Blaise Pascal 400

Ungläubig sein ging immer. Es öffentlich zu bekennen, war in unseren Breiten bis vor gar nicht allzu langer Zeit lebensgefährlich, in manchen Weltgegenden ist es das immer noch. Und auch das gab es: Gläubigkeit, die abwich. Abweichen konnte schlimmer sein als gar nicht glauben. Denn zwischen dem Menschen, der glauben wollte und, was nicht identisch ist, auch glaubte, und dem, woran er glaubte, stand eine Institution, die für sich in Anspruch nahm, eine jeweils bestimmte, in zeitlicher Abfolge durchaus wandlungsfähige Wahrheit in Sachen Glauben gepachtet zu haben. Wahrheitspächter sind eine unausrottbare Gattung, sie brauchen längst keine Kirche mehr, keinen Ismus, sie stoßen ununterbrochen Ideologien aus wie ein Geysir heißes Wasser, an dem man sich Verbrennungen holt. Heute ist an einen Mann zu denken, der am 19. Juni 1623 geboren wurde. Der dreißigjährige Krieg befand sich da noch in den Kinderschuhen, erst fünf Jahre wütete er, und als der Mann genau zwei Monate nach seinem 39. Geburtstag starb, lag das Kriegsende zwar fast vierzehn Jahre zurück, seine Verheerungen aber prägten Europa noch immer. Seine letzte Ruhe fand er in einer prächtigen Pariser Kirche, die eröffnet worden war, als er schon ein paar Monate lebte.

Wir reden von Blaise Pascal. Ein Mann dieser Kirche, der am 6. Juli 1947 geborene Jean-Robert Armogathe, schrieb im Frühjahr 1986: „... noch ehe Pascal das vierzigste Lebensjahr erreicht hatte, sollte er körperlich und nervlich erschöpft sterben.“ Es ist schwer zu sagen, wie in der katholischen Kirche Frankreichs gerechnet wird, jedenfalls befindet sich weltweit jedermann im vierzigsten Lebensjahr, wenn er seinen 39. Geburtstag noch lebend feiern durfte. Jede Frau natürlich auch. Der Priester Armogathe jedenfalls schrieb in Paris 1986 eine Einleitung zu einem Buch, dessen Verlag, der Leipziger Reclam-Verlag, für sich in Anspruch nahm, die erste vollständige deutschsprachige Ausgabe der „Gedanken“ von Blaise Pascal auf den Markt zu bringen. Da dies meiner Kenntnis nach tatsächlich so war, wirft es eine fundamentale Frage auf: Bilden die Eckbegriffe Unrechtsstaat und SED-Diktatur womöglich die Wirklichkeit der DDR doch nicht perfekt oder gar erschöpfend ab? Wie sonst wäre sie zu einer editionsgeschichtlichen Spitzenleistung in der Lage gewesen und hätte dazu noch statt des üblichen marxistisch-leninistischen Vor- oder Nachwortes einen französischen katholischen Priester zu Wort kommen lassen? Eine kleine Denksportaufgabe, bitte.

Wieland Freund, 1969 geboren bei Paderborn, was nicht gegen ihn zu verwenden ist, ließ im April 2020 den Satz drucken: „Lange Zeit hat Blaise Pascal, der verschlossene Philosoph, in seinem gelben Reclam-Grab gelegen, ungestört und ziemlich vergessen.“ Der Wahrheit die Ehre, die längere Zeit lag Pascal wohl in einem Reclam-Grab, das war nur eben die längste Zeit nicht gelb, weil es den Reclam-Verlag mit seiner unendlich verdienstvollen Universal-Bibliothek schon sehr lange gab, ehe in der Nachkriegs-Abspaltung vom Leipziger Urhaus in Stuttgart die Liebe zur Farbe des Kanarienvogels entdeckt wurde. Die aktuell verfügbare Stuttgarter Ausgabe ist im übrigen auch noch die aus der Unrechts-Dikatur übernommene des Jahres 1987. Freund weiter: „Dass er Debatten über den rechten Glauben prägte, ist ja auch furchtbar lange her.“ Wird aber geradezu von Tag zu Tag wichtiger, da die westdeutsche und damit gesamtdeutsche Debattenkultur ja zum rechten Glauben zurückgekehrt ist, freilich nicht zum religiös-kirchlichen. Das wäre, mit dem fruchtbar lange toten Fontane zu sprechen, ein weites Feld. Wie eben auch das Denken von Feuilleton-Redakteuren, die locker-flockig vor sich hin fabulieren und peppige Kontrast-Popanze erfinden.

