Walter Basan: An einem Sonntag im August

Nein, vollkommen vergessen ist Walter Basan nicht. Das Literaturhaus Magdeburg lud für den 12. Februar 2020 zu einer Veranstaltung „Zum 100. Geburtstag“ ein, der zwar erst heute ist, aber am 12. Februar stand der 21. Todestag von Basan zwei Tage später an, immerhin auch etwas wie ein Anlass. Und der Magdeburger Stadtrat hatte im Juli eine Sitzungsvorlage zu entscheiden, in der es um Straßennamen ging, die neu zu vergeben waren. Die Drucksache DS 0121/20 vom 13. März 2020 stellte den Vorschlag zur Abstimmung, im Bebauungsplangebiet 229-8 (Hans-Grade-Straße) zwei neu entstehenden Straßen die Namen Frank-Giering-Straße und Walter-Basan-Straße zu geben. Frank Giering war ein Schauspieler, geboren am 23. November 1971 in Magdeburg, gestorben am 23. Juni 2010 in Berlin, den vermutlich deutlich mehr Menschen kannten und kennen als den Schriftsteller Walter Basan, geboren am 10. August 1920 in Beyendorf, heute Ortsteil Magdeburgs, gestorben am 14. Februar 1999 in Magdeburg. Man darf nicht die falschen Bücher aufschlagen, um etwas über Walter Basan zu erfahren, Informationen sind seltener als vermutet und nie ergiebig.

Immerhin: die beiden maßgebenden Lexika aus DDR-Zeiten, die befragt werden können, das „Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller von den Anfängen bis zur Gegenwart“ (2 Bände, Leipzig 1967) und Meyers Taschenlexikon „Schriftsteller der DDR“ (Leipzig 1977) enthalten ein paar wenige knappe Auskünfte, die allerdings mehr Fragen aufwerfen als beantworten. Die beiden wichtigsten lauten: Wie kam es, dass ein Angehöriger des Jahrgangs 1920 offenbar weder zum Arbeitsdienst noch zur Wehrmacht eingezogen wurde, stattdessen von 1937, dem Ende seiner Lehrzeit, bis 1945 in einem chemischen Betrieb arbeitete? War er ein extrem kriegswichtiger Mann? Litt er unter einer Krankheit, die ihn untauglich machte? Und: Wie konnte ein bis dato ausschließlich in der Industrie tätiger junger Mann übergangslos zum freien Schriftsteller werden? Denn das war laut allen zugänglichen biographischen Abrissen inklusive der im Internet angebotenen die stets gleichlautende Ansage: freiberuflich von 1945 bis 1999. Die angegebenen Bibliographien weisen aber die ersten eigenen Publikationen für die Jahre 1948 und 1949 aus.

Dass Basan in Halle 1946 Mitbegründer des Kulturbundes gewesen sein soll, speziell des dort angesiedelten Arbeitskreises Literatur, liefert keine Auskunft über seine materielle Lebensbasis, die es zweifelsfrei ja gegeben haben muss. Die dürftigen Auskünfte der beiden Lexika werden sehr auffällig flankiert von einer völligen Abwesenheit seines Namens in der großen, auf offizielle und offiziöse Repräsentanz angelegten „Geschichte der Literatur der DDR“ (Band 11 der Geschichte der deutschen Literatur, Berlin 1977) sowie in der deutlich bescheidener ausgelegten, immerhin aber Gesamtübersicht versprechenden Darstellung „Sozialistische Kinder- und Jugendliteratur der DDR“ (Reihe Schriftsteller der Gegenwart, Band 25, Berlin 1977). Auch hier fehlt Walter Basan komplett. Man könnte die Naivität aufbringen anzunehmen, die Qualität seiner Bücher sei so gering gewesen, dass die entsprechenden Autorenkollektive es für unter ihrer Würde hielten, sie auch nur mit Titeln zu erwähnen. Besser ist es jedoch, wie heute oft und gern gesagt wird, in alle Richtungen zu schauen, um nicht gleich ermitteln zu sagen. Und siehe da, man wird rasch einschlägig fündig.

