Matthias Claudius, beschrieben von Arthur Eloesser
Wer eilig nach einschlägigen Büchern über Matthias Claudius greift, weil er glaubt, sich verlesen zu haben, wird sich befriedigt zurücklehnen dürfen: Arthur Eloesser hat weder ein Buch über den „Wandsbecker Boten“ geschrieben, noch auch nur eine selbständige kleinere Arbeit über ihn hinterlassen. Wenn also des 1. Januars 1771 gedacht wird, das war der Tag, an dem die allererste Ausgabe des „Wandsbecker Boten“ herauskam, der viereinhalb Jahre später sein Erscheinen schon wieder einstellen musste und damit leider das Schicksal so vieler anderer Blätter teilte, an denen bedeutende Autoren besonders gern und häufig scheiterten, dann muss Eloesser nicht zwingend als erste Wahl gesehen werden beim literarischen Zeugenaufruf. Um nicht gleich beim vergrätzten Goethe zu landen, der 1784 Claudius sogar einmal zu Gast bei sich hatte, wobei der nicht am Frauenplan nächtigte, sondern bei Herder, den er seit 1770 bestens kannte, nehmen wir Karl August Varnhagen von Ense, der das Schicksal hat, fast nur als Gatte von Rahel genannt zu werden, obwohl auch die umgekehrte Sicht viel für sich hätte. „Wir waren häufig in Wandsbek, wo mir Matthias Claudius bekannt wurde, von dessen Berühmtheit ich wohl gehört hatte, dem ich aber weiter keine Aufmerksamkeit schenkte, weil von den Possen und Lustigkeiten, die ich von Asmus erwarten zu dürfen glaubte, gar keine Spur zu sehen war.“ So steht es in den „Denkwürdigkeiten“.
Das ist ein Fall von enttäuschter Erwartungshaltung. Dergleichen kommt vor. Matthias Claudius, der nach dem Ende des „Wandsbecker Boten“ die für seinen Ruf geniale Idee hatte, seine eigenen Beiträge für das Blatt, das viermal wöchentlich erschien, in einer Reihe von Büchern zu sammeln, ging mit dem vierten und fünften Band merklich ab von den erwähnten Possen und Lustigkeiten, wurde ernst, wurde beschaulich, mehr oder weniger zur Sonntagsschule tendierend und sogar ein wenig missionarisch. Jetzt wäre erstmals Arthur Eloesser ins Spiel zu bringen mit seiner feinen Formulierung „Claudius wurde auch für seine Popularität zu alt“. Am 15. August 1740 im holsteinischen Reinfeld geboren, starb er am 21. Januar 1815 in Hamburg, reichlich ein halbes Jahr vor seinem 75. Geburtstag. Das war um diese Zeit tatsächlich ein mehr als respektables Alter, zumal Claudius in der eigenen Familie die um vieles eher typische Normalität erlebt hatte: 1751 starben innerhalb eines Jahres allein drei seiner Geschwister. 1766 starb mit Dorothea Christina eine weitere Schwester, 1772 stirbt sein eigenes erstes Kind: Sohn Matthias. Gattin Anna Rebecca, 1754 geboren, überlebte ihren Mann um volle 17 Jahre und starb im Todesjahr Goethes am 26. Juli. Das darf nach der Geburt von zwölf Kindern, von denen sie mehrere überlebte, hervorgehoben werden.
Nun wieder Arthur Eloesser: „Claudius wusste nichts mit sich anzufangen, bis Lessings Freund Bode ihn 1771 zum Herausgeber des Wandsbecker Boten machte, eines Blattes von geringer Verbreitung, das ihm nicht einmal die bescheidenste Existenz sicherte. Claudius wurde erst berühmt als der „Wandsbecker Bote“ schlechthin, da er seine Artikel unter dem Titel Asmus omnia sua secum portans in einem Buche sammelte. Mit dem Ziel der Belehrung einfacher Geister, mit den Anweisungen zu praktischer Lebensführung stand das Sammelwerk neben den Patriotischen Phantasien des staatsmännischeren, autoritätsbewussteren Möser, mit seiner bescheidenen Volkstümlichkeit, selbstgewählten Niedrigkeit und Brüderlichkeit, vor allem mit der vollen Erbschaft des Pietismus, der Gefühlserkenntnis gegen hoffärtiges Wissen, machte sich der Wandsbecker zu einem norddeutschen Bruder von Jung-Stilling.“ Lessings Freund Bode, das war Johann Joachim Christoph Bode (16. Januar 1731 in Braunschweig – 13. September 1793 in Weimar). Er war durch Heirat reich geworden, seine dritte Frau Tochter eines Buchhändlers und Verlegers. So entsteht nach dem „Wandsbeckischen Merkur“ nun eben ein „Wandsbecker Bote“. Auf der ersten Seite der ersten Ausgabe, Dienstag, 1. Januar 1771, findet sich ein Gedicht.
