August Strindberg, alter Schwede

Im hohen Norden weiß man, was nötig ist. Auf alle Fälle ahnt man es. „Er hatte keine norwegischen Nerven; mit denen kann man in einer Schmiede schreiben – vorausgesetzt, daß niemand gegenüber Klavier spielt!“ Jonas Lie, selbst Norweger (1833 – 1908), schrieb das über August Strindberg, mit dem er ein Leben lang befreundet blieb, den Schweden. Die Nerven waren ein Problem Strindbergs und sie haben nicht nur bisweilen mehr Aufmerksamkeit gebunden als sein Werk. Wenn dem heutigen 100. Todestag Strindbergs überall große Achtung entgegen gebracht wird, dann zeigen die zahlreichen Veröffentlichungen dazu auf wunderbar einfache Weise ein Medienproblem. Niemand fühlt sich veranlasst, etwa erst alle 60 Dramen Strindbergs zu lesen oder die Romane, die Erzählungen, die mehr als 8000 Briefe, um dann, gewissermaßen erdbebensicher fundiert, einige kleine Meinungen zum schwedischen Literatur-Riesen zu formulieren. Dergleichen bliebe den Biografen überlassen, die aber offenbar Zurückhaltung übten.

Es ist aber, um Missverständnisse auszuschließen oder gar unerfüllbare Maßstäbe zu postulieren, auch nicht nötig, allzu weit auszuholen, denn Strindberg ist, anders als Henrik Ibsen, der Norweger, derzeit eben nicht auf allen Bühnen zu Hause, eben nicht in fast aller Munde. Man könnte vorsorglich bereits einen sicher kaum zu überschätzenden Faktor dafür gleich eingangs anführen: Wer im Ruf steht, ein Frauenfeind, ja, ein Frauenhasser zu sein, darf sich im Zeitalter nicht nur selbstbewusster, nicht nur emanzipierter, sondern vor allem als Leserinnen, als Kulturkonsumentinnen überaus dominanter Frauen nicht wundern, dass er nicht an den Spitzen der Bestseller-Listen steht und die Diskurse ihn umkreisen. Und auch Männer in ihrer Kultur konsumierenden Mehrheit werden sich kaum ausnahmsweise an Strindberg delektieren, soweit er tatsächlich Frauenfeind und/oder Frauenhasser ist. Es muss hier nicht erörtert werden.

Ein überaus kluger und nicht lange um die Sache herum redender Mann aus einem anderen Kulturkreis schrieb nach dem Tod Strindbergs am 14. Mai 1912: „Er besaß die seltene Eigenschaft eines innerlich freien Menschen: Er haßte alle Dogmen, sogar jene, die er selbst aufgestellt hatte.“ Das wäre ein Prüfauftrag an die Stiftung Literaturtest, Maxim Gorki hat ihn formuliert und zugleich das getan, was seine Äußerung zusätzlich sympathisch macht: eingeräumt, den Dramatiker Strindberg kaum zu kennen, wohl aber den Prosaiker. Gorki war auch kein Adept Freuds, er hätte sonst das mit der inneren Freiheit wohl auf jeden Fall nicht ganz so apodiktisch ausgedrückt. Strindberg, das ist wohl sehr entscheidend, war von einer überbordenden Produktivität, die auch kleine Geister auszeichnen kann. Nur kommt dabei die ewige Wiederkehr des Gleichen heraus. Und genau das geschah bei Strindberg nicht.

Man kann heute fast in Schreckstarre verfallen, wenn man liest, dass dieser 1849 geborene Schwede in den wenigen, es waren etwa sechs, Jahren seines ersten freiwilligen Exils, 25 Bücher schrieb. Die Stücke, von den Einaktern bis zu den großen Spielen, die im Druck 200 Seiten und mehr umfassen, entstammen flutender Produktion, seine Novellen und Erzählungen gerieten fast immer sogleich zu Zyklen und wurden dann auch noch fortgesetzt. Darüber hinaus schrieb er Texte von wissenschaftlichem Anspruch, befasste sich fundiert, wenn auch keineswegs immer unter dem Beifall seiner Landsleute und Kritiker, mit schwedischer Geschichte. Mich überraschte im wahrsten Sinne vor Jahren ein Band mit dem Titel „Verwirrte Sinneseindrücke“, der Strindberg-Schriften zu Malerei, Photographie und Naturwissenschaften versammelt. Kann einer, möchte man naiv fragen, der sozusagen 26 Stunden am Tag produktiv war, überhaupt noch Probleme gehabt haben in alltäglichen Leben? Er konnte und er hatte.

