Noch einmal Herbert Nachbar
Als Herbert Nachbar starb, blieben mir bis zum Abgabetermin meiner Diplomarbeit nur noch wenige Wochen Zeit. Das Thema hatte sich kein halbes Jahr zuvor erst geändert: Nicht mehr Günter Kunert war mein Gegenstand, sondern der Fortschritt in der Kunst. Zum Glück hatte ich im Umfeld des frühen Kunert viel Literaturtheorie, viel Ästhetik gelesen, Stoff war da für die Not-Arbeit, denn Kunert war ausgereist aus der DDR und damit bis auf weiteres keine Sache wissenschaftlichen Umgangs mit ihm mehr. Herbert Nachbar aber starb am 25. Mai 1980, Pfingstsonntag, am Tag nach dem Geburtstag meiner Tochter. Was mich auf den Gedanken brachte, nach langer Pause wieder etwas von ihm zu lesen. Ich las „Ein dunkler Stern“ fast auf einen Ritt, 155 Seiten an einem Tag, den Rest am nächsten. Was ich nicht kannte damals, war ein Brief, den Christa Wolf an Brigitte Reimann schrieb am 30. Oktober 1972. Ich schrieb am 30. Oktober 1972 ebenfalls einen Brief, den man sogar nachlesen kann in „Kulturschock NVA“, meinem uniformfarbigen Buch mit dem Untertitel „Briefe eines Wehrpflichtigen 1971 – 1973“. Ich schrieb aus Schwerin an meine Eltern, die von Herbert Nachbar wohl nie eine Zeile lasen, „Haus unterm Regen“ hätte meine Mutter sehr erregt.
Berufsverbot wegen Westverwandtschaft hätte zu DDR-Zeiten niemals jemand gewagt, als Thema des Romans von 1965 zu nennen, letztlich lief es aber darauf hinaus, wenn einer nicht fliegen darf, obwohl er Flieger ist. Da half es auch wenig, wenn die Inhaber der DDR-Deutungshoheit dem am 12. Februar 1930 in Greifswald geborenen Nachbar einen gar beispielhaften Umgang mit den neuen, den nichtantagonistischen Widersprüchen im kleinen Arbeiter- und Bauern-Staat attestierten. Denen, die dem Widerspruch Hochzeit oder Fliegen ausgeliefert waren, denn sie waren im guten alten, vollkommen klassischen Sinne ausgeliefert, war es vermutlich ziemlich gleichgültig, mit welchen Begleitpapieren ihr Widerspruch sich bei der Pass-Kontrolle auswies. Christa Wolf aber schrieb an Brigitte Reimann: „Mit Herbert Nachbar sprach ich ein Weilchen ernsthaft. Er ist sehr krank. Du weißt es wohl. Wenn es stimmt, dass er multiple Sklerose hat, dann sind seine Aussichten grässlich, eine fortschreitende Lähmung. Er ist sehr ernst geworden und soll ein gutes Buch geschrieben haben. Verdammt, dass die guten Bücher immer an Leiden gebunden sind.“ Das gute Buch, von dem die Rede ist, war „Ein dunkler Stern“, man könnte es Kindheitsmuster vor „Kindheitsmuster“ nennen.
Wenn man weiß, welche Debatten Christa Wolfs „Kindheitsmuster“ Jahre später noch auslösten, kann man sich vorstellen, dass Herbert Nachbars Buch nicht mit Jubel begrüßt wurde. Indirekt hat dann auch die Kritikerin Renate Drenkow ausgesprochen, wo das Rezeptionsproblem für diesen kleinen Roman lag: Es mangelte ihm an hinreichend vielen, hinreichend geschichtsbestimmenden Kommunisten im Handlungsablauf. Wie wichtig die waren, lässt sich an anderen Stelle ablesen: Stephan Hermlin fälschte geradezu die tatsächliche Geschichte des Aufstandes im Warschauer Ghetto (vgl. http://www.eckhard-ullrich.de/naehkaestchen/4024-stoerfall-stephan-hermlin), um Kommunisten eine Rolle zuzuordnen, die sie gar nicht spielten. Als „Ein dunkler Stern“ erschien, ich las im Mai 1980 die Taschenbuch-Ausgabe in der bb-Reihe von 1978, war Nachbars Krankheit schon weit fortgeschritten. Bei Günter Caspar kann man Details nachlesen, sein Nachruf trägt den Titel „Freund Herbert. Dem Gedenken an Herbert Nachbar“, gedruckt in dem Caspar-Buch „Im Umgang. Zwölf Autoren-Konterfeis und eine Paraphrase“. Werner Liersch fand die Passage über die vielen Wohnungen, die Herbert Nachbar im Lauf seines nur fünfzig Jahre und drei Monate währenden Lebens inne hatte, so prägnant, dass er sie, natürlich mit korrekter Quellenangabe, in sein Buch „Dichters Ort. Ein literarischer Reiseführer“ integrierte. Zwölf Wohnungen waren das.