„Die rhetorisch brillanten „Provinzialbriefe“, die der junge Pascal damals zum Thema verfasste, haben vermutlich nur Hardcore-Theologen, exzentrische Philosophen und blutarme Literaturwissenschaftler jemals gelesen. Theologie, mal ehrlich: War das Luther-Gedenkjahr nicht schlimm genug?“ In dieser Hinsicht ist Pascal, wenn es so wäre und wahrscheinlich ist es nicht wesentlich besser, in bester Gesellschaft, man könnte ganze Reihen von Büchern und Autoren aufzählen, die im Feuilleton Pseudo-Erregungen provozieren, aber sonst eben nicht gelesen werden. Als 2006 der Stuttgarter Verlag Klett-Cotta ein in Frankreich 2000 zuerst erschienenes Buch von Jacques Attali publizierte mit dem Titel „Blaise Pascal. Biographie eines Genies“, rechneten die alarmierten Feuilleton-Kritiker offenbar doch mit etwas mehr Lesern als jenen blutarmen Hardcore-Exzentrikern, denn sowohl die Neue Zürcher Zeitung als auch die FAZ, sowohl die Süddeutsche als auch die Zeit, die Welt und der Deutschlandfunk gaben ihren Honorarempfängern verblüffend viel Platz für Entdeckungen und Meinungen. Einer bemängelte gleich die Verfälschung des originalen französischen Untertitels, der andere wiederum war gerade von dieser Verfälschung sehr angetan.

Pascal, um das einmal einzustreuen, hätte mit sich ausschließenden Aussagen weniger Probleme als wir alle, die wir den Kurs formale Logik nicht über das Blockseminar Zweiwertige Logik hinaus besucht haben. Bei ihm, fröhlich formuliert, feiert das Paradoxon seine Urstände. Ich kenne Menschen solider Denkart, die bei ihm mehr als nur Ansätze dialektischen Denkens gefunden haben, was man ja über den furchtbar lange toten Hegel gar nicht provokant bis zum furchtbar lange toten Karl Marx weiterführen müsste. In Frankreich, wo Hegel auch am Himmel leuchtete (und Marx, nicht unter den Teppich zu wischen), da hatte man eigene Sterne erster Ordnung. Ein Lucien Goldmann, in Rumänien geborener Franzose, hat ein sehr dickes Buch über Blaise Pascal und Jean Racine geschrieben, das bei uns als „Der verborgene Gott“ verkauft wurde und heutigen Pascal-Deutern bisweilen wie ein Gräte im Hals steckt. Jacques Attali aber, der am 1. November bei hoffentlich guter Gesundheit seinen 80. Geburtstag feiern kann, hat seine Pascal-Biographie nicht einem Genie schlechthin, sondern dem französischen Genie Pascal gewidmet. Der patriotische Zug seines Buches ist den deutschsprachigen Kritikern nicht entgangen, bedingte Reflexe auslösend.

Wir leben in einer Zeit, da patriotische Anwandlungen unter Generalverdacht stehen, da Heimat ein Wort ist, mit dem selbst leibhaftige Minister nichts anfangen können, obwohl sie doch auf selbiges Gebilde einen Eid zu leisten hatten. Attali, der aus Algerien kam, enger, oder gar engster Berater von Präsident Mitterand war, auch sonst mit allen französischen Ober- und Vorzeige-Sozialisten verbunden, sang mit seiner Biographie auch ein Lob auf französische Literatur, auf französische Sprache, Kultur. An allem wäre nichts auszusetzen in deutscher Drauf- und Drübersicht, wenn da nicht eben „französisch“ davor stünde. Man stelle sich vor, ein zugewandter Türke in Deutschland würde ein Klopstock-Biographie schreiben und dabei das Deutsche nur mit Versalien. In Zeitläuften ohne religionsfernen Glaubenseifer nichts, was der Erwähnung weiter wert wäre, so aber eine Auffälligkeit. Der älteste unter den noch lebenden Attali-Kritikern, der Mittelalter-Experte Kurt Flasch, resümierte in der FAZ: „Der französische Geist hätte einen konzentrierteren Lobredner verdient.“ Wolf Lepenies äußerte Verständnis für den Stuttgarter Verlag und seine Titel-Wandlung: „Für ein Buch über ein Genie erhofft man sich in Deutschland mehr Leser als für ein Buch über ein französisches Genie.“ Wäre es so, hielte der Verlag seine Leser offenbar für komplette Vollidioten.

