Dieser wackere Fichte
Am 18. Dezember 1987 erschien in einer auch heute noch existierenden Zeitung folgender kleiner Artikel: „Gewiß schlagen die Herzen einer ganzen Reihe von Studenten schon beim äußeren Anblick eines solchen Buches höher: Quellenliteratur aus Philosophiegeschichte zum Reclam-Preis ist sehr gefragt. Im vorliegenden Falle überredet bereits das Inhaltsverzeichnis zum wohlgefälligen Nicken: Allein 80 Seiten Nachwort versprechen solide Hilfestellung beim Verstehen und Einordnen der versammelten Dokumente. Werner Röhr hat es als Herausgeber geschrieben. In jeweils chronologischer Ordnung bieten neun Abschnitte jenen Vorgang zum Nachvollzug an, der als „Atheismusstreit“ in die Geschichte eingegangen ist und eine äußerliche Kulmination mit der Entlassung Johann Gottlieb Fichtes aus der Jenaer Universität erreichte. Das entscheidende Schreiben des Herzogs Karl August von Sachsen-Weimar vom 29. März 1799 findet sich auf S. 374/75. Viele, die am Ende des 18. Jahrhunderts Rang und Namen hatten im zersplitterten Deutschland, fühlten sich zu öffentlichen oder privaten Stellungnahmen veranlaßt in Sachen Fichte, Forberg, Niethammer. Mut und Diplomatie, klägliche Zurückhaltung und tapferes Mißverständnis, Solidarität und feiges Schweigen - direkt oder indirekt kann der Leser ein vielsagend breites Spektrum studieren.
Der Anschein, es könnte sich bei einer solchen Edition ein ausschließlich archivarisches Interesse manifestieren, wird nicht erst durch das Nachwort zurückgewiesen. Daran ändert nichts, daß Fragen wie die nach dem Verhältnis von Atheismus und Moralität heute doch wohl hinreichend geklärt sind. Wer sich bewußt ist, daß eine „moralische Mehrheit“ mit einem Fernsehprediger an der Spitze in den USA durchaus nicht erfolglos gegen Darwins Entwicklungstheorie als Schulstoff eifert, weiß auch, daß „die Vergangenheit nicht vergangen ist.“ Damals schrieb August Wilhelm Schlegel: „Der wackere Fichte streitet eigentlich für uns alle, und wenn er unterliegt, so sind die Scheiterhaufen wieder ganz nahe herbeigekommen.“ Zu weit griffen die kleinbürgerlich-demokratischen Ideen Fichtes der damaligen sozialen Realität voraus, der Schock der Französischen Revolution steckte der überlebten Ordnung noch tief in den Knochen.“
Der Autor der Annotation war ich, das Buch „Appellation an das Publikum... Dokumente zum Atheismusstreit Jena 1798/99“, Reclams Universalbibliothek 1179, kostete damals vier Mark der DDR. Es ist für alle, die bisweilen versucht sind, den Satz „In der DDR war auch nicht alles schlecht“ mit einem nicht vollkommen dämlichen Beispiel zu illustrieren, ein gutes Belegstück. Ein wissenschaftlich so sauberes, so aussagekräftig mit einem Apparat versehenes Buch zu diesem Preis, man muss keineswegs alle Aussagen des Nachworts teilen, das war keineswegs auf Verdummung oder Indoktrination angelegt. Zumal man noch heute auf engstem Buchraum eben auch die wenig beispielhafte Rolle Goethes als Minister in dieser Sache nachlesen kann, um nur ein einziges Beispiel zu nennen, weshalb diese mehr als 600 Seiten bis heute eine Fundgrube sind.
Ich erinnere mich sehr wohl, welche Schwierigkeiten es Studenten machte, sich dem systematischen Philosophen Fichte zu nähern. All die bekannten oder weniger bekannten lustigen oder weniger lustigen Sentenzen über Ich und Nicht-Ich, die von Zeitgenossen zu Papier gebracht wurden und noch jetzt gern herangezogen werden (Jean Paul, Schopenhauer), die trafen natürlich auf einen dankbaren Gegenstand. Der konsequente subjektive Idealismus, der gern als Solipsismus bezeichnet wird, ist selbst von kleinen Geistern auf dem einfachen Praxistest-Weg leicht ab absurdum zu führen. An der Humboldt-Universität, deren erster Rektor Fichte war, kolportierte man den Philosophie-Studenten natürlich auch die Geschichte mit dem Sprung aus dem Fenster, den Fichte überleben müsste, weil das harte Pflaster, das ihm die Knochen brechen sollte, ja nur in seiner Einbildung, als Hervorbringung seines eigenen Geistes existiere.