„Dreimal umgezogen ist wie einmal abgebrannt“ hätte meine Mutter gesagt, die knapp anderthalb Jahre älter war als Nachbar und ihn um fast vierzig Jahre überlebte. Wie gut Christa Wolf über die intimen Details der Beziehung von Brigitte Reimann und Herbert Nachbar informiert war, weiß ich natürlich nicht, Tagebücher und Briefe von Reimann sind bekanntlich erst viele Jahre später veröffentlicht worden, vom extensiven Liebesleben neben den vier Ehen hat Wolf wohl auch erst so viel später erfahren, wenn sie es überhaupt zur Kenntnis nahm. „Als er mich küsste, fielen zum ersten Male seine langen, weichen hellblonden Haare über mein Gesicht.“ Notierte Reimann am 19. November 1956 in ihr Tagebuch. Am Folgetag schrieb sie: „Die Männer haben nicht Format genug gehabt, durchzuhalten bis zum selbstverständlichen Ende: wenn jeder zurückkehrt in seinen Kreis, reicher um eine gute und schlimme Erinnerung, die tiefe Wirkung haben könnte auf seine literarische Arbeit.“ Herbert Nachbar war seit 1951 verheiratet mit Brigitte Kröning, die er 1949 in Warnemünde kennengelernt hatte, sie illustrierte viele seiner Bücher. Aber nach nur fünf Jahren Ehe betrog er sie schon: mit Brigitte Reimann zum Beispiel. Bei Günter Caspar heißt es kryptisch:„Herbert verdankt ihr viel … Nicht immer hat er es ihr gedankt.“ Nachbar war einfach zu schön.
Bei Reimann jedenfalls wird immer wieder auf diese Schönheit hingedeutet, wenn sie auf ihn zu sprechen (und zu schreiben) kommt. Am 23. November 1956 lagen beide nebeneinander unschuldig in einem Bett, wenige Tage später war es vorbei mit der Unschuld. Ob wir das alles wissen müssen, ist fraglich, wir erfahren es, weil Verlage meinen, es sei verkaufsfördernd, auch die intimeren Seiten des Lebens ihrer Autoren und Autorinnen öffentlich zu machen. Und bei Brigitte Reimann ist es in den frühen Jahren tatsächlich beinahe interessanter zu erfahren, wer von den männlichen Autoren- Jahrgängen, sagen wir 1920 bis 1933, nicht mit ihr im Bett war. Man kann das in den Tagebüchern alles sehr gut nachlesen. Es hat auch etwas Belustigendes und vor allem viel Beunruhigendes, man muss gar nicht in Psychologie promoviert haben, um eine junge, sehr schöne Frau mit den Schäden aus einer Kinderlähmung in ihrer Lebensgier zu verstehen. Mit Herbert Nachbar hielt es nicht lange, es gab Entfremdungen und neue Annäherungen, alles nachlesbar, es muss hier nicht reproduziert werden. Interessanter ist ein Eingeständnis des Lektors Günter Caspar, die Erzählung „Die Reise nach Dingslaken“ betreffend, die als Vorab-Druck in der neuen Aufbau-Reihe „Neue Texte. Almanach für deutsche Literatur“ erschien und zwar in der ersten Ausgabe vom Frühjahr 1962.
„Ein paar Nächte lang spannen wir die Fäden, tranken, qualmten, erfanden, verwarfen. Bis Herbert eines Tages sagte: Wir haben alles durchgehechelt, jetzt macht mir das Schreiben keinen Spaß mehr.“ Warum in der Reihenfolge genannter Tätigkeiten das Trinken zuerst genannt ist, ist bei Brigitte Reimann ebenfalls in extenso nachzulesen. Caspar aber zitiert sich dazu selbst aus einem Interview, dessen Veröffentlichungsort er verschweigt: „Das ist das Ärgste, was einem Lektor passieren kann: wenn er, im Bemühen mitzukonzipieren, dem Autor die Lust am Produzieren vermiest.“ Vielleicht war, was Herbert Nachbar selbst als Lektor erlebte, Lektor von Uwe Johnson in diesem Falle, gar nicht so schrecklich anders. Seine arg hilflos wirkende Argumentation im Redebeitrag vom 26. Mai 1961 während des V. Deutschen Schriftstellerkongresses deutet in diese Richtung. Günter Grass hatte den Umgang des Aufbau-Verlags mit Johnson heftig kritisiert (damals nahm Grass an einem Schriftstellerkongress in der DDR teil: wenige Wochen später vollkommen undenkbar) und Nachbar als zuständiger Lektor fühlte sich wohl direkt angesprochen. Er teilte nur mit, dass das Buch „Mutmaßungen über Jakob“ ihm in anderer Fassung vorgelegen habe als der, die dann im „Westen“ gedruckt wurde. Und lobte, arg peinlich, seine eigene Freiheit in der DDR.