Auch Manfred Geier sprach von einer glücklichen Entscheidung des Verlages und wies schon am Ende der ersten Spalte seines Beitrags für die Süddeutsche Zeitung auf eine Eigenheit Pascals: „Er liebte sein Land nicht, schrieb ihm auch keinen besonderen Wert zu.“ Dazu passt für Geier, dass Attalis Biographie eine ist, „in der der französische Glanz nur in der Einleitung und im Schlusskapitel gepriesen wird.“ Geier ist der einzige der von mir gelesenen Kritiker, der die verschiedenen Pseudonyme Pascals thematisiert, meist wird nur jener Louis de Montalte genannt, der für die „Provinzialbriefe“ zeichnete und auch genannt ist als Autor, dessen Buch dem Henker übergeben und öffentlich verbrannt werden solle. Geier weiß von den Ergebnissen einer Autopsie, die andere nicht einmal erwähnen, wirkliche kritische Einwände gegen das Buch hat er keine. Damit hat er entweder übersehen oder es für unwichtig befunden, was Kurt Flasch mit kräftigen Worten bemängelte: „Der Verfasser pflegt eine abenteuerliche Art des Zitierens.“ „Seine Bibliographie ist ein einziges Chaos.“ „Aber seine Rechtfertigung schludriger Zitation ist ein toller Streich.“ Flasch bemerkte auch, dass die deutsche Ausgabe den verräterischen Satz einfach strich.

Wäre das auch noch als glückliche Entscheidung zu sehen? Wie auch immer, dass Blaise Pascal ein „Wunderkind der Moderne“ war, wie es Otto Kallscheuer seinerzeit nicht übertrieben originell formulierte, kann nicht bezweifelt werden. Pascal muss bis heute für Philosophen und ähnliche Literaten wie eine ständige Anklage wirken: er verstand etwas von Mathematik und Physik. Ja nicht nur das: er war ein Neuerer, ein Entdecker auf diesen Gebieten. Mit elf oder zwölf Jahren, die Biographen sind da variabel, drang er bis zum soundsovielten Theorem des Euklid vor, auch hier sind die Biographen variabel, er konstruierte das Dreieck, das später das Pascalsche genannt wurde und aus Messing, Elfenbein und Holz baute er eine Rechenmaschine, die seinem Vater, dem da gerade die Steuern anvertraut waren, die Arbeit erleichtern sollte. An die fünfzig soll er im Lauf seines kurzen Lebens davon gebaut haben, neun seien erhalten, liest man, eine dieser „Pascalinen“ darf im Dresdner Zwinger bewundert werden, bis einige Clanmitglieder aus Berlin womöglich auf die Idee kommen, sie zu rauben und das Messing einzuschmelzen. Mit 15 trägt er in einer Akademie seine Theorie der Kegelschnitte vor. Alptraum: Kegelschnitte, was war das denn bitte?

Bis heute gilt es als chic (Wort aus meiner Mottenkiste), schwerste Defizite bei Mathematik fröhlich, frei und im Sinne Pascals wenig fromm zu bekennen, Physik als schwer von Mathematik infiziert kaum günstiger bewertet. Wenn man ein öffentlicher Intellektueller ist, natürlich nur. Der Bäckermeister, der seine Lehrlinge in der Theorie scheitern sieht, weil sie nicht 300 Gramm Mehl und 200 Gramm Butter addieren können, sieht es weniger locker. Blaise Pascal aber hatte im frühen 17. Jahrhundert einen Vater, der selbst überdurchschnittliche Mathematik-Kompetenz (Begriff aus anderer Leute Mottenkiste) aufwies. Er ist für eine Kurve bekannt, mit der man Winkel dreiteilen kann, wie ich mir anlesen musste, sie wird „pascalsche Schnecke“ genannt. Nur wie er nun hieß, scheint der Nachwelt ein Problem geworden zu sein. Fast überall findet man Etienne als seinen Namen, einfach nur Etienne ohne weitere zweite bis vierte Namen, geboren am 2. Mai 1588, gestorben am 24. September 1651. Und ausgerechnet Robert Saitschik (24. April 1868 – 29. Januar 1965), der mir lange als der lesbarste und verständlichste Pascal-Autor galt, macht aus Etienne einfach einen Stephan und das gleich über mehrere Seiten hin. Aber er singt ein Loblied auf ihn.

