volk und Welt, sie fehlt in „Erkundungen. 41 österreichische Erzähler“, ebenfalls Volk und Welt, und sie fehlt in „Österreichische Literatur des 20. Jahrhunderts“, Verlag Volk und Wissen Berlin. Noch weiß ich nicht, was die DDR an der großen Erzählerin nicht mochte oder mögen durfte laut Ratschluss der Literaturgötter. Überfliegt man die Namen der Autoren, die in der Bibliographie der Sekundärliteratur aufgeführt sind, fehlen auffallend alle so genannten Großkritiker der großen Feuilletons aus Deutschland. Kein Reinhard Baumgart, kein Reich-Ranicki, kein Gottfried John. Als dann aber die Verfilmung von „Die Wand“ mit Martina Gedeck in die Kinos kam, da sausten die Meinungsführer-Medien um die Wette, jeder und jede wollte nun auch endlich etwas gesagt und geschrieben haben. Für den SPIEGEL etwa hatte immerhin 1984 schon jemand geschrieben: Martin Lüdke. Dessen Buch „Für den SPIEGEL geschrieben. Eine kleine Literaturgeschichte“ weist allerdings aus, dass die Redaktion just diesen seinen Beitrag, Titel „Ich sehe schwarz“, nicht ins Blatt hob. Ich habe den begründeten Verdacht, dass Hans Weigel, trotz seines Brecht-Hasses ein Großer, schon 1959 alles sagte und wusste.
In „Die unbetreute Literatur: Marlen Haushofer“ schrieb er: „Marlen Haushofer bietet ein sehr einprägsames Beispiel der großen, nur höchst unzureichend wahrgenommenen Möglichkeiten unserer literarischen Gegenwart.“ Und: „Durch ihre besondere Begabung wäre Marlen Haushofer als Erzählerin hohen Ranges legitimiert.“ Und: „Ihre ersten Romane wurden nicht verlegt, obwohl sie reich an faszinierender Gestaltung waren.“ Und: „Sie ist mehr als ein Talent, sie ist eine sehr hervorragende Darstellerin von Menschen und Schicksalen. Ihre Schlichtheit ist nicht mit dem provinziellen Heimatklischee zu verwechseln“. Da ist der Punkt: Ihre Schlichtheit. Das hat den Hohepriestern der Unverständlichkeit, den Predigern der Hyperreflexion, die zwanghaft Schlichtheit mit Dummheit verwechseln müssen, jeden Zugang verbaut. Wenige Jahre später schrieb Hans Weigel: „Noch ist es in Österreich keine Schande, eine grammatikalisch richtigen Satz zu veröffentlichen. Auch muss die erzählende Prosa nicht unbedingt von der Atombombe oder von Perversionen handeln. Unsere Themen sind gelegentlich gewisse ewige menschliche Dinge des einzelnen Menschen – das ist wahrscheinlich sehr reaktionär – macht auch nichts! - In ihrem schönen Buch „Himmel, der nirgends endet“ beschreibt die Haushofer die Entwicklung einer Seele vom frühesten Bewusstsein bis zur Pubertät. Auch das ist nämlich aktuell.“ Ist mehr dazu zu sagen?
„Wer Marlen Haushofer nicht kennt, soll es bedauern und soll nicht sie und soll nicht sich verantwortlich machen, sondern alle jene unverantwortlichen Verantwortlichen, die am unrechten Ort den unrechten Leuten ungebührliche Aufmerksamkeit erweisen: die Funktionäre des literarischen Unrechts in unserer Zweiten Republik.“ Die Bonner Republik durfte sich mitgemeint fühlen, die Berliner hat immerhin ein bisschen Schuld getilgt. „Mach dir keine Sorgen – alles wird vergebens gewesen sein – wie bei allen Menschen vor dir. Eine völlig normale Geschichte.“ So endete Marlen Haushofers letzter Text. Daniela Strigl kommentiert: „Dieser Text erschüttert, weil ihm jedes Selbstmitleid fehlt, weil diese Lebensbilanz für die Vergangenheit wie für die Zukunft auf jeden Trost verzichtet. Sein Resignieren hat etwas Souveränes.“ Die Biografin erinnert außerdem an einen peinlichen Vorgang um diesen Text. In „Literatur und Kritik“, im April 1966 gegründet, geleitet von Jeannie Ebner, wurde der zweite Teil des Haushofer-Satzes „Dafür sei Gott gedankt, den es nicht gibt.“ einfach weggelassen. Daniela Strigl kommentiert: „Auch in einer säkularisierten Welt ist die Gelassenheit, mit der Marlen Haushofer die Existenz einer Himmelsmacht leugnet, offenbar unerträglich.“ Österreich ist immer noch, sei erinnert, ein sehr katholisches Land.