Dieter Schade in seiner kurzen Biographie: „1953, nach dem Arbeiteraufstand, trat B. aus der SED aus. 1955-59 und ab 1973 war er Mitglied des Bezirksvorstandes des Schriftstellerverbandes im Bezirk Magdeburg. B. wurde Nachwuchsbeauftragter des Bezirksverbandes und Interessenvertreter beim UNESCO-Literatur-Institut Wien. Seit 1962 wurde er durch das Ministerium für Staatssicherheit observiert. 1966 entzog ihm der Sekretär des Schriftstellerverbandes der DDR seiner Kontakte zu Friedrich Bödecker wegen für mehr als zehn Jahre das Recht zur Teilnahme an internationalen Konferenzen und Lesungen im nichtsozialistischen Ausland.“ Zitiert nach: http://www15.ovgu.de/mbl/Biografien/0846.htm. Auch hier sind mehr aufgeworfene Fragen als Antworten. Was war das für eine Interessen-Vertretung in Wien? Wie kam man zu ihr? Wieso entzieht ein Sekretär des Verbandes, dessen Mitglied Basan war, ihm seine Reiserlaubnis (ein Reise-Recht hat es meines Wissens in der DDR nicht gegeben) im Jahr 1966 wegen seiner Kontakte zu einem Mann, der schon 1954 gestorben ist? Mit zwölf Jahren Zeitverzögerung also gewissermaßen?

Die hier aufgeführten Quellen geben somit auch keinerlei Auskunft, die auf die Bücher zu beziehen wären, die Basan in Lauf der Jahre seit 1948 in verschiedenen DDR-Verlagen publizierte: Romane, Kinderbücher, Sachbücher, auch als Hörspielautor ist er überall genannt. Wie etwa kam er dazu, einen Roman über den Freiheitskampf in Marokko zu schreiben („Geliebte Feindin“, 1957), einen Roman mit einer Liebesgeschichte in Frankreich vor dem Hintergrund der Gefahr atomarer Verseuchung („Adieu Danielle“, 1961)? Kannte er den Maghreb, kannte er Frankreich? Dass er den Magdeburger Otto von Guericke zum Gegenstand eines Romans machte („Falken über der Stadt“, 1956), ist am ehesten nachvollziehbar. Keine dieser Frage soll als Vorwurf formuliert sein, schon gar nicht an eine mögliche Adresse. Es ist lediglich als nüchterne Defizit-Anzeige zu lesen. Umso mehr freue ich mich, dass ich hier eines der frühesten Werke Basans in Erinnerung rufen kann, die gedruckt wurden: „An einem Sonntag im August“. Wer die Angewohnheit hat, alte Bücher, auch aus der DDR, nicht umstandslos wegzuwerfen oder wegzugeben, macht bisweilen solche Funde.

Hier handelt es sich um eine Anthologie mit dem optimistische Titel „Offen steht das Tor des Lebens“, sie erschien 1951 im Mitteldeutschen Verlag Halle, „Eine Anthologie junger deutscher Prosa“ steht unter dem Titel und als Herausgeber ist Vilmos Korn genannt. Korn (3. April 1899 bis 6. November 1970) hat den größten Bekanntheitsgrad innerhalb der DDR mit dem später auch verfilmten Buch „Mohr und die Raben von London“ erzielt, gemeinsam verfasst mit seiner Frau Ilse Korn. Als Herausgeber ist er nach 1951, soweit ich sehe, nie wieder in Erscheinung getreten und das ist erklärlich. Denn was er an diesem Buch als Herausgeber getan haben soll, ist schlicht nicht erkennbar. Es fehlen ein Nachwort oder ein Vorwort, es fehlen jegliche Angaben zu den aufgenommenen Autoren und Autorinnen und es fehlen, wohl das allerwichtigste Defizit, jegliche Angaben zu den abgedruckten Texten. Wann sie also entstanden, ob es Auftragswerke sind, in sich abgeschlossen oder Teil größerer Projekte, alles bleibt das Geheimnis von Verlag und Herausgeber.
„An einem Sonntag im August“ jedenfalls führt an einen Brennpunkt früher DDR-Geschichte.

Nimmt man es rein literarisch, weist der Text gravierende Schwächen auf: zum einen entscheidet er sich nicht für eine durchgehende Perspektive, mal scheint es eine Art gehobene Reportage werden zu wollen mit einem Gesamtbild vom Geschehen, dann drängt eine Liebesgeschichte sich in den Vordergrund, dann gibt es Konflikte zwischen Männern, deren Ursachen nicht nachvollziehbar werden. Vor allem aber erscheinen ständig neue Namen; die Personen, die auftreten, sind oft nicht mehr als diese Namen, sie gewinnen kein Profil, keine Persönlichkeit. Erkennbar ist der Versuch, poetisch zu beschreiben, erkennbar der Versuch, die Dialogsprache zu individualisieren, oft über Dialekt. Am Ende ist ein durchaus farbiges Bild vom Geschehen entstanden, das Agitatorische hält sich in Grenzen, die es gerade noch erträglich machen. Dem Kenner früher DDR-Geschichte und darüber hinaus Sozialismus-Geschichte nach 1945 öffnet sich zusätzlich ein interessantes Zeitbild. Viel Sozialismus war da noch nicht in Sosa 1949, denn auf den August dieses Jahres deutet alles hin als Handlungszeitraum. Von DDR ist noch keine Rede, die Arbeiten gehören zur frühen Bau-Phase.