Strindberg hat den Nobelpreis für Literatur nicht bekommen, etliche Schweden nach ihm schon, zuletzt Tomas Tranströmer (siehe mein MEDIENBLICK vom 6. Oktober 2011), sein Ruhm zu Lebzeiten aber war gigantisch, seine Rolle für das Theater des 20. Jahrhunderts ist vielfach mit viel Überschwang dargestellt worden. Demnach hat er in seinem gar nicht so sehr langen Leben ja nicht nur selbst diverse Entwicklungsphasen durchlebt, fast alle im Schnelldurchlauf, er hat auch Entwicklungen vorweggenommen: Expressionismus, Surrealismus, absurdes Theater und das, obwohl er eben selbst Realismus, Naturalismus, Neuromantik durchspielte. Wer heute „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ sieht, sieht die Schule von Strindbergs „Totentanz“ aus dem Jahr 1901, Uraufführung in Köln, später Tournee durch vierzig europäische Städte. Und, nun kommt es allerdings, wer „Der Totentanz“ liest, seit Rudolf Noeltes Inszenierung am Schlosspark-Theater in Berlin 1971 auch als „Todestanz“ aufgeführt, der wird mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit enttäuscht sein. Das Epochenstück wirkt langweilig.

Es wirkt fast erschreckend langweilig, hat man vorher Gerhard Stadelmaiers Paraphrase des Stücks in dessen bis heute unbedingt empfehlenswerter Sammlung „Traumtheater. Vierundvierzig Lieblingsstücke“ gelesen. Das ist der berühmte Effekt, der sich nach Kenntnisnahme des Sartre-Satzes, die Hölle seien immer die anderen, vom Text abwendet und nur noch über die anderen als Hölle fabuliert. Denn auch im „Totentanz“ gibt es solche Sätze, es sind nicht viel mehr als drei oder vier, sie sollen hier nicht zitiert werden, jeder kann sie leicht finden, wenn er es mag. Ansonsten aber zieht sich das und zieht sich und zieht sich. Selbst das „Fräulein Julie“, statistisch sicher Spitzenreiter unter neueren Strindberg-Inszenierungen, ist nicht mehr ganz reinen Herzens zu konsumieren. Die anderen als Hölle, das Leben als Ehe-Hölle, das hat heute, wer es will, in den unterirdisch peinlichen, fast tödliche Fremdschäm-Effekte erzeugenden Werken der „Scripted Reality“ im privaten Fernsehen. Stadelmaier fußt übrigens auf der Noelte-Fassung, das Buch verschweigt leider seine konkreten Bezüge.

In der DDR erschienen wohl umfangreiche Ausgaben von August Strindberg, vor allem im Rostocker Hinstorff-Verlag, aber auch in der Sammlung Dieterich, auf der Bühne jedoch ernteten Regisseure eher Maulschellen oder mindestens vornehme Missachtung, wenn sie sich einen Strindberg vornahmen. Hans Dieter Mäde probierte am Maxim-Gorki-Theater die Historie „Erik XIV.“ und musste lesen, das Stück sei „vom Stoff her schwer in eine Verbindlichkeit für uns zu bringen.“ (Ernst Schumacher). Heute mag man kaum glauben, mit welcher Selbstverständlichkeit installierte Literatur- und Theaterpäpste des Sozialismus in den Farben der DDR eine Art gesellschaftlichen Gesamtkörper voraussetzten, dem etwas nur zu verabreichen war, wenn es eine definierte Nahrhaftigkeit ausweisen konnte. Als am Berliner Ensemble dann B. K. Tragelehn und Einar Schleef „Fräulein Julie“ machten, noch in den Beschreibungen der ideologisch-politisch ablehnenden Kritik wurde die Grandiosität des schauspielerischen Wurfs eingestanden, gab es unverblümt den Tiefschlag, es handle sich letztlich um spätbürgerliches Spielen unter Missachtung der Lehren Brechts und also eine Art künstlerischen Straftatbestandes.