So betrachtet, erscheint der am 19. Mai 1762 in Rammenau geborene Johann Gottlieb Fichte wie ein skurriler Trottel, der sich an ein Philosophie-Katheder verirrt hat und dort wirres Zeugs predigt. Kein Irrtum könnte größer sein, lässt sich dazu locker-flockig sagen, obwohl natürlich die Größe von Irrtümern ein eigenes philosophisches Feld wäre, weit wie die Felder Fontanes. Man müsste sehr weit aus- und sehr viel heran holen, um hier ein paar brauchbare Aussagen zu formulieren. 1987 jedenfalls war Fichtes 225. Geburtstag, weshalb heute, 25 Jahre später eben der 250. Geburtstag begangen werden darf. Im Januar orakelte die LITERARISCHE WELT: „Ob der 250. Geburtstag wirklich ein Grund für die große Fichte-Sause ist, mag jeder selbst entscheiden.“ Was im ersten Moment ungeheuer arrogant klingt, als habe eben jeder ein Urteil zu Fichte, ist im zweiten Hinblicken ein zutiefst wahrer Satz. Tatsächlich entscheidet es jeder: 99,9999 Prozent aller Menschen entscheiden souverän, dass ihnen Johann Gottlieb Fichte, um die Sprachebene der Sause aufzugreifen, kalt am Arsch vorbei geht. Das genannte Blatt dagegen widmet Fichte heute eine ganze Seite, auch in der Neuer Zürcher Zeitung gibt es einen sehr umfänglichen (und gediegenen) Artikel). Womit für die Zeitungen Thüringens, dem Mutterland des Atheismusstreits, die Ränge neben dem Podest bleiben, denn hier kommt kein verantwortlicher Redakteur auf die Idee, eventuell ein Thema zu haben, das bearbeitet werden müsste.
Für anspruchsvolle Themen braucht man kompetente Autoren und die arbeiten im allgemeinen nicht für Honorarsätze im Bereich von Regale einräumenden Hilfskräften in deutschen Provinzsupermärkten. Das Ergebnis nennt sich dennoch weiterhin tapfer Qualitätszeitung, wie auch sonst. 1987, um keine falschen Vorstellungen zu erwecken, am Ende jener Zeit, da die Arbeiterklasse sich vorgeblich als Erbin alles Progressiven gemeinsam mit den Bauern einen Staat auf deutschem Boden hielt, brüllten die zuständigen Redakteure auch nicht Hurra auf das Angebot eines Fichte-Artikels. FREIES WORT ließ meine anderthalb Maschinen-Seiten, am 12. Mai 1987 eingesandt, einfach liegen, die NEUE HOCHSCHULE veröffentlichte einen zweiten Artikel am 29. Mai 1987. Für mich war Fichte schon lange vor meiner eigenen Studienzeit ein Begriff, weil im elterlichen Bücherschrank ein Werk stand mit dem Titel „Johann Gottlieb Fichte. Szenen aus dem Leben eines Patrioten“. Der Verfasser Karl Heinz Berger (Jahrgang 1928) wurde später einer der erfolgreichsten Krimi-Autoren der DDR. Und während meines Philosophie-Studiums hielt ich mich selbst weniger an Fichtes „Wissenschaftslehre“, mehr an die Revolutionsschriften, mehr an die Vorlesungen „Von den Pflichten des Gelehrten“ aus den Jahren 1794/95.
Mir schien es vor diesem Hintergrund unfassbar, kein Interesse an Fichte zu zeigen, zumal ich von der „Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europens“ mindestens so begeistert war wie all die üblichen Systemkritiker, die sich nach dem Ende der DDR mutig an die revolutionären Stimmungen erinnerten, wenn sie den Marquis Posa schallen hörten in Schillers „Don Carlos“. Die Geschichte vom Szenenapplaus hatte nach 45 und nach 89 immer dankbare Zuhörer. Einer wie Fichte aber, den man auf dem berühmten Gemälde von Artur Kampf aus dem jahr 1913 auf einem Sockel stehen sieht, an die Nation predigend, die in hochformatigen Illustrationsfassungen bisweilen aus neunzehn und kaum mehr Menschen besteht, einer wie Fichte, verweigert sich den Schubladen noch da, wo er fast vollständig in eine hinein zu passen scheint. Ich zitiere einen nicht ganz zufällig gefundenen Satz aus den „Beiträgen zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die Französische Revolution“: „Aber – oh, es ist ein tiefer, verborgener, unaustilgbarer Zug des menschlichen Verderbens, daß sie immer lieber gütig als gerecht, lieber Almosen geben als Schulden bezahlen wollen“. Das ist in Zeiten wie den jetzigen eine kurze Rede an alle Nationen.