Walter Basan führt seine Leser zur bis heute namhaften Talsperre Sosa, ihr Aufbau zwischen 1949 und 1952 war zugleich das erste „Zentrale Jugendobjekt der DDR“, es war das, was man gern eine Erfolgsgeschichte nennt. Wer im Internet die Suchmaschinen nach dieser Talsperre befragt, stößt vor allem auf Werbung für die jüngsten Erfolge in der touristischen Erschließung des knapp 40 ha umfassenden Trinkwasser-Reservoirs. Sosa selbst gehört seit 2011 zu Eibenstock, es gibt einen sechs Kilometer langen Rundwanderweg, seit September 2017 ist auch auf der Mauerkrone ein Weg begehbar. Zu DDR-Zeiten gab es eine „Traditionsstätte Talsperre des Friedens“, 1954 brachte die DDR-Post sogar eine eigene Briefmarke heraus. In Basans Geschichte Basans fällt eins zuerst auf, wenn man darauf achtet: es sind neben jungen Leuten, die offenbar keineswegs nur aus der späteren DDR kamen, auch gelernte Bauleute und Ingenieure im Einsatz. Es gibt schon einen spürbaren Ost-West-Konflikt, vor allem aber einen penetrant starken Einfluss einer bestimmten Ideologie, die zweifelsfrei auf sehr schädliche Einflüsse der Besatzungsmacht Sowjetunion zurückzuführen ist.

Natürlich klagt Walter Basan hier niemanden an, er zeigt einfach nur Abläufe im Alltag, Konflikte zwischen den FDJlern und ihren Freunden sowie den älteren Arbeitern. Eine Hauptfigur der Geschichte heißt Maria Leitner (vielleicht eine Hommage an die in der Weimarer Republik berühmte Journalistin und Schriftstellerin Maria Leitner, die 1942 in Südfrankreich starb, nachdem sie vergeblich auf ein Visum gewartet hatte). Sie studiert in Bonn Soziologie und ist ins Erzgebirge gekommen, um dort Studien zu treiben, der Leser erfährt auch, dass sie da aufwuchs und sogar noch Menschen leben, die sich an ihre Mutter erinnern können. Basan lässt hier sehr viele Lücken wie auch bei anderen Personen, was darauf hindeutet, „An einem Sonntag im August“ könnte als Teil einer größeren Arbeit gedacht gewesen sein. Ohne zusätzliche Informationen lässt sich das weder belegen nicht ausschließen. Sie wird gegen Ende urplötzlich verdächtigt, eine Spionin des Westens zu sein, willig springen einige der Agierenden darauf ein, teilweise, weil sie ganz private, ganz egoistische Ambitionen verfolgen, die leider alle nicht wirklich nachvollziehbar dargestellt sind.

Was der heutige Leser aber auf frappierende Weise vorgeführt bekommt: wie das funktioniert, wenn ein purer, auf keinerlei prüfbare Fakten oder Tatsachen gestützter Verdacht in die Welt gesetzt wird und sofort in einigen Köpfen Überlegungen beginnen, nur keinen Kontakt zur Verdächtigen zu haben, gleich andere zu verdächtigen, die mit ihr Kontakt hatten, gar näheren. Wir sind, der Name oder das Phänomen werden natürlich weder benannt noch allzu deutlich ins Visier genommen, mitten in der stalinistischen Verdächtigungshysterie, die zu Verurteilungen führte und wenn es nur eine Isolation war. Walter Basan lässt seine Erzählung positiv ausgehen. Die Belegschaft verweist zwei Männer des Lagers, einer geht nach einem großen Schuldeingeständnis selbst, auch diese Praxis ist eine typische Zeiterscheinung, die unter dem die Sache noch stets beschönigenden Begriff „Kritik und Selbstkritik“ firmierte. Zeitzeugen des Verfahrens werden immer weniger, aber es gibt sie noch, denn es überlebte in abgeschwächter Form das Ende der Stalin-Ära um manche Jahre. Manches versteht man besser, wenn man einen anderen Text kennt, der mit Basan kaum zu tun hat.

