Die früheren Verhältnisse bei Nestroy

Um einen zu zitieren, den nicht gleich jeder kennt in den Kreisen derer, die immer fast alle kennen und die wenigen, die sie scheinbar nicht kennen, doch nur vorübergehend vergessen haben, zitiere ich Richard von Schaukal. „Der Österreicher läßt sich viel, um nicht zu sagen: alles gefallen, aber er schweigt nicht dazu.“ Man könnte Schaukal den Vorwurf machen, er habe in „Nestroy, der Österreicher“ eher über den Österreicher als über Nestroy geschrieben. Als ob es wichtig wäre, so lange es gut war, denn Nestroy war ein Wundertäter und über Wundertäter schreibt man alles oder nichts und alles ist falsch oder richtig. Wenn einer Johann Nepomuk heißt, ist ohnehin nicht mehr viel an Rest für sein Leben zu hoffen oder eben alles.

Wer sich den Spaß macht, die Etiketten zu lesen, die auf dem Nestroy kleben von Biedermeier bis österreichischer Vormärz, der muss sich über gewisse Wirrnisse nicht wundern, die in seinem Kopf beginnen. Einfacher ist das Verfahren, einem Manne zu lauschen, der am 2. Mai 1912  seine Stimme erhob, um eben Johann Nepomuk anlässlich seines fünfzigsten Todestages aus diesen elenden Schubladen zu ziehen. Das war Karl Kraus, der noch seine Fehlurteile und Falschaussagen so vorzubringen wusste, dass die Wahrheit selbst an sich zu verzweifeln verleitet wurde. Bisweilen jedenfalls. In meiner DDR war Kraus, weil er den Heine herabzog, während er den Nestroy überhöhte, ein wenig suspekt, was ihn in gute Gesellschaft brachte. Kraus also, anno 1912, dementsprechend vor hundert Jahren, beendete seine Ansprache so: „In den fünfzig Jahren nach seinem Tode hat der Geist Nestroy Dinge erlebt, die ihn zum Weiterleben ermutigen. Er steht eingekeilt zwischen den Dickwänsten aller Berufe, hält Monologe und lacht metaphysisch.“

Beinahe das letzte der Nestroyschen Bühnenwerke trägt den Titel „Frühere Verhältnisse“. Es hat den Vorzug, kurz zu sein. Bühnenwerke dieser Länge wachsen der Zukunft entgegen, die jetzt schon mit nach neunzig Minuten ohne Werbeunterbrechung völlig erschöpften Theatergängern rechnet und somit den Prozess beschleunigt. Frühere Verhältnisse sind eine Thema ohne Zeitgrenzen, soweit sie aus ihrer Zeit in die jeweils aktuelle hineinragen, dieser ein Stempelchen aufdrücken oder ein Geschmäckle beigeben oder was auch immer der reinen, vergangenheitslosen Gegenwart Dasein und Auftritt vermiesen könnte. Wie es der Zufall will, dieser willenssstarke Geselle, strahlte dieser Tage ein seltsamer Mitternachtssender namens Bayern Alpha in unmittelbarer Folge gleich zwei schwarz-weiße Aufzeichnungen von fünfzig Jahre alten Nestroy-Inszenierungen aus. Die erste war „Frühere Verhältnisse“.

Was für ein unvergleichliches Erlebnis ist es, unmittelbar nach dem Hören den Stücktext zu lesen. Jedes gelesene Wort klingt noch, jeder Satz hat den Tonfall, die Melodie. Und dieser ganze vertrackte, dieser hinterhältige Humor, im Dialekt gehört, in Druckfassung scheinbar entfärbt. Der hat solche Sätze parat: “... ich weiß nicht, war's ein Engländer oder ein Russ', weil's zwei waren.“ Dann darf man sich vorstellen, dass dieser Johann Nepomuk den Muffl, der das sagt, in der Uraufführung am 7. Januar 1862 selbst spielte. Der Zusammenschnitt der besten Sätze dieser „Posse mit Gesang in einem Akt“ offenbart schlagend: Nestroy hat sie stark überwiegend sich selbst in den Mund gelegt, diese Rolle ist auf Brillieren angelegt und vermittelt der Nachwelt in Nebenwirkung wegen ihrer Einfachheit überraschende Lehren.

Die großen Bühnenerfolge der Theatergeschichte waren zu einem für Andersdenkende deprimierend hohen Prozentsatz Produkte von Praktikern, wir müssen gar nicht gleich von Shakespeare und Moliere reden, es reicht schon Iffland oder, weit weg und dennoch nah, Curt Goetz. Nestroy hat mit seinen vier Personen, die alle in ihrer Gegegenwart sind, was sie in ihren früheren Verhältnisse nicht waren, ein Quartett auf die Bühne gestellt, dem zuzuschauen Spaß macht. Der Spaß erreicht enorme Tiefen für Freunde der Intertextualität, für Leser, die ihr Fremdwörterbuch verlegt haben: es gibt feine Anspielungen in den Dialogen. Peppi etwa, die eine Schauspielerin war mit kleinsten Nebenrollen und nun doch wieder ihre Liebe zum Kochen im Dienst einer Herrschaft entdeckt, sagt: „Ich weiß, was Sie sagen wollen; diese nachträgliche Glorifizierung entschädigt den erhabenen Verbrecher selbst nur dürftig für die Unannehmlichkeiten, die ihm die Justiz so rücksichtslos bereitet.“ Schwimmt hier nicht der junge Schiller im nachmärzlichen Kakao?

Freunde der antiimperialistischen Systemkritik dürfen sich an Sätzen delektieren wie: „Sie werden doch Verträge nicht als etwas hinstellen wollen, das man hält? Lesen Sie künftighin fleißiger Zeitung.“ Auch das sagt Peppi und wir halten fest, dass keine deutsche Tragödie sich unterstehen dürfte, eine Figur Peppi zu nennen. Die Forderung, fleißiger Zeitung zu lesen, ist aktuell, soweit es die Abgründe der Weltgeschichte betrifft. Denn nicht nur Verträge hält man nicht, sondern auch Rollen haben ausgespielt, die Rolle des traurigen Wahlverlierers etwa, der hinwirft. Bei den Linken will jemand, der mit Karacho aus dem Landtag flog, gar Bundesvorsitzende werden. Was für Dialoge würde Nestroy dazu erfinden, ohne vordergründig zu werden. Denn, schon 1862 durfte Muffl in seinem längsten Monolog, fünfte Szene, sagen: „... es is ein bitteres Gefühl, wenn man so oft hungrig is, daß man vor Durst nicht weiß, wo man die Nacht schlafen soll!“

Karl Kraus, auf ihn zurückzukommen, hat eigens für seine Nestroy-Rede so herrliche Worte erfunden wie PROBLEMDUNST oder MORGENBLATTFROH. Er hat dem, nun muss es raus, heute vor genau 150 Jahren verstorbenen Johann Nepomuk Nestroy nachgesagt:  „Er war Denker, und konnte darum weder liberal noch antiliberal denken.“ Und: „Auf jeder Seite Nestroys stehen Worte, die das Grab sprengen, in das ihn die Kunstfremdheit geworfen hat, und den Totengräbern an die Gurgel fahren. Voller Inaktualität, ein fortwirkender Einspruch gegen die Zeitgemäßen.“ Und: „Die Realität ist eine sinnlose Übertreibung aller Details, welche die Satire vor fünfzig Jahren hinterlassen hat.“ Ja, liebe Realität, das musst du nun schlucken, hilft nichts, hilft rein gar nichts.


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