Zweispaltig ersetzt es, was später gern Editorial genannt wird, verkündet die Absichten des Blattes: „Ich bin ein Bothe und nichts mehr, / Was man mir gibt das bring ich, / Gelehrte und polit’sche Mähr; / Von Ali Bay und seinem Heer, / Vom Tatar Chan der wie ein Bär / Die Menschen frißt am schwarzen Meer, / (Der ist kein angenehmer Herr) / Von Persien wo mit seinem Speer / Der Prinz Heraclius wüthet sehr.“ Der Kenner mag bei Nennung des Namens Heraclius an Lessing denken: gab es da nicht einen Soldaten, der gern wieder in den Krieg ziehen wollte, notfalls auch für diesen Prinzen Heraclius? Den Kenner wird natürlich pflichtgemäß das Grauen packen angesichts solcher Verse, aber er ist direkt bei Matthias Claudius angekommen. Der nicht nur mit dem „Boten“ scheiterte, sondern auch sonst mit allem, was man heutig Festanstellung nennt: „Claudius war seinem Amt nicht gewachsen und ging nach Wandsbeck zurück; die Stolbergs, Schimmelmann, Reventlow, auch der Kronprinz von Dänemark brachten den Vater von acht Kindern in der einen und anderen Stellung unter“. So abermals Arthur Eloesser. Und weiter: „Claudius hatte eine Kinderseele, er wusste in Vers und Prosa mit dem einfachen Volke zu verkehren; er hatte den Ton der Idylle, um den sich Voß mit Hilfe der Antike bemühte“, was wohl zu lesen ist: vergebens.
„Mit seiner eingeborenen Innigkeit, Zutraulichkeit, Schalkhaftigkeit, den Gellertschen Humor erleichternd und verstärkend, wurde er ein Vater der deutschen Hauspoesie.“ Damit ist heute wohl die Rede von einer ausgestorbenen Gattung. „Das ist unvergänglich, und so schön oder innig deutsch war seit den Fleming und Gerhardt nicht gesungen worden. Mit den Vätern im 17. Jahrhundert hat Claudius auch gemein, dass seine ersten Strophen immer die schönsten sind, solange die Andacht des Auges dauert. Nachher kommt die Nutzanwendung“. Das bezieht sich immer auf die Lyrik, in deren Geschichte Matthias Claudius selbst dann unvergessen bliebe, wenn er nichts als jenes Abendlied gesungen hätte, das mit „Der Mond ist aufgegangen“ beginnt. „Es fehlte Claudius zum großen Lyriker die Fähigkeit, allein zu sein; er musste immer Nachbarn haben, Hände drücken und so viel brüderliche Küsse austauschen, wie das empfindsame Zeitalter verlangte. Aber er war ein echter Musikant, er hatte die Melodie, die wie von selbst aufspringt.“ Strich um Strich, das beweisen diese Sätze, gelingt Arthur Eloesser eine farbige Charakteristik des Mannes, dessen Name wie niemals sonst in der deutschen Literaturgeschichte als ein Synonym steht für einen Zeitschriftentitel, der sich zum Werk-Titel mauserte, eben „Der Wandsbecker Bote“.
Werner Weber, als Schweizer der erste Professor für Literarturkritik, den es gab (wie viele sind ihm eigentlich gefolgt?), stellte für die von mir bei jeder passenden wie unpassenden Gelegenheit gelobte „Manesse Bibliothek der Weltliteratur“ eine knapp vierhundert Seiten umfassende Auswahl aus den acht Bänden des Claudius-Originals zusammen, die so beginnt: „Es ist eigentlich schlecht um die Schriftsteller bestellt, die erst von andern erfahren müssen, was sie wollen, und es ist viel besser, wenn einer das selbst weiß; und bisweilen ist es gut, wenn er’s auch sagt.“ Man kann das im Sinne von „Wer interpretiert werden muss, macht etwas falsch“ lesen. Wenige Zeilen weiter steht das schlichte Bekenntnis: „… und ich habe in meinen Leben nicht klein für groß und nichts für etwas halten können.“ Das ist tückisch gesagt, denn übergroße Köpfe haben tatsächlich die Frage bedacht, warum eher etwas ist als nichts. Man nennt dergleichen Philosophie. Im Film „Werk ohne Autor“ kann zweieinhalb Jahrhunderte später auch der Laie, wenn er nur Filmfreund ist, sehen, wie große bildende Künstler „von anderen erfahren müssen, was sie wollen“. Matthias Claudius ist an Stellen überraschend aktuell, die die einschlägige Philologie gar nicht auf dem Notizzettel stehen hat. Weber schrieb zu seiner Auswahl ein sehr hübsches Nachwort in Form eines launigen Briefes.