Wer sich das kurze Vergnügen gönnt, im weltweiten Web nach Etienne Pascal zu suchen, findet unter Info die peinliche Behauptung, er habe vier Kinder gehabt, die sogar namentlich aufgeführt werden. Nur erscheint eben die Schwester Gilberte doppelt, einmal als Pascal, einmal als Périer, wie sie als verheiratete Frau hieß. Unter diesem Namen schrieb sie die erste Pascal-Biographie der Geschichte, man kann sie als Beigabe einer Sammlung von kleineren Pascal-Texten auch auf Deutsch lesen mittlerweile. Dem Vater aber kann gar nicht genug Schätzung zuteil werden, denn er erlaubte nicht nur seinem Sohn eine sehr gründlichen Ausbildung, sondern auch beiden Töchtern, der erwähnten Gilberte und der jüngeren Jacqueline. Das war zu jener Zeit so selten, so ungemein außergewöhnlich, wie wir uns das jetzt kaum noch vorstellen können. Saitschik zitiert Gilberte über ihren Bruder: „Schon in der Kindheit konnte er sich nur bei dem beruhigen, was ihm als genau bewiesen erschien“. Was voraussetzt, dass diesem Wunderknaben die Beweise vorgeführt werden mussten. Dass an der Schwelle zum 21. Jahrhundert nun auch von einer inzestuösen Beziehung des Bruders gefabelt wurde zu Schwester Jacqueline, zeigt, neudeutsch gesabbelt, wie wir „ticken“.

Was tickt heutzutage noch: nicht einmal Zeitzünder, wir sind im Zeitalter digitaler Chronometer. Zwischen 1623 und 1662 schlugen Uhren eher, als dass sie tickten, und das soll es dann auch gewesen sein. Denn Blaise Pascal war „nicht nur ein Genie; in ihm steckten sechs Genies, meist gleichzeitig“, wie Kurt Flasch schrieb. Das stelle ich mir lustig vor, wie sich die Genies in ihm abwechselnd entfernten und wieder einzogen, um hie und da auch einmal alle zusammen zu einem Familientreffen der Genies gewissermaßen in seinem Körper zu hausen oder vielleicht auch in der Einliegerwohnung Seele. Wer vorsichtig formuliert, nennt ihn einen der größten Schriftsteller französischer Sprache. Den speziellen Fall herausgreifend, meinte der Kritiker Sainte-Beuve (23. Dezember 1804 – 13. Oktober 1869), der auch ein ganzes Buch über Pascal verfasste, das aber nie ins Deutsche übertragen wurde: „Die französische Literatur besitzt keine schöneren Stellen als die einfachen und ernsten Zeilen dieses unvergleichlichen Bildes.“ Ich bekenne, an der Stele für Saint Beuve auf dem Pariser Friedhof Montparnasse fotografierend verharrt zu haben. Und nenne nun auch den Mann namentlich, der mit Pascal-Superlativen am wenigsten geizte: Egon Friedell.

„Das Einzigartige Pascals bestand darin, dass er zugleich der modernste und der christlichste Geist seines Zeitalters war. Bei ihm stieß eine exzeptionell scharfe Logizität und Denkkraft mit einer exzeptionell leidenschaftlichen und abgründlichen Religiosität zusammen. Er ist der luzideste Kopf, den das Mutterland der clarté hervorgebracht hat, und der feinste Seelenanalytiker seines Jahrhunderts: neben ihm erscheint Descartes als ein bloßer Rechenkünstler und virtuoser Mechaniker. Zugleich aber ist er ein fast hysterischer Religiöser und Gottsucher, ein Theomane.“ Wegen solcher Aussagen, gestehe ich gern, könnte ich halbe Bibliotheken mit wenig schlechtem Gewissen der Kreislaufwirtschaft zuführen. Friedells „Kulturgeschichte der Neuzeit“ ist ein Buch der Bücher nicht nur wegen seines unfassbaren Wissensreichtums, sondern wegen seiner vermutlich unschlagbaren Kunst des Formulierens auf den Punkt. „Pascal, der größte Geist, den die gallische Rasse geboren hat.“ So immer noch Friedell, der im nächsten Satz ergänzt: „Der größte, aber nicht der wirksamste.“ Und auf die Provinzialbriefe bezogen: „Und dazu haben die Jesuiten noch unglücklicherweise in dem tiefsten Denker und glänzendsten Schriftsteller der Barocke, Pascal, einen Gegner gefunden, der in … einem Meisterwerk schöpferischer Ironie, mit vernichtender Schärfe und Vollständigkeit alles zusammenfasst, was sich gegen ihr System vorbringen lässt.“