„Es hinderte mich niemand daran, das zu schreiben, was ich als Wahrheit erkannt hatte, wie ich es erfahren und beobachtet hatte. … Ich weiß nicht, wie man unsere Freiheit anzweifeln kann, wenn man hört, wir wir da herangehen, einen Stoff zu erarbeiten, einen Stoff wirklich zu durchdringen.“ Zitiert wird bisweilen der letzte Satz seines Diskussionsbeitrages: „Wir haben nicht die Freiheit, unsere Unwissenheit zu verbreiten.“ Es ist gut denkbar, dass Günter Grass als Zeuge dieser Rede, die wie seine eigene freilich auch im Protokoll des Kongresses abgedruckt ist, auf Nachbar bei passender oder unpassender Gelegenheit als auf einen dreisten Schönredner zu sprechen kam. Die völlige Abwesenheit des Autors Herbert Nachbar in der veröffentlichten alten Bundesrepublik (vgl. http://www.eckhard-ullrich.de/jahrestage/3933-herbert-nachbar-zwei-jungen) kann keinesfalls auf die mindere Qualität dessen, was er schrieb, zurückgeführt werden. Im übrigen hat Nachbar am eigenen Leib erfahren, wie es ist, wenn ein Buch verhindert wird. Er hat nur nicht vor Kameras aus dem Westen, in Feuilletons des Westens Klage geführt, ganz abgesehen davon, dass seine seit 1966 fortschreitende Erkrankung ihn vor andere Probleme stellte: er hatte zu arbeiten. Günter Caspar hat die imponierende Reihe seiner Bücher seit 1973 1981 aufgelistet. Und allerdings hinzugesetzt: „Was von seinen Büchern bleibt, darüber entscheidet, wie immer in der Literatur, die Zeit.“
Solange tatsächlich die Zeit entscheidet, möchte man kalauern, nicht DIE ZEIT aus Hamburg, wäre alles in Ordnung. Es würde bezüglich Herbert Nachbars bedeuten, dass nichts blieb, seit 36 Jahren mittlerweile, soweit ich sehe, keine Neuveröffentlichung, keine Wiederauflage, nicht zu reden von eventuellen Entdeckungen. Soweit heutiges Schweigen nur die einfache, die simple und ein wenig dumme Konsequenz aus einstiger Ignoranz wäre, wären da schon noch gewisse offene Posten zu begleichen. Ich blättere in „Ein dunkler Stern“. Was schien mir damals zitierenswert? „Verfrüht bedeutet in der Politik falsch. Zum richtigen Zeitpunkt das Richtige machen, das ist Politik.“ Zum Beispiel. Oder: „Wahrscheinlich ist die Wirklichkeit, in der ich leben muss, viel kolportagehafter, als ich es mir auch nur träumen kann.“ Oder: „Die einen hatten Angst und waren aus Angst vorsichtig, die andern hatten allen Grund zur Angst, doch fragten sie zuerst, ob es Ärger für einen Außenstehenden gegeben hatte.“ Auch dies: „Niemand sagte, was er dachte, niemand dachte, was er sagte.“ Durfte man sich daran beruhigen, dass ja von 1938 die Rede war? In der lesenden DDR nicht. „Vielleicht war mit jeder Frage, die man sich stellte, schon die Antwort gegeben allein durch die Art der Frage.“ Verliert sich eine Art zu lesen mit dem Land, in dem sie die übliche Art war?
Ein spätes Werk von Herbert Nachbar trägt den Titel „Der Junge mit den knielangen Hosen.“ Erzählt wird von einer jungen Liebe ohne Happy End. Die Inspektorstochter Katharina Flemming muss mit Vater und Familie das Gut verlassen, auf dem der Vater angestellt war, nachdem es dort zu einem gemeinsamen Streik polnischer und deutscher Landarbeiter gekommen war. Sie war es, die dem Sohn einer Näherin zugetan war, den Nachbar als Erzähler einsetzt in seiner typischen Art. Sie küsst ihn und lässt sich küssen und nicht sehr viel später gehen beide auch ins Heu zusammen. Der Pastor nennt sie Rüpel und der Erzähler beobachtet, wie sich etwas verändert für ihn und an den Leuten, die von seiner Beziehung zu Katharina wissen. Alles sehr fein beobachtet, alles sehr fein beschrieben. Alles spricht für sich, kommentiert sich selbst, wenn denn überhaupt Bedarf an Kommentar besteht. Und dann steht da auch dies: „Eigentlich widerlich: heute redet einer noch, heute kann er sich noch bewegen, heute kann man ihn noch anfassen – und morgen kann man ihn nicht mehr anfassen, und er redet nicht mehr. Tot und weg.“ Die endgültige Trennung der jungen Liebenden fällt auf den 27. Juli 1930, der Erzähler legt seine langen Hosen ab und zieht wieder die alten knielangen an. Das mag heißen: ich will eine Zeit streichen aus meinem Leben. „Aber es war alles anders. Sogar die Sonne schien anders als sonst.“ Mehr sagen, hieße zu viel gesagt haben.