Schon vor reichlich fünzig Jahren stellte sich, um auf den „Totentanz“ zurückzukommen, die Kritik die Frage, ob das überhaupt noch spielbar sei. Albert Schulze Vellinghausen als Zuschauer im Düsseldorfer Schauspielhaus zweifelte es dezent an, formulierte aber zugleich Vorgaben. Walther Karsch, der 1961 Walter Henns Inszenierung im Berliner Schlosspark-Theater sah (mit Marianne Hoppe als Alice), vermutete, dass vor allem die großartigen Rollen für große Darsteller immer wieder zu „Fräulein Julie“ und zum „Totentanz“ verleiten würden. Das soll man nicht verachten. Es gibt Theaterabende, die man, drastisch gesprochen, in die Tonne drücken möchte, die aber dennoch unvergesslich bleiben, weil ein Darsteller, eine Darstellerin derart herausragte, dass man sie eben nicht aus dem Gedächtnis bekommt. Ich sah zuletzt „Die Räuber“ in Dresden, die von dieser Art waren (vgl. THEATERGÄNGE), wenngleich nicht gänzlich für die Tonne. Wenn alte Stücke das immer noch und immer wieder einmal leisten, haben sie schon ziemlich viel geleistet.

Einer meiner Lieblingskritiker alter Schule, Friedrich Luft, geboren, als Strindberg noch lebte, hat sich den Spaß erlaubt, Friedrich Dürrenmatts „Play Strindberg“ in Doppelrolle beim „Totentanz“ zu sehen. Am 13. Dezember 1971 schrieb er: „Dürrenmatt hatte den „Totentanz“ für die Bühne gerettet und dadurch möglich gemacht, daß er einfach die Persiflage davon spielte...  Indem Dürrenmatt die immanente Komik des ständigen Schlagabtausches betonte, machte er das Stück wieder spielbar.“ Wenn es solcher Rettungen wirklich bedarf, dann ist es vielleicht besser, sich für unterlassene Hilfeleistung zu entscheiden. Was nicht gegen Dürrenmatt geschrieben ist, gegen den ich gar nicht könnte. Um den Freunden meiner Vorlieben auch dies noch ans Herz zu legen: Ludwig Marcuse, für den ich sonst immer werbe, hat „Strindberg. Das Leben der tragischen Seele“ 1920 geschrieben und 1922 veröffentlicht, es erreicht die Punkteränge unter seinen Büchern nicht, gerade weil es überambitioniert geschrieben wurde.

Alfred Polgar aber, jener Sechs-Sterne-Koch des Kleintext-Wesens, muss zitiert werden: „Strindberg versuchte, Auseinandersetzungen zwischen Mann und Frau als das darzustellen, was sie in Wirklichkeit zumeist sind: die Bemühungen zweier tönender Substanzen, zu gleicher Zeit auf demselben Fleck zu sein. Auch er scheiterte an der Aufgabe, einem Gegensatz Form zu geben, dessen innerste Tragik (oder Komik) ist, daß er jede sprengt.“ Sage noch einer, Physik und Literatur seien getrennte Welten. In Österreich, wo der Polgar ja heimisch war, gibt es dieser Tage Sondererinnerungen an Strindberg wegen seines längeren Aufenthaltes daselbst. Was mir wiederum die Chance eröffnet, auf einen Bestseller-Autor zu verweisen, der Wahl-Österreicher ist und inzwischen nicht mehr die allerobersten Plätze erklimmt in den Bücher-Hitlisten, auf Dietmar Grieser, Jahrgang 1934. In dessen „Nachsommertraum“ kann man über August Strindberg am Mondsee lesen. Auch da war er, der alte Schwede.


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