Auch auf diesen Text stößt man, wenn man alte DDR-Anthologien zur Hand hat. „Ich war in Sosa“ heißt eine Reportage, die der ebenfalls weitgehend vergessene Schriftsteller Joachim Chaim Schwarz verfasste, zu DDR-Zeiten stets als J. C. Schwarz agierend (7. November 1909 bis 18. April 1992). Man findet sie in einem Buch aus dem Jahr 1952 mit dem prägnanten Titel „Menschen und Werke. Vom Wachsen und Werden des neuen Lebens in der Deutschen Demokratischen Republik“ (Aufbau-Verlag). Bei Schwarz gibt es die sachlichen Informationen geordnet und zum Teil besser formuliert, die dem erzählenden Text von Basan weithin fehlen, um dies und jenes zu erklären oder verständlich zu machen, das er einfach nur nennt oder andeutet. Schwarz hat sauber recherchiert, so dass die sozialen Hintergründe der Konflikte nachvollziehbar werden, die bei Basan ein wenig in der Luft hängen (Zwangsvermittlung von Arbeitskräften zur Talsperre seitens der sächsischen Arbeitsämter, daher viel gebremster Arbeitseifer, viele Versuche, sich zu drücken). Basan erwähnt eine Praxis, planmäßig krank zu feiern bei Arbeitern, die außerdem auf Normbrecher reagieren.

Von heute aus kann man, wenn man auf solche Traditionslinien Wert legt, Walter Basans „An einem Sonntag im August“ auch als energisches Plädoyer für die deutsche Einheit lesen und sehen: es ist ein eifriger Jungaktivist aus Schwaben bei der Sache, ihm und seinen Mitstreitern gelingt es, eine Lokomotive zur Baustelle zu bringen mit primitivsten Hilfsmitteln: aber am Ende erfolgreich. Auch sein Treiben sollte sabotiert werden. Die erwähnte Maria Leitner aus Bonn, der wohl doch ein wenig zu vordergründig ideologisch ein fensterloses Heim in einem Studentenbunker der späteren Bundeshauptstadt zugeordnet wird, sieht alles sehr genau und zutreffend. „Um sie her versinkt der Tag, versinkt der Wald, das Feld und alles Trennende zwischen ihnen. Sie spüren, dass sie Deutsche sind, Deutsche, die in eine Heimat gehören.“ Vom Schwaben Haindlfing heißt es: „…es erschien ihm jetzt alles so billig angesichts der Tatsache, dass es so weit in diesem Deutschland gekommen war, dass man einen Deutschen gegen einen anderen ausspielen konnte.“ Tief schürfende Analyse klänge anders, aber immerhin: noch ist die förmliche Spaltung Deutschlands nicht vollzogen.

Zu erkennen sind tief sitzende Vorurteile der jungen Leute wie der Arbeiter, soweit sie genauer geschildert sind, gegen die Intelligenz, die Ingenieure, fast entschuldigend klingt die Äußerung: „…es sind aber auch ganz prima Kerle unter unseren Ingenieuren. Die standen von Anfang an auf unserer Seite.“ Als seitens der Bauarbeiter gegen die Jugendbrigaden vorgebracht wird, sie täten so, als sei die entstehende Talsperre ihr Eigentum, heiß es: „Und sie taten so, als wenn es ihre Sperre wäre. Und als er es ihnen sagte, leuchteten ihre Augen im Umdrehen, als wenn er ihnen wunder was für ein Kompliment gemacht hätte.“ Das war natürlich das gewollte Denken: neues sozialistisches Eigentümer-Bewusstsein sollte gerade in der erlebten Praxis wachsen. Wir wissen heute, dass es bis zum Ende DDR stets mehr Wunschdenken als Realität war. Es wäre leicht, über dieses und jenes Detail herablassend zu lächeln: die Volkstanzaufführung der 16- bis 18-Jährigen, forcierte Neugier der Dörfler auf die Städter aus Chemnitz. Sie tanzen „Reihen- und Rundtänze nach Motiven ukrainischer Volksweisen mit Chor- und Sologesang, Tänze aus Westfalen und Thüringen, aus Schleswig und dem Böhmerwald.“ Ja aber, warum denn nicht? Dies ist kein Plädoyer für eine Walter-Basan-Renaissance, es ist allenfalls eines gegen organisiertes Vergessen jeder Couleur.


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