„Ich heiße Fredi und bin zehn Jahre alt. Mein Freund Peter hat eine Spritzpistole, ein Kinderfahrrad und eine Indianerausrüstung. Auf die Spritzpistole und das Kinderfahrrad könnte ich verzichten, aber eine Indianerausrüstung brauche ich dringend. Außerdem wünsche ich mir einen großen Hund. Den werde ich wohl nie bekommen, weil wir keinen Garten haben und im zweiten Stock wohnen. Das wäre kein Leben für einen großen Hund, sagt mein Vater, und das sehe ich ein. Die Indianerausrüstung, sagt er, könnte ich mir kaufen, wenn ich ein bisschen sparsamer wäre. Ich weiß nicht, wie mein Vater sich das vorstellt. Ich müsste, bei meinem Taschengeld, fünfzehn Jahre sparen und ich fürchte, dass mich dann die Ausrüstung nicht mehr freuen würde. Weil ich nicht gut rechnen kann, hat mein Freund Karli für mich ausgerechnet, wie lang ich sparen müsste.“ So beginnt das wunderbare Kinderbuch „Brav sein ist schwer“, mit dem Marlen Haushofer einen Klassiker für Kinder gelungen ist. 1965 erschien es zuerst, fünf Jahre später folgte „Schlimm sein ist auch kein Vergnügen“ schon posthum, beide mit Zeichnungen von Ilon Wikland, die einfach nur schön sind. Beide Bücher zusammen gibt es auch in einem Band. Andere ihrer Bücher für junge Leser heißen „Müssen Tiere draußen bleiben?“ und „Wohin mit dem Dackel?“ Verraten sei noch, dass Fredi eigentlich zwei Indianerausrüstungen brauchte, weil eine nur Spaß macht, wenn Karli auch eine hat.
Für alle, die meine Überzeugung teilen, dass Romane nicht das auserwählte Volk unter den Völkern sind, was gegen einzelne Romane nichts besagt, wohl aber etwas besagen soll gegen den bösen Tunnelblick auf sie, der Feuilleton und Literaturgeschichtsschreibung beherrscht, seien, dies ist ein erster Versuch, die beiden Bände „Gesammelte Erzählungen“ von Marlen Haushofer nachdrücklich empfohlen. Sie heißen „Begegnung mit dem Fremden“ und „Schreckliche Treue“ und haben den großen Vorteil gegenüber den Originalbänden, dass sie auch solche Geschichten enthalten, die vorher nie in einem Buch standen, ganze 28 davon in „Begegnung mit dem Fremden“. Der Nachlassverwalter Oskar Jan Tauschinski hat mit seiner Anordnung dafür gesorgt, dass „Die schöne Melusine“ vorn steht und wer sie gelesen hat, dem muss niemand mehr kommen mit Werbung für Marlen Haushofer. Der will einfach mehr. Lustig ist, dass der Claassen Verlag hinten von weiteren 20 Geschichten spricht, obwohl außer den 28 nur noch 19 drin sind, ich habe sogar das unabhängige Institut für Geschichtenzählung hinzugezogen, es bleiben 19. Die man lesen muss. Die Schlichtheit, von der schon die Rede war, ist in jeder Zeile. Nicht sie deuten, reflektieren, bewerten, was erzählt wird, das bleibt dem Leser, der still und geradeaus von Verblüffung zu Verblüffung geführt wird.
Man könnte, wage ich zu behaupten, an diesen kurzen und sehr kurzen Geschichten ganze Soziologien des Ehelebens, der Mutterlebens, des Hausfrauenlebens entfalten, nicht spektakulär, alles alltäglichster Alltag, aber von eine Genauigkeit des Sehens, von einer Prägnanz des Schreibens, immer wieder von einer Poesie wie durchleuchtet. Dabei ist kaum irgendwo Idylle, wenn, dann bei den Kindern, die oft vorkommen. Marlen Haushofer erzählt davon, dass der Hund die Frau beißt und wartet nicht auf den seltenen umgekehrten Fall. Sie erzählt eher vom Zusammenbleiben als vom Auseinanderrennen, eher vom Sicheinschränken als von rücksichtsarmer Selbstverwirklichung, Kampfschriften der Emanzipation lesen sich anders. Vielleicht rührt daher die unleugbare Zurückhaltung der Frontfrauen des Feminismus. Haushofer hat vielleicht eine weibliche Klagemauer errichtet: doch mit einer durchsichtigen Wand davor. Von der Katze Melusine heißt es: „Melusine fing niemals Mäuse. Sie stand stundenlang im Bach auf einem Stein und wartete, die gekrümmte Pfote erhoben, auf die vorüberschwimmenden Forellen.“ In „Eine gruselige Geschichte“ steht: „...und am Abend verbargen wir Kinder uns im Keller und lauerten mit Schrotgewehren auf die hin und her huschenden Ratten.“ Kinder mit Schrotgewehren! Wie viele Leser eines solchen Satzes sind 2020 bereit, ihn einfach hinzunehmen? Haushofer schrieb ihn.