Arthur Eloesser hat seine Sicht auf Matthias Claudius hauptsächlich im ersten Band seines Opus Magnum, „Die deutsche Literatur vom Barock bis zur Gegenwart“ in zwei Bänden niedergelegt. Dort finden sich sowohl eine zusammenhängende Darstellung von knapp fünf Seiten als auch diverse Erwähnungen über das Buch verstreut, fünf über das Register leicht auffindbare Stellen auch im zweiten Band. Legt man daneben, probehalber, was Winfried Freund zu Claudius zu Papier brachte auf nicht wesentlich mehr Druckseiten für den Stuttgarter Reclam-Verlag, dann stellt man (stelle ich) fest: hier ist der Versuch einer Verlebendigung eines mehr als hundert Jahren toten Autors und Dichters, da das Ergebnis eines philologischen Flüssigkeitsentzugs zum Zweck der Gewinnung eines weitgehend trockenen Theorie-Granulates. Freunds Claudius hätte sich kaum wiedererkannt in seinem Porträt. „Claudius hat mit dem unfreiwilligen Pfarrer Mörike eine Wesens- und Schicksalsverwandtschaft.“ So Eloesser. Bei Freund kommt Mörike gar nicht erst vor. Dafür steht bei ihm: „Zugleich verengte sich die Rezeption zusehends auf das Abendlied.“ Ist, verehrter Herr Professor Freund, eine Rezeption eines einigen, noch dazu leicht zu verstehenden Gedichts aus einem insgesamt vielbändigen Werk überhaupt Rezeption zu nennen, oder war der Satz ein Witz?
„Der wahre Dichter weist immer vorwärts und auch zurück, steht gerade durch seine Selbstheit in mancher geheimen Verbindung.“ Steht bei Eloesser. Bei Winfried Freund gewichtig: „Aufgabe einer produktiven Rezeption sollte es sein, Matthias Claudius jenseits ästhetischer Stilisierung und idyllischer Schönfärberei auf der einen und kollektiver Ideologie auf der anderen Seite als Boten einer individuell kritischen Empfindsamkeit für die Gegenwart neu zu entdecken.“ Ob das leistet, wer die 1. Strophe eine Ouvertüre nennt, die die zentrale Thematik bereits enthält? Der in jeder Hinsicht aparte Österreicher Karl Kraus, der über etwas selten anders als in Polemik gegen etwas, noch lieber aber gegen jemanden schrieb, schrieb über Claudius, während er den Literaturhistoriker Eduard Boas (18. Januar 1815 – 12. Juni 1853) verbal schlachtete: „Dass aber der Dichter des Abendliedes ein Reklameheld war, diese Entdeckung konnte nur der deutschen Literaturgeschichte gelingen, und dass unter die Leute, die den Mund gern etwas voll nehmen, ein Literaturhistoriker Claudius einreihen kann und nicht etwa Claudius den Literaturhistoriker, gehört zu den Dingen, die eben nur in der deutschen Literaturgeschichte möglich sind.“ Für Kraus ist Matthias Claudius der, „der nicht Goethes Umfang und Größe, aber tiefere lyrische Augenblicke als selbst er erreicht hat“.
„Claudius hat die Rokokograzie, die sich auch Eichendorff oder Mörike einmal zurückholten“, lesen wir bei Eloesser. Und Eichendorff selbst? Ihm ist Claudius „der wackere Wandsbecker Bote, der zwischen Diesseits und Jenseits unermüdlich auf und ab geht und von allem, was er dort erfahren, mit schlichten und treuen Worten frohe Botschaft bringt.“ Für Eichendorff „weckt er überall ein wunderbares Heimweh, weiß aber mit seinen klaren Hindeutungen dieses Sehnen, wie schön oder vornehm es in Natur oder Kunst sich auch kundgeben mag, von dem Ersehnten gar wohl zu unterscheiden.“ Und Arthur Eloesser resümiert: „Matthias Claudius hat abwechselnd Brot gebacken und Kränze gewunden.“ Bliebe zu verraten, warum Goethe zwar erwähnt, dass Claudius (kein Vorname) kam am 25. September 1784, nicht aber die Fürstin Gallitzin. Matthias Claudius hatte die Frechheit besessen, die berühmt-berüchtigte Parodie von Goethes „Werther“ von Friedrich Nicolai in seinem Winkelblatte freundlich zu besprechen. So etwas vergaß ein Goethe nie, wenn er auch später über Friedrich Heinrich Jacobi Grüße ausrichten ließ (1794) oder seine Meinung gern gehört hätte zu einem „Aufsatz über die farbigen Schatten“ (1793). Claudius starb in Hamburg, „müde, satt und befriedigt vom Irdischen, wie ein Zeuge seiner letzten Augenblicke sagt.“