Ich mag keiner Schweizer Professorin zu nahe treten, die anno 2006 auch über Attalis Pascal-Biografie schrieb für die NZZ. Sie zog sogar Goethe heran, als hätte der sich mehrfach über Pascal ausgelassen. Tatsächlich hat er sich im Alter selbst eine Aussage zugeschrieben für die Ausgabe letzter Hand, die von Experten als ziemlich sicher gar nicht von ihm stammend eingeschätzt wird. Sie stand in den „Frankfurter Gelehrten Anzeigen“ vom 8. September 1772: „Wir müssen es einmal sagen, weil es uns schon lang auf dem Herzen liegt: Voltaire, Hume, la Mettrie, Helvetius, Rousseau und ihre ganze Schule haben der Moralität und der Religion lange nicht so viel geschadet als der strenge, kranke Pascal und seine Schule.“ (Nachlesbar in der Leipziger Reclam-Ausgabe RUB 374) Angesichts der tatsächlichen Bedeutung Pascals ist das, selbst wenn es von Goethe wäre, beschämend wenig, aber auch Goethe stand, im anthropologischen Denkschema Pascals jedenfalls, genau zwischen der Größe und der Nichtigkeit „des“ Menschen, die ihn vor Gott kennzeichnet. Die „Gedanken“ (Pensées), in welcher Ausgabe auch immer, bestehen nicht aus Aphorismen, auch wenn es auf mancher Druckseite so aussieht und sie müssen auch nicht systematisch gelesen werden.

Vor allem deshalb nicht, weil sie zu keinem System führen, „schließlich ist jeder Leser der Pensées in der gleichen Situation, dass er sich entscheiden muss, den nächsten Text zu lesen.“, so Jean-Robert Armogathe, der die Lektüre ein Wagnis nennt. Arnd Brummer, noch als Chefredakteur von „chrismon“, hat vor Jahren eine Leseausgabe der „Gedanken“ vorgelegt, was automatisch die Überzeugung impliziert, dass die vollständige Ausgabe eben gerade keine Leseausgabe ist. „Sie verzichtet dort auf den wissenschaftlich richtigen Vollständigkeitsanspruch, wo Texte zu weit von der Lebenswirklichkeit unseres Zeitalters wegführen.“ Brumme im Juli 2007: „Pascal sah in der Fähigkeit zur Neugier, zur Frage nach dem Grund, zur Suche nach der Wahrheit ein Geschenk Gottes.“ Was natürlich die Annahme voraussetzt, dass jener ein Geschenke-Verteiler ist. Unter den Lock-Zitaten, die die DDR-Ausgabe von 1987 auf dem Buchrücken abdruckte, lautet das letzte unten: „Gerechtigkeit ohne Gewalt ist ohnmächtig, Gewalt ohne Gerechtigkeit ist tyrannisch.“ Das wird entschieden seltener zitiert als: „Nur ein Schilfrohr, das zerbrechlichste der Welt, ist der Mensch, aber ein Schilfrohr, das denkt.“ So steht es nun halt auch bei mir: absichtlich-zufällig.

Mir bleibt, Altersphänomen, noch von früher zu erzählen. Als ich meine Tätigkeit als technische Bibliothekshilfskraft antrat an der Technischen Hochschule Ilmenau, es war der 15. Oktober 1973, der fünfzigste Jahrestag ist bald unfeierlich zu begehen, geriet ich in ein mir weitgehend fremdes Milieu: die Hochschulangehörigen, so nannte man sie damals geschlechtsneutral, sprachen, soweit sie Männer waren, von ihren abenteuerlichen Trabant-Reisen, soweit sie Frauen waren, gab es sie kaum. Unter ihnen waren etliche, die von einer Programmiersprache Pascal redeten und auch von einer anderen namens Algol 60, die, wie ich heute weiß, der Vorläufer war. Ich verlieh bisweilen Hefte in meinen Bibliothekszweigstellen, in denen es um solche Programmiersprachen ging. Heute druckt niemand mehr so etwas, weil es veraltet ist, ehe die Drucklegung endet. Und ich ahnte nicht, wer der Namensgeber war. In den „Gedanken“ aber fand ich, dass Blaise Pascal einst sogar an Dachdecker dachte: „Die Menschen sind von Natur aus Dachdecker und widmen sich allen Bestimmungen, außer, wenn sie in ihrer Stube sind.“ Ich habe 17 meiner heute 70 Lebensjahre unter der Führung eines ungelernten Dachdeckers aus dem Saarland verbracht. Wohl mir und